Der Schriftsteller als Marathonläufer - in 42,195 Kapiteln.
Was ist das, was uns seit Jahren an- und umtreibt, das uns regelmäßig hinaustreibt aus der Geborgenheit unserer Behausungen. Was geht in uns vor, wenn wir laufen, was denken wir dabei und danach und darüber? Und was sagt das womöglich über uns aus und die Gesellschaft, in der wir leben?
Matthias Politycki betrachtet einen Sport, der viel mehr ist als eine Freizeitbeschäftigung. In einer globalisierten Welt ist das Laufen zum Minimalkonsens der neuen Weltgemeinschaft geworden. Für ihn selbst ist sein Leben und Schreiben ohne Laufen längst nicht mehr denkbar. In 42,195 Kapiteln denkt Politycki über das Laufen nach und erzählt aus dem eigenen Laufleben, welches mit seiner Schriftstellerexistenz verknüpft ist.
Was ist das, was uns seit Jahren an- und umtreibt, das uns regelmäßig hinaustreibt aus der Geborgenheit unserer Behausungen. Was geht in uns vor, wenn wir laufen, was denken wir dabei und danach und darüber? Und was sagt das womöglich über uns aus und die Gesellschaft, in der wir leben?
Matthias Politycki betrachtet einen Sport, der viel mehr ist als eine Freizeitbeschäftigung. In einer globalisierten Welt ist das Laufen zum Minimalkonsens der neuen Weltgemeinschaft geworden. Für ihn selbst ist sein Leben und Schreiben ohne Laufen längst nicht mehr denkbar. In 42,195 Kapiteln denkt Politycki über das Laufen nach und erzählt aus dem eigenen Laufleben, welches mit seiner Schriftstellerexistenz verknüpft ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2015Das Ziel ist das Ziel, nicht der Weg
Experimentelle Schreibweisen hat er sich abtrainiert: Matthias Polityckis Buch über sein Leben als Marathonläufer
Egal, ob Schriftsteller boxen, schwimmen, ringen oder laufen: ihre Sportart ist immer Welterfahrungsmodell und jedenfalls Metapher für ihr Schreiben. Haruki Murakami ("Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede") trainiert beim Marathon Intensität, Zähigkeit und Leidensfähigkeit: "Ein ungesunder Geist braucht einen gesunden Körper." Günter Herburger ("Lauf und Wahn") beschimpfte alle Feinde des Laufens, vor allem Intellektuelle, und besang in seinen deliranten Hymnen Thymusgöttinnen, enzymatische Engel und andere blinde Passagiere im Körper: "Meine Tochter saß in der Hüfte und schaute kugelköpfig zu. Auf der Flucht mit mir zog sie einen heulenden Schweif hinter sich." Aber das war 1988, als Marathonlaufen noch kein Lifestyle-Event und Volkssport war, und Herburger und Murakami sind Ultramarathonläufer und Extremschriftsteller.
Das ist Matthias Politycki nicht: "Nein, ich lebe nicht fürs Laufen. Aber ohne das Laufen wäre mein Leben nicht mein Leben, das schon." Beim Laufen hat er viel über die "Verfasstheit des Menschen" und seine eigene gegrübelt und gelernt: deutsche Tugenden und Schmerzgrenzen, Heimat und Welt, Körperspannung und Selbstoptimierungszwang, Leben und Tod. "Solange du rennst, kannst du nicht sterben. Du kannst nicht einmal daran denken, der Tod ist schlechterdings unvorstellbar. Ist es nicht großartig? Der Start, das Rennen, das Leben? Und hat es nicht gerade erst angefangen?"
Politycki verachtet die Clowns, die den existentiellen Ernst eines Marathonlaufs mit ihren Verkleidungen zum Kindergeburtstag entwürdigen, aber er gehört auch nicht zu den verbissenen Extremläufern, die das Rennen zur Religion erheben. Der "passionierte Freizeitläufer" Politycki läuft seit mehr als vierzig Jahren, aber erst als Mann von 55 Jahren entwickelte er den Ehrgeiz des Spätberufenen. Seither läuft er, meist im Kreise seiner "Laufkumpel", nach den semiprofessionellen Trainings- und Ernährungsplänen ("Männer entwickeln als Läufer ein Ernährungsbewusstsein wie ansonsten allenfalls Frauen mit einer Essstörung") des Hamburger Laufwerks. Sieben Marathons hat Politycki, der heute sechzig Jahre alt wird, absolviert, seine Bestzeit liegt bei drei Stunden und 52 Minuten. Am härtesten war der Kilimandscharo-Marathon, am schönsten London; die "Schmach von Schmiedefeld" beim Rennsteiglauf würde er lieber aus seiner Erinnerung streichen.
Politycki ist kein Genuss- oder gar Spaßläufer, sein Buch kein running gag. Dabei sein ist nicht alles. Ankommen ist Pflicht, "Aufhören ist keine Option". "Das Ziel ist das Ziel", nicht der Weg, wie Jogger glauben. Aber für anekdotische Schnurren, kritische Umwege und urbane Wanderlegenden muss in einer "Phänomenologie des Laufens" schon Zeit sein. Beim Laufen geht Politycki immer ans Limit und manchmal darüber hinaus, beim Schreiben eher nicht. "Wer lange Läufe macht, will weder originell sein noch gar sich originell geben." Die experimentellen Schreibweisen seiner frühen Jahre hat er sich abtrainiert, die Steilkurven, Pirouetten und Sackgassen des postmodernen Erzählens zugunsten der Ideallinie aufgegeben, und so verzichtet er auch hier weitgehend auf selbstreflexive Schleifen und poetische Aufschwünge; nur wenn anmutige Läuferinnen an ihm vorbeiziehen, wird er zum Hobbydichter. Auch die Parallelführung von Literatur und Laufen nimmt Politycki nicht ganz so ernst. Ja, er kennt auch beim Schreiben Trainingspläne, Sonderausschüttung an körpereigenen Opiaten und Einbrüche, aber das sind im Vorbeigehen gewonnene Einsichten. Sein "erfülltes Läuferleben" zu beschreiben ist für Politycki Dichtung und Wahrheit genug; die Abgründe und den Wahnsinn des Langstreckenlaufs in einer kongenialen Anstrengung auszuschwitzen, überlässt er den Herburgers.
"Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken" ist keine atemlos schnaufende Läuferlyrik, aber auch keine Lauffibel für Eingeweihte. Es ist ein passionierter, gutgelaunter Freizeitlauf in 45,195 Kapiteln (eins für jeden Kilometer, plus Bonusmeilen für Startbereich, Halbzeit und Zieleinlauf), den auch Spaziergänger mit Gewinn absolvieren können. Themen sind: Schuhwerk und Dresscodes, GPS-Uhren und Dixiklos, Siegermantras und die besten Ausreden der Versager, Pokale, Doping, Ekstasen, Selbstzweifel und Sinnkrisen des Läuferlebens. Beim Start ist jeder Lauf das Rennen des Lebens, aber dann werden die Beine immer schwerer. Bei Kilometer 30 schlägt der "Mann mit dem Hammer" zu, dann kommen die Kapitel "Schmerz geht, Stolz bleibt" und "Entgrenzung, Selbstauflösung, Himmelfahrt" und hinter dem Zielstrich lauern "postmarathonale Depression" und Regeneration. Nach dem Lauf ist vor dem Lauf. Laufen macht die Welt nicht besser, aber es gibt dem Leben Struktur, physische und moralische Kondition und ein gutes Gefühl, hinterher.
"42,195" ist ein Meilenstein der deutschen Marathonliteratur. Mit Sachverstand, Witz und Leidenschaft, ohne metaphysische Schnappatmung und Verkrampfungen geht Politycki über die volle Distanz von 320 Seiten. Selbst wenn passionierte Nichtläufer ihm nicht immer folgen können oder wollen: Der Autor hat seinen Schweiß nicht umsonst vergossen.
MARTIN HALTER
Matthias Politycki: "42,195". Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken.
Hoffmann und Campe
Verlag, Hamburg 2015. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Experimentelle Schreibweisen hat er sich abtrainiert: Matthias Polityckis Buch über sein Leben als Marathonläufer
Egal, ob Schriftsteller boxen, schwimmen, ringen oder laufen: ihre Sportart ist immer Welterfahrungsmodell und jedenfalls Metapher für ihr Schreiben. Haruki Murakami ("Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede") trainiert beim Marathon Intensität, Zähigkeit und Leidensfähigkeit: "Ein ungesunder Geist braucht einen gesunden Körper." Günter Herburger ("Lauf und Wahn") beschimpfte alle Feinde des Laufens, vor allem Intellektuelle, und besang in seinen deliranten Hymnen Thymusgöttinnen, enzymatische Engel und andere blinde Passagiere im Körper: "Meine Tochter saß in der Hüfte und schaute kugelköpfig zu. Auf der Flucht mit mir zog sie einen heulenden Schweif hinter sich." Aber das war 1988, als Marathonlaufen noch kein Lifestyle-Event und Volkssport war, und Herburger und Murakami sind Ultramarathonläufer und Extremschriftsteller.
Das ist Matthias Politycki nicht: "Nein, ich lebe nicht fürs Laufen. Aber ohne das Laufen wäre mein Leben nicht mein Leben, das schon." Beim Laufen hat er viel über die "Verfasstheit des Menschen" und seine eigene gegrübelt und gelernt: deutsche Tugenden und Schmerzgrenzen, Heimat und Welt, Körperspannung und Selbstoptimierungszwang, Leben und Tod. "Solange du rennst, kannst du nicht sterben. Du kannst nicht einmal daran denken, der Tod ist schlechterdings unvorstellbar. Ist es nicht großartig? Der Start, das Rennen, das Leben? Und hat es nicht gerade erst angefangen?"
Politycki verachtet die Clowns, die den existentiellen Ernst eines Marathonlaufs mit ihren Verkleidungen zum Kindergeburtstag entwürdigen, aber er gehört auch nicht zu den verbissenen Extremläufern, die das Rennen zur Religion erheben. Der "passionierte Freizeitläufer" Politycki läuft seit mehr als vierzig Jahren, aber erst als Mann von 55 Jahren entwickelte er den Ehrgeiz des Spätberufenen. Seither läuft er, meist im Kreise seiner "Laufkumpel", nach den semiprofessionellen Trainings- und Ernährungsplänen ("Männer entwickeln als Läufer ein Ernährungsbewusstsein wie ansonsten allenfalls Frauen mit einer Essstörung") des Hamburger Laufwerks. Sieben Marathons hat Politycki, der heute sechzig Jahre alt wird, absolviert, seine Bestzeit liegt bei drei Stunden und 52 Minuten. Am härtesten war der Kilimandscharo-Marathon, am schönsten London; die "Schmach von Schmiedefeld" beim Rennsteiglauf würde er lieber aus seiner Erinnerung streichen.
Politycki ist kein Genuss- oder gar Spaßläufer, sein Buch kein running gag. Dabei sein ist nicht alles. Ankommen ist Pflicht, "Aufhören ist keine Option". "Das Ziel ist das Ziel", nicht der Weg, wie Jogger glauben. Aber für anekdotische Schnurren, kritische Umwege und urbane Wanderlegenden muss in einer "Phänomenologie des Laufens" schon Zeit sein. Beim Laufen geht Politycki immer ans Limit und manchmal darüber hinaus, beim Schreiben eher nicht. "Wer lange Läufe macht, will weder originell sein noch gar sich originell geben." Die experimentellen Schreibweisen seiner frühen Jahre hat er sich abtrainiert, die Steilkurven, Pirouetten und Sackgassen des postmodernen Erzählens zugunsten der Ideallinie aufgegeben, und so verzichtet er auch hier weitgehend auf selbstreflexive Schleifen und poetische Aufschwünge; nur wenn anmutige Läuferinnen an ihm vorbeiziehen, wird er zum Hobbydichter. Auch die Parallelführung von Literatur und Laufen nimmt Politycki nicht ganz so ernst. Ja, er kennt auch beim Schreiben Trainingspläne, Sonderausschüttung an körpereigenen Opiaten und Einbrüche, aber das sind im Vorbeigehen gewonnene Einsichten. Sein "erfülltes Läuferleben" zu beschreiben ist für Politycki Dichtung und Wahrheit genug; die Abgründe und den Wahnsinn des Langstreckenlaufs in einer kongenialen Anstrengung auszuschwitzen, überlässt er den Herburgers.
"Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken" ist keine atemlos schnaufende Läuferlyrik, aber auch keine Lauffibel für Eingeweihte. Es ist ein passionierter, gutgelaunter Freizeitlauf in 45,195 Kapiteln (eins für jeden Kilometer, plus Bonusmeilen für Startbereich, Halbzeit und Zieleinlauf), den auch Spaziergänger mit Gewinn absolvieren können. Themen sind: Schuhwerk und Dresscodes, GPS-Uhren und Dixiklos, Siegermantras und die besten Ausreden der Versager, Pokale, Doping, Ekstasen, Selbstzweifel und Sinnkrisen des Läuferlebens. Beim Start ist jeder Lauf das Rennen des Lebens, aber dann werden die Beine immer schwerer. Bei Kilometer 30 schlägt der "Mann mit dem Hammer" zu, dann kommen die Kapitel "Schmerz geht, Stolz bleibt" und "Entgrenzung, Selbstauflösung, Himmelfahrt" und hinter dem Zielstrich lauern "postmarathonale Depression" und Regeneration. Nach dem Lauf ist vor dem Lauf. Laufen macht die Welt nicht besser, aber es gibt dem Leben Struktur, physische und moralische Kondition und ein gutes Gefühl, hinterher.
"42,195" ist ein Meilenstein der deutschen Marathonliteratur. Mit Sachverstand, Witz und Leidenschaft, ohne metaphysische Schnappatmung und Verkrampfungen geht Politycki über die volle Distanz von 320 Seiten. Selbst wenn passionierte Nichtläufer ihm nicht immer folgen können oder wollen: Der Autor hat seinen Schweiß nicht umsonst vergossen.
MARTIN HALTER
Matthias Politycki: "42,195". Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken.
Hoffmann und Campe
Verlag, Hamburg 2015. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»42,195 ist genauso unterhaltsam und überraschend wie die Gedankenketten, die beim Laufen entstehen.« Deutsche Welle 20150314