Denise kommt mehr schlecht als recht mit ihrem Leben klar. Sie arbeitet im Discounter, ihre kleine Tochter Linda überfordert sie oft; eine langersehnte New-York-Reise bleibt ein - immerhin tröstlicher - Traum. Mit dem Lohn für einen Pornodreh will sie endlich weiterkommen, aber man lässt sie auf ihr Geld warten. Immer öfter steht Anton an ihrer Kasse, der abgestürzte, verschuldete Ex-Jurastudent, der im Wohnheim schläft. Vorsichtig kommen sich die beiden näher. Während Denise wütend, aber auch stolz um ihr Recht und für ihre Tochter kämpft, während Anton seiner Privatinsolvenz entgegenbangt, arrivierte frühere Freunde trifft, mal Hoffnung schöpft und sie dann wieder verliert, entwickelt sich eine zarte, fast unmögliche Liebe. Beide versuchen, sich einander zu öffnen, doch als Denise endlich ihr Geld bekommen soll und Antons Gerichtstermin naht, müssen sie sich fragen, wie viel Nähe ihr Leben wirklich zulässt_...
Thomas Melle erzählt von einer Liebe am unteren Rand der Gesellschaft, von der menschlichen Existenz in all ihrer drastischen Schönheit und Zerbrechlichkeit - ein zärtlicher, heftiger Roman über zwei Menschen und die Frage, was dreitausend Euro wert sein können.
Thomas Melle erzählt von einer Liebe am unteren Rand der Gesellschaft, von der menschlichen Existenz in all ihrer drastischen Schönheit und Zerbrechlichkeit - ein zärtlicher, heftiger Roman über zwei Menschen und die Frage, was dreitausend Euro wert sein können.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Nach der Lektüre von Thomas Melles neuem Roman "3000 Euro" bleibt Rezensent Philipp Theisohn mit gemischten Gefühlen zurück. Durchaus interessant findet er Melles Sujet, seine beiden Protagonisten, den ehemaligen Jura-Studenten Anton, der mit einer ausstehenden Summe von 3000 Euro noch einen drohenden Prozess gegen ihn abwenden könnte und die Supermarktverkäuferin und Porno-Darstellerin Denise, die eben jenen Betrag noch für einen Dreh bekommen soll, der zunehmenden Deklassierung durch die Abwesenheit des Geldes preiszugeben. Leider muss der Kritiker gestehen, dass sich Melle bei der allzu kalkulierten Konstruktion seines Romans und dem unbedingten Versuch seine Figuren in völliger Hoffnungslosigkeit enden zu lassen, bisweilen im Klischee verliert. Ein paar Überraschungen hätten dem Roman gut getan, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.2014Liebesanbahnung im Supermarkt
Thomas Melles Roman "3000 Euro" steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, aber tut er das zu Recht?
Der eine hat, was dem anderen fehlt. Diese ebenso sandkastentaugliche wie weltökonomische Ungleichheitsformel strukturiert Thomas Melles zweiten Roman, der gestern auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis gewählt wurde. "3000 Euro" lautet der prosaische Titel des Romans, und so geht es in diesem Fall von Haben oder Nichthaben weder um politische Macht noch um verführerische Ehepartner, sondern schlicht um den titelgebend bemessenen Betrag. Die Summe ist genau kalkuliert. Sie entspricht dem Bruttolohn, den die Deutschen monatlich im Durchschnitt verdienen.
Dreitausend Euro trägt in den Bevölkerungskreisen, die man zumindest nach der Lohnstatistik als durchschnittlich bezeichnen würde, niemand in der Hosentasche mit sich herum. Aber der Betrag ließe sich aufbringen, wenn man zum Beispiel jemandem helfen müsste, der in Not geraten ist. Zugleich ist der Bruttodurchschnittslohn eine Chimäre. Realität ist ja, dass ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung weniger verdient oder eben überhaupt keine regelmäßige Arbeit hat. Über dreitausend Euro frei verfügen zu können bleibt da ein Traum.
Genau davon will Thomas Melles Roman erzählen. Er überkreuzt die Lebenswege von zwei Personen, die auf normalem Weg selbst ein solch überschaubares Vermögen nicht erwirtschaften können. Melle eröffnet somit einen Blick auf jene soziale Gegenwart, die nicht nur in der Literatur marginalisiert wird.
Denise steht auf der Habenseite des Romans. Die Supermarktkassiererin, überforderte Mutter und tanzfreudige Nachtschwärmerin hat sich mit einem Pornodreh dreitausend Euro extra verdient. Bis der Betrag auf ihrem Konto liegt, dauert es zwar seine Weile, aber dann will sie sich einen alten Traum erfüllen und nach New York reisen.
Anton hingegen hat nichts: Jurastudium abgebrochen, Taxi zu Schrott gefahren, Führerschein weg, arbeits- und obdachlos, kann er sich aus dem unerbittlichen Sog der Abwärtsspirale nicht befreien. Das Einzige, was Anton hat, sind Defizite - auch finanzielle. Nachdem er einen Sommer lang die Kontrolle über sein Leben verloren hat, trägt er dreitausend Euro Schulden mit sich herum: "Dreitausend Euro, dreitausend Euro, dreitausend Euro. Nichts ist das und trotzdem alles", lautet Antons Mantra. Jetzt will seine Bank das Geld zurück, der Prozesstermin steht unmittelbar bevor. Im Fall einer Niederlage vor Gericht würde sich der Schuldenbetrag mit einem Schlag um das Vielfache erhöhen.
Wenn in einem Roman die eine Figur hat, was die andere unbedingt braucht, dann wäre es wohl die größere Überraschung, Anton und Denise würden sich nicht treffen oder hätten wenigstens nichts füreinander übrig. Haben sie aber. Daher fallen Pornoüberweisung, Gerichtstermin und Liebeshandlung zeitlich ineinander. Und deshalb kommt das Gedankenspiel in Gang, ob Denise das Geld nicht doch besser in Anton investieren sollte, als sich eigene Träume zu erfüllen. Während Anton sich der vagen Hoffnung hingeben kann, dass doch noch Rettung nahen könnte. Nullsummenspiel und zarte Liebesbande tragen die Handlung zuverlässig bis zum Tag der Gerichtsverhandlung.
Ebenso großes Interesse wie am Liebesgeflüster hat Melle an so überzeugenden Beobachtungen wie der, dass sich der Supermarkt zu einem der interessantesten sozialen Orte im heutigen Alltagsleben entwickelt hat. Tatsächlich ist es seit ein paar Jahren auch in den Supermärkten der deutschsprachigen Literatur ziemlich voll geworden. Da flanieren ältere Herren im Schunkelwohlklang der Konsumbeschallung durch die Regalreihen, verlieren sich wie Einkaufsmelancholiker im Etikettenschwindel oder treiben Schüler, angepeitscht von Nirvana-Sound, die Panik vor einem Terroranschlag auf die Spitze.
Bei Melle kommt jetzt die Liebe zwischen Pfandflaschensammler und Kassiererin hinzu, die sich auf pekuniär bestimmtem Terrain näherkommen. Was schon deshalb gut beobachtet ist, weil sich das Verhältnis zwischen Kassierern und Kunden tiefgreifend verändert hat, seit an der Kasse nicht mehr nur die Grundnahrungsmittel eingekauft werden, sondern ein größer werdender Kundenkreis seinem alltäglichen Broterwerb nachgeht, indem er Pfandmarken in Bares oder in Waren umsetzt. Im Gegensatz zum Warenhaus ist der Supermarkt schon aufgrund dieser Umwandlung des Konsumenten zum Produzenten auf bemerkenswerte Weise mit der Zeit gegangen. Solche Veränderungen zu erkennen und als Liebeserzählung zu entfalten ist die Stärke von Melles weniger realistischem als vielmehr symptomatischem Erzählen.
Im Fall von Denise gelingt ihm das eindrücklich. Ihre Lebens-, Gedanken- und Gefühlswelt entfaltet sich greifbar vor den Augen des Lesers. Wenn sie vor ihrem Handy sitzt, um für eine gemeinsame Nacht auf einen alten Bekannten zurückzugreifen, wenn sie Versionen ihrer Nachricht durchspielt, manche als zu anzüglich, andere als zu fad verwirft und schließlich nur die Frage "Na?" schreibt, ist das groß, denn so funktioniert es. Wenn ihr vor Wut auf ihre Tochter für einen fahrlässigen Moment der Gedanke durch den Kopf schießt, dass sie jetzt mit einem Schubsen ihr Leben ändern könnte, wenn in diesem Moment das Kind tatsächlich fällt, dann setzen Scham und Schmerz nicht nur den Romanfiguren zu.
Mit Anton liegt der Fall schwieriger. Der irrlichtert nicht einfach nur durch Stadt und Leben, sondern verliert sich auch in den Beschreibungen. Mal ist ihm alles egal, dann überschlägt er sich voller Enthusiasmus. Mal ist er dumpf und leer, eine Sekunde später steckt er voller Talente. Singen, Gitarre spielen, Songs schreiben kann er so gut, dass er mit eigenen Liedern eine Blitzkarriere als Straßenmusiker startet. Nach einer Schlägerei aber lässt er sein Equipment, von dem nicht ganz klar ist, woher das überhaupt kam, sorglos in einer Kneipe zurück. Auf die spröden Gassenhauer folgt dann wieder die Dreitausender-Litanei. Anton ist einfach nicht zu fassen, er steckt fest im eigenen Wahnsinn.
Insofern setzt sich in Anton auch Melles furioser Debütroman "Sickster" fort. Dort hatte Melle alle Atome popliterarischen Erzählens noch einmal durch den Teilchenbeschleuniger gejagt und seine Leser fasziniert dabei zusehen lassen, wie drei Hipster trotz glänzender Oberfläche innerlich verrotteten, bis sie alle drei im Wahnsinn strandeten. Den Wahn setzt Melle fort, mit Popästhetik will er allerdings nichts mehr zu tun haben.
Deshalb dürfen seine Figuren nicht einfach nur Anton und Denise sein, sondern müssen Charaktereigenschaften tragen oder Sätze sagen, die ihnen nicht gut stehen. Was wäre eigentlich, wenn eine Supermarktkassiererin zwar von New York träumt, mit den dreitausend Euro dann aber schlicht die gröbsten Lücken im Haushalt schließt? Wenn sie keine Tochter mit Wahrnehmungsstörung hätte, sondern ein so freundliches, kluges, rücksichtsvolles Kind, wie es nun einmal viele Kinder sind? Wenn Anton keine Dostojewski-Kurzreferate einflechten oder neben seinen Gassenhauern nicht auch noch schopenhauerverdächtig dozieren würde: "Der Gewaltakt gegen sich selbst hat etwas Unwürdiges, Reste einer metaphysischen Ethik strahlen aus einer verschütteten Vergangenheit herüber?"
Solche Sätze wirken, als habe ein ambitionierter Erzähler seine Figuren indoktriniert. Melles Erzählweise der unbedingten Zuspitzung hat vieles für sich, aber sie zwingt die Figuren zu seltsamen Verrenkungen und erschüttert die Erzählkonzeption so schwer, dass der Roman zwar zu den unbedingt lesenswerten dieses Herbstes gehört, aber dennoch bedenkliche Risse in seiner Poetik aufweist.
CHRISTIAN METZ
Thomas Melle: "3000 Euro". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014. 208 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Melles Roman "3000 Euro" steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, aber tut er das zu Recht?
Der eine hat, was dem anderen fehlt. Diese ebenso sandkastentaugliche wie weltökonomische Ungleichheitsformel strukturiert Thomas Melles zweiten Roman, der gestern auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis gewählt wurde. "3000 Euro" lautet der prosaische Titel des Romans, und so geht es in diesem Fall von Haben oder Nichthaben weder um politische Macht noch um verführerische Ehepartner, sondern schlicht um den titelgebend bemessenen Betrag. Die Summe ist genau kalkuliert. Sie entspricht dem Bruttolohn, den die Deutschen monatlich im Durchschnitt verdienen.
Dreitausend Euro trägt in den Bevölkerungskreisen, die man zumindest nach der Lohnstatistik als durchschnittlich bezeichnen würde, niemand in der Hosentasche mit sich herum. Aber der Betrag ließe sich aufbringen, wenn man zum Beispiel jemandem helfen müsste, der in Not geraten ist. Zugleich ist der Bruttodurchschnittslohn eine Chimäre. Realität ist ja, dass ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung weniger verdient oder eben überhaupt keine regelmäßige Arbeit hat. Über dreitausend Euro frei verfügen zu können bleibt da ein Traum.
Genau davon will Thomas Melles Roman erzählen. Er überkreuzt die Lebenswege von zwei Personen, die auf normalem Weg selbst ein solch überschaubares Vermögen nicht erwirtschaften können. Melle eröffnet somit einen Blick auf jene soziale Gegenwart, die nicht nur in der Literatur marginalisiert wird.
Denise steht auf der Habenseite des Romans. Die Supermarktkassiererin, überforderte Mutter und tanzfreudige Nachtschwärmerin hat sich mit einem Pornodreh dreitausend Euro extra verdient. Bis der Betrag auf ihrem Konto liegt, dauert es zwar seine Weile, aber dann will sie sich einen alten Traum erfüllen und nach New York reisen.
Anton hingegen hat nichts: Jurastudium abgebrochen, Taxi zu Schrott gefahren, Führerschein weg, arbeits- und obdachlos, kann er sich aus dem unerbittlichen Sog der Abwärtsspirale nicht befreien. Das Einzige, was Anton hat, sind Defizite - auch finanzielle. Nachdem er einen Sommer lang die Kontrolle über sein Leben verloren hat, trägt er dreitausend Euro Schulden mit sich herum: "Dreitausend Euro, dreitausend Euro, dreitausend Euro. Nichts ist das und trotzdem alles", lautet Antons Mantra. Jetzt will seine Bank das Geld zurück, der Prozesstermin steht unmittelbar bevor. Im Fall einer Niederlage vor Gericht würde sich der Schuldenbetrag mit einem Schlag um das Vielfache erhöhen.
Wenn in einem Roman die eine Figur hat, was die andere unbedingt braucht, dann wäre es wohl die größere Überraschung, Anton und Denise würden sich nicht treffen oder hätten wenigstens nichts füreinander übrig. Haben sie aber. Daher fallen Pornoüberweisung, Gerichtstermin und Liebeshandlung zeitlich ineinander. Und deshalb kommt das Gedankenspiel in Gang, ob Denise das Geld nicht doch besser in Anton investieren sollte, als sich eigene Träume zu erfüllen. Während Anton sich der vagen Hoffnung hingeben kann, dass doch noch Rettung nahen könnte. Nullsummenspiel und zarte Liebesbande tragen die Handlung zuverlässig bis zum Tag der Gerichtsverhandlung.
Ebenso großes Interesse wie am Liebesgeflüster hat Melle an so überzeugenden Beobachtungen wie der, dass sich der Supermarkt zu einem der interessantesten sozialen Orte im heutigen Alltagsleben entwickelt hat. Tatsächlich ist es seit ein paar Jahren auch in den Supermärkten der deutschsprachigen Literatur ziemlich voll geworden. Da flanieren ältere Herren im Schunkelwohlklang der Konsumbeschallung durch die Regalreihen, verlieren sich wie Einkaufsmelancholiker im Etikettenschwindel oder treiben Schüler, angepeitscht von Nirvana-Sound, die Panik vor einem Terroranschlag auf die Spitze.
Bei Melle kommt jetzt die Liebe zwischen Pfandflaschensammler und Kassiererin hinzu, die sich auf pekuniär bestimmtem Terrain näherkommen. Was schon deshalb gut beobachtet ist, weil sich das Verhältnis zwischen Kassierern und Kunden tiefgreifend verändert hat, seit an der Kasse nicht mehr nur die Grundnahrungsmittel eingekauft werden, sondern ein größer werdender Kundenkreis seinem alltäglichen Broterwerb nachgeht, indem er Pfandmarken in Bares oder in Waren umsetzt. Im Gegensatz zum Warenhaus ist der Supermarkt schon aufgrund dieser Umwandlung des Konsumenten zum Produzenten auf bemerkenswerte Weise mit der Zeit gegangen. Solche Veränderungen zu erkennen und als Liebeserzählung zu entfalten ist die Stärke von Melles weniger realistischem als vielmehr symptomatischem Erzählen.
Im Fall von Denise gelingt ihm das eindrücklich. Ihre Lebens-, Gedanken- und Gefühlswelt entfaltet sich greifbar vor den Augen des Lesers. Wenn sie vor ihrem Handy sitzt, um für eine gemeinsame Nacht auf einen alten Bekannten zurückzugreifen, wenn sie Versionen ihrer Nachricht durchspielt, manche als zu anzüglich, andere als zu fad verwirft und schließlich nur die Frage "Na?" schreibt, ist das groß, denn so funktioniert es. Wenn ihr vor Wut auf ihre Tochter für einen fahrlässigen Moment der Gedanke durch den Kopf schießt, dass sie jetzt mit einem Schubsen ihr Leben ändern könnte, wenn in diesem Moment das Kind tatsächlich fällt, dann setzen Scham und Schmerz nicht nur den Romanfiguren zu.
Mit Anton liegt der Fall schwieriger. Der irrlichtert nicht einfach nur durch Stadt und Leben, sondern verliert sich auch in den Beschreibungen. Mal ist ihm alles egal, dann überschlägt er sich voller Enthusiasmus. Mal ist er dumpf und leer, eine Sekunde später steckt er voller Talente. Singen, Gitarre spielen, Songs schreiben kann er so gut, dass er mit eigenen Liedern eine Blitzkarriere als Straßenmusiker startet. Nach einer Schlägerei aber lässt er sein Equipment, von dem nicht ganz klar ist, woher das überhaupt kam, sorglos in einer Kneipe zurück. Auf die spröden Gassenhauer folgt dann wieder die Dreitausender-Litanei. Anton ist einfach nicht zu fassen, er steckt fest im eigenen Wahnsinn.
Insofern setzt sich in Anton auch Melles furioser Debütroman "Sickster" fort. Dort hatte Melle alle Atome popliterarischen Erzählens noch einmal durch den Teilchenbeschleuniger gejagt und seine Leser fasziniert dabei zusehen lassen, wie drei Hipster trotz glänzender Oberfläche innerlich verrotteten, bis sie alle drei im Wahnsinn strandeten. Den Wahn setzt Melle fort, mit Popästhetik will er allerdings nichts mehr zu tun haben.
Deshalb dürfen seine Figuren nicht einfach nur Anton und Denise sein, sondern müssen Charaktereigenschaften tragen oder Sätze sagen, die ihnen nicht gut stehen. Was wäre eigentlich, wenn eine Supermarktkassiererin zwar von New York träumt, mit den dreitausend Euro dann aber schlicht die gröbsten Lücken im Haushalt schließt? Wenn sie keine Tochter mit Wahrnehmungsstörung hätte, sondern ein so freundliches, kluges, rücksichtsvolles Kind, wie es nun einmal viele Kinder sind? Wenn Anton keine Dostojewski-Kurzreferate einflechten oder neben seinen Gassenhauern nicht auch noch schopenhauerverdächtig dozieren würde: "Der Gewaltakt gegen sich selbst hat etwas Unwürdiges, Reste einer metaphysischen Ethik strahlen aus einer verschütteten Vergangenheit herüber?"
Solche Sätze wirken, als habe ein ambitionierter Erzähler seine Figuren indoktriniert. Melles Erzählweise der unbedingten Zuspitzung hat vieles für sich, aber sie zwingt die Figuren zu seltsamen Verrenkungen und erschüttert die Erzählkonzeption so schwer, dass der Roman zwar zu den unbedingt lesenswerten dieses Herbstes gehört, aber dennoch bedenkliche Risse in seiner Poetik aufweist.
CHRISTIAN METZ
Thomas Melle: "3000 Euro". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014. 208 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Melle richtet auch im dritten Buch seinen Blick scharf und unbarmherzig auf die Bruchstellen menschlichen Seins, auf Grenzgänger und Ausgegrenzte. (...) Ein souverän versprachlichter, nicht zu gewinnender Kampf. Die Welt