Die kleine Mehrnousch, Tochter eines Chirurgen, erlebt mit ihren drei Geschwistern eine privilegierte Kindheit in der schönen Stadt Isfahan im Iran der 70er Jahre. Die Familie feiert wie die meisten die Vertreibung des Schahs als freudiges Ereignis - nicht ahnend, dass der neue Machthaber Ayatollah Chomeini in kürzester Zeit eine Willkürherrschaft errichten und sie aller Freiheit berauben wird. Mehrnousch erlebt mit Angst und Wut, wie die Unterdrückung Einzug in alle Lebensbereiche hält. Als ihr 14jähriger Bruder Mehrdad in Gefahr ist, in den Krieg geschickt zu werden, flieht die Familie über Istanbul und Ostberlin nach Westdeutschland. Hier beginnt eine Odyssee durch viele Flüchtlingsheime, ein Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung, bis die Familie in Heidelberg endlich eine neue Heimat findet. Mit poetischer Kraft erzählt Mehrnousch Zaeri-Esfahani ihre Geschichte vom fünften bis zum elften Lebensjahr. Sie erzählt von der Schönheit der Stadt Isfahan und dem glücklichen Familienleben, von den Qualen der Diktatur, von traurigen, aber manchmal auch heiteren Erlebnissen dieser Jahre. Vom Gefühl der Sprach- und Heimatlosigkeit und von der Freude des Ankommens.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Hartmut El Kurdi kann Mehrnousch Zaeri-Esfahanis autobiografische Erzählung "33 Bogen und ein Teehaus" aus zwei ganz unterschiedlichen Gründen empfehlen: Zum Einen erzählt ihm die Autorin eindringlich, gelegentlich auch heiter und poetisch, in kindlich nüchterner Perspektive von ihren Erlebnissen nach der Islamischen Revolution, der eingeschränkten Freiheit und den brutalen Revolutionsgarden, der anschließenden Flucht aus dem Iran über die Türkei und die DDR in die Bundesrepublik und der erlebten Unsicherheit und Angst. Zum anderen kann die studierte Sozialpädagogin dem Kritiker anhand von menschlichen Anekdoten gut vermitteln, wie wichtig es ist, Geflüchtete als individuelle Menschen zu betrachten, wie Integration gehen könnte und wie groß das integrative Potenzial von Kindern dabei ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2016Tatkraft, Mut, Energie und Trauer
Auf der Flucht: Mehrnousch Zaeri-Esfahani erzählt vom Ankommen in Deutschland
Eines Abends war der Stellvertreter Gottes auf Erden tatsächlich im Vollmond zu sehen: ein Gesicht, ein langer Bart, ein Turban. Die Revolution hatte gesiegt. Mehrnousch, fünf Jahre alt, stand damals verzückt auf dem Dach ihres Elternhauses in der iranischen Stadt Isfahan, wie fast alle anderen auch. Sechs Jahre später, an einem eiskalten Winterabend, stolperte sie ihren Eltern hinterher durch den Schnee einer offenbar von allen Menschen verlassenen deutschen Großstadt: West-Berlin. Wie hätte eine Familie, die mehr als ein Jahr zuvor aus Iran in die Türkei geflohen war, auch ahnen können, dass die Deutschen am 24. Dezember fast alle in ihren Häusern feiern? Und was eigentlich?
Heute weiß Mehrnousch Zaeri-Esfahani das natürlich. Seit 30 Jahren lebt die gebürtige Iranerin in Deutschland und ist seit gut 20 Jahren in der Flüchtlingsarbeit tätig. In Baden-Württemberg, jenem Bundesland, das ihr eine Art Heimat geworden ist - nur weil ein Verteilungsschlüssel damals, 1986, sie, ihre Eltern und ihre drei Geschwister in eine "Zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge" in Karlsruhe verfrachtet hat. Dieses Ausgeliefertsein an eine Welt, deren Zeichen kaum zu entschlüsseln sind, nachdem doch mit dem Entschluss zu fliehen so viel Mut, Tatkraft, Energie und Trauer schon von den jüngsten Kindern geleistet worden ist, macht den durchgehenden Kontrast in Zaeri-Esfahanis Erzählung aus.
Die Sozialpädagogin hat bislang kleine Texte und auch ein Theaterstück verfasst, die mit Flucht, Heimatverlust und Kindheit zu tun haben. Mit "33 Bogen und ein Teehaus" ist nun ihre Autobiographie erschienen, die sich an Leser von etwa elf Jahren an richtet. Es ist das Kind Mehrnousch, das sich vom Vorschulalter bis ins 12. Lebensjahr an das Leben in Iran, an die Revolution, an den Terror des religiösen Regimes und an die Flucht von der Türkei über Ost-Berlin nach West-Berlin und von da über Karlsruhe nach Heidelberg erinnert. Und daran, dass 1986, als sie und ihre Familie nach der Katastrophe des Heimatverlusts in einer Sozialwohnung wieder Atem holen und die Seelen zur Ruhe kommen lassen konnten, alle anderen mit einer ganz anderen Katastrophe zu tun hatten: Tschernobyl. Die Beschreibung der ukrainischen Geisterstadt Pripjat rahmt Zaeri-Esfahanis Erzählung und öffnet sie zugleich ins Allgemeine - in eine Fluchtgeschichte der Welt, die noch lange kein Ende gefunden hat.
Die Erzählerin selbst hingegen berichtet ihr Fliehen und Ankommen vom Ende her: "Mein Pilgerweg war es, Freiheit und Frieden zu finden." Wie sehr der Seelenfrieden des Kindes Mehrnousch aber schon in der religiösen Diktatur Ajatollah Chomeinis erschüttert wird und wie bereitwillig Kinder doch eine neue Heimat annehmen, sich gewöhnen wollen, sich an alles klammern, was Vertrauen erzeugt, schildert Zaeri-Esfahani in Anekdoten, kleineren und größeren Erinnerungsbögen, sehr schlicht, bisweilen mit Anflügen von Humor, meist in kurzen Sätzen, die von viel Verständnis nicht nur für das eigene Kindsein zeugen. Zwar weiß die Erzählerin von den Gestalten, die im Dunkeln in der kindlichen Phantasie auftauchen, "Unwesen, für die noch keiner einen Namen gefunden hat, die aber jedes Kind kennt" - aber in den Szenen größter Emotion hangelt sich die Sprache dann doch meist an hergebrachten Bildern entlang. Und wenn der "gesichtslose Beamte mit glühenden Ohren" den Vater auf Deutsch anbrüllt oder die BBC die islamische Revolution lenkt, deutsche Winter kalt und die Alten oft ausländerfeindlich sind, ist von Stilwillen nicht viel zu spüren.
Dennoch ist Zaeri-Esfahanis Autobiographie weit mehr geworden als nur ein ganz persönliches Erinnerungsbuch. Gerade der Abstand von 30 Jahren regt dazu an, sich gedanklich mit Flucht heutzutage zu beschäftigen - mehr als manche andere aktuelle Fluchtliteratur für junge Leser. Geziert wird "33 Bogen und ein Teehaus" von den Vignetten ihres Bruders Mehrdad Zaeri-Esfahani, der das Genre bestens ausfüllt, indem er gleichzeitig reduziert und abstrahiert und doch sprechende Motive findet. Der Titel bezieht sich auf die Brücke Si-o-se Pol, die "33-Bogen-Brücke", deren Schönheit sich nicht darum schert, wer sie betritt. So lässig und selbstbewusst hatte einst auch der Vorfahr der Erzählerin in Minutenschnelle gewusst, wie er sich und sein Geschlecht benennen wollte: Zaeri-Esfahani - Pilger aus Isfahan.
EVA-MARIA MAGEL
Mehrnousch Zaeri-Esfahani: "33 Bogen und ein Teehaus".
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2016. 148 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Flucht: Mehrnousch Zaeri-Esfahani erzählt vom Ankommen in Deutschland
Eines Abends war der Stellvertreter Gottes auf Erden tatsächlich im Vollmond zu sehen: ein Gesicht, ein langer Bart, ein Turban. Die Revolution hatte gesiegt. Mehrnousch, fünf Jahre alt, stand damals verzückt auf dem Dach ihres Elternhauses in der iranischen Stadt Isfahan, wie fast alle anderen auch. Sechs Jahre später, an einem eiskalten Winterabend, stolperte sie ihren Eltern hinterher durch den Schnee einer offenbar von allen Menschen verlassenen deutschen Großstadt: West-Berlin. Wie hätte eine Familie, die mehr als ein Jahr zuvor aus Iran in die Türkei geflohen war, auch ahnen können, dass die Deutschen am 24. Dezember fast alle in ihren Häusern feiern? Und was eigentlich?
Heute weiß Mehrnousch Zaeri-Esfahani das natürlich. Seit 30 Jahren lebt die gebürtige Iranerin in Deutschland und ist seit gut 20 Jahren in der Flüchtlingsarbeit tätig. In Baden-Württemberg, jenem Bundesland, das ihr eine Art Heimat geworden ist - nur weil ein Verteilungsschlüssel damals, 1986, sie, ihre Eltern und ihre drei Geschwister in eine "Zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge" in Karlsruhe verfrachtet hat. Dieses Ausgeliefertsein an eine Welt, deren Zeichen kaum zu entschlüsseln sind, nachdem doch mit dem Entschluss zu fliehen so viel Mut, Tatkraft, Energie und Trauer schon von den jüngsten Kindern geleistet worden ist, macht den durchgehenden Kontrast in Zaeri-Esfahanis Erzählung aus.
Die Sozialpädagogin hat bislang kleine Texte und auch ein Theaterstück verfasst, die mit Flucht, Heimatverlust und Kindheit zu tun haben. Mit "33 Bogen und ein Teehaus" ist nun ihre Autobiographie erschienen, die sich an Leser von etwa elf Jahren an richtet. Es ist das Kind Mehrnousch, das sich vom Vorschulalter bis ins 12. Lebensjahr an das Leben in Iran, an die Revolution, an den Terror des religiösen Regimes und an die Flucht von der Türkei über Ost-Berlin nach West-Berlin und von da über Karlsruhe nach Heidelberg erinnert. Und daran, dass 1986, als sie und ihre Familie nach der Katastrophe des Heimatverlusts in einer Sozialwohnung wieder Atem holen und die Seelen zur Ruhe kommen lassen konnten, alle anderen mit einer ganz anderen Katastrophe zu tun hatten: Tschernobyl. Die Beschreibung der ukrainischen Geisterstadt Pripjat rahmt Zaeri-Esfahanis Erzählung und öffnet sie zugleich ins Allgemeine - in eine Fluchtgeschichte der Welt, die noch lange kein Ende gefunden hat.
Die Erzählerin selbst hingegen berichtet ihr Fliehen und Ankommen vom Ende her: "Mein Pilgerweg war es, Freiheit und Frieden zu finden." Wie sehr der Seelenfrieden des Kindes Mehrnousch aber schon in der religiösen Diktatur Ajatollah Chomeinis erschüttert wird und wie bereitwillig Kinder doch eine neue Heimat annehmen, sich gewöhnen wollen, sich an alles klammern, was Vertrauen erzeugt, schildert Zaeri-Esfahani in Anekdoten, kleineren und größeren Erinnerungsbögen, sehr schlicht, bisweilen mit Anflügen von Humor, meist in kurzen Sätzen, die von viel Verständnis nicht nur für das eigene Kindsein zeugen. Zwar weiß die Erzählerin von den Gestalten, die im Dunkeln in der kindlichen Phantasie auftauchen, "Unwesen, für die noch keiner einen Namen gefunden hat, die aber jedes Kind kennt" - aber in den Szenen größter Emotion hangelt sich die Sprache dann doch meist an hergebrachten Bildern entlang. Und wenn der "gesichtslose Beamte mit glühenden Ohren" den Vater auf Deutsch anbrüllt oder die BBC die islamische Revolution lenkt, deutsche Winter kalt und die Alten oft ausländerfeindlich sind, ist von Stilwillen nicht viel zu spüren.
Dennoch ist Zaeri-Esfahanis Autobiographie weit mehr geworden als nur ein ganz persönliches Erinnerungsbuch. Gerade der Abstand von 30 Jahren regt dazu an, sich gedanklich mit Flucht heutzutage zu beschäftigen - mehr als manche andere aktuelle Fluchtliteratur für junge Leser. Geziert wird "33 Bogen und ein Teehaus" von den Vignetten ihres Bruders Mehrdad Zaeri-Esfahani, der das Genre bestens ausfüllt, indem er gleichzeitig reduziert und abstrahiert und doch sprechende Motive findet. Der Titel bezieht sich auf die Brücke Si-o-se Pol, die "33-Bogen-Brücke", deren Schönheit sich nicht darum schert, wer sie betritt. So lässig und selbstbewusst hatte einst auch der Vorfahr der Erzählerin in Minutenschnelle gewusst, wie er sich und sein Geschlecht benennen wollte: Zaeri-Esfahani - Pilger aus Isfahan.
EVA-MARIA MAGEL
Mehrnousch Zaeri-Esfahani: "33 Bogen und ein Teehaus".
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2016. 148 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main