Was war 68? War es eine "Rebellion, die mehr Werte zerstört hat als das Dritte Reich"? Oder doch die seit ihrer Gründung fällige "Fundamentalliberalisierung" der Bundesrepublik? Eine Frage, die noch nach 40 Jahren zu erbitterten öffentlichen Diskussionen führt.
Albrecht von Lucke fragt danach, wie die 68er als einzige Generation der Bundesrepublik derart wirkmächtig werden konnten und warum aus der Einschätzung von 68 noch immer heftige Deutungsschlachten entstehen. Sein Buch ist also keine Geschichte der 68er, sondern eine Darstellung von deren Wirkung und Beurteilung ? von der Gewaltdebatte der 70er Jahre bis zur
aktuellen Diskussion um die Neue Bürgerlichkeit.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Albrecht von Lucke fragt danach, wie die 68er als einzige Generation der Bundesrepublik derart wirkmächtig werden konnten und warum aus der Einschätzung von 68 noch immer heftige Deutungsschlachten entstehen. Sein Buch ist also keine Geschichte der 68er, sondern eine Darstellung von deren Wirkung und Beurteilung ? von der Gewaltdebatte der 70er Jahre bis zur
aktuellen Diskussion um die Neue Bürgerlichkeit.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.02.20081968: Drei Bücher und ein Machwerk
Götz Aly hält die Achtundsechziger für so gefährlich wie Hitlers Horden – weil er auffallen will. Es gibt Seriöseres und Spannenderes zu lesen
Die deutsche Vergangenheitsbewältigung ist jetzt im Jahr 1968 angekommen. Anlässlich des Jubiläums wird entsprechend viel publiziert. Der Historiker Götz Aly hält die Achtundsechziger rückblickend für ebenso gefährlich wie die rechten Horden, die zu Hitlers frühen Zeiten durch deutsche Straßen marschierten. Norbert Frei betrachtet „1968” in internationaler Perspektive und findet viele Gemeinsamkeiten zwischen bundesdeutschen Aktivisten und denen anderer Länder. Reinhard Mohrs Buch ist eine gute Medizin gegen Alys verbissene Generalverdammnis. Albrecht von Lucke erklärt das Tamtam, das heute über 1968 gemacht wird, aus seinem ideologischen Kern.
Reinhard Mohr hat 1968 mitgemischt. In Frankfurt trug er als Student „das Rotbuch ,Wie man gegen Polizei und Justiz die Nerven behält‘ in der Tasche” seiner „schweren Lederjacke”. Wie fast alle Aktivisten jener Zeit behielt Mohr die Nerven, er wurde nicht Terrorist, sondern Journalist. Seine kurzweilige, bisweilen arg launig erzählte Geschichte der deutschen Achtundsechziger soll nebenbei auch deren Andenken retten.
Götz Aly verachtet alle Historiker, die Druckkostenzuschüsse zur Publikation ihrer Arbeiten erhalten. Er braucht das nicht. Aly schätzt extreme Ansichten. Davon zeugt der Titel seines neuen Buches: „Unser Kampf”. Er legt nahe, die Achtundsechziger seien ähnlich fürchterlich gestimmt gewesen wie Adolf Hitler. Und Aly leidet darunter, dass er nicht Ordinarius geworden ist. Das bringt er auch in „Unser Kampf” aufs Tapet: Den Achtundsechzigern hält er vor, sie hätten einander sowohl beim Ausbau der Universitätslandschaft Ende der sechziger Jahre als auch nach der Eingliederung der DDR ins Bundesgebiet Sinekuren verschafft, lukrative Professuren bis zum Lebensende.
Dass eine kommunistische Lehrerin wegen des Radikalenerlasses in den siebziger Jahren Lehrverbot erhielt und dann ohne Reue ihre Bezüge weiterhin eingestrichen habe, findet er umso verwerflicher, als die Frau nach ihrer Freistellung in eine „Landkommune” umzog. Er spricht von „Parasitenstolz”. Ihm selbst wurde in den siebziger Jahren wegen seiner linken Umtriebe auch von Staats wegen ein Jahr lang Berufsverbot erteilt, vermutlich nicht bei fortlaufenden Bezügen.
Zweifellos ist es schade, dass Aly nicht Professor geworden ist. Schade ist es aber auch, dass er die Thesen seiner Bücher zunehmend im Hinblick auf das Hühnchen formuliert, das er mit der Gesellschaft, der Welt oder wem auch immer zu rupfen hat. So bleibt zum Beispiel unklar, was er den Achtundsechzigern übler nimmt: Dass sie sich Gewaltphantasien hingaben oder dass sie später einkömmliche Posten einnahmen.
Einerseits hält er ihnen – übrigens zu Unrecht – vor, dass sie gegen den sowjetischen Einmarsch in Prag nicht protestiert hätten, andererseits erbittert es ihn, dass sie sich dem Internationalismus verschrieben und wortreich die Befreiungsbewegungen in fremden Ländern unterstützten. Die Hochschulreform hätte es, so Aly, auch ohne die Achtundsechziger gegeben. Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen hätten fähige Staatsanwälte damals schon längst in die Hand genommen. Fälschlich behauptet Aly, die
Studenten jener Zeit hätten sich für
diese Prozesse nicht interessiert. Aller-
lei ungerechte Generalisierungen solcher Art geben seinem Buch den Anschein einer Hasstirade – oder sollte es Selbsthass sein?
Im Schützengraben
Für die Polizei, die sich in seiner Schilderung der gewalttätigen Studenten kaum erwehren konnte, hat Aly Sympathie. Als der Journalist Kai Hermann damals von einer Pogromstimmung in Berlin sprach, muss er sich in Alys Augen geirrt haben: Die Medien, so schreibt er, seien der Revolte im Großen und Ganzen „neutral oder verständnisvoll” begegnet. Immerhin konzediert er, dass in Berlin die Springerpresse dominierte, die gegen die Studenten hetzte. Weit davon entfernt, sich für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu interessieren, so Aly weiter, hätten die Studenten der späten sechziger und frühen siebziger Jahre sich eskapistisch auf den Vietnamkrieg konzentriert und die Vereinigten Staaten zum Sündenbock erkoren: „Im Antiamerikanismus überschnitten sich die Gedankenwelten der von Goebbels verformten Eltern und ihrer zum harten Contra aufgelegten Kinder.”
Weil die Kinder ihre Eltern nicht als Vorbilder ansehen konnten, hätten sie sich unwillkürlich ebenso intolerant gebärdet: Sie seien „aus einer komplexen Welt in die elementar vereinfachte Situation des Schützengrabens” geflohen. Der Name der damaligen Kultband Ton, Steine, Scherben kündet in Alys Ohren von dem alten Lied „Wir werden weitermarschieren / Wenn alles in Scherben fällt.” Er konstatiert eine „formale Ähnlichkeit” der 68er-Revolte mit der NS-Bewegung. Kulminiert habe die studentische Verblendung in einem palästinenserfreundlichen Antizionismus, der allzu oft in Antisemitismus umgeschlagen sei. Auch in diesem Punkt seien die Kinder also nach ihren Eltern geraten.
Bizarre Suggestionen
Immerhin gibt Aly zu, dass viele Aspekte der bundesdeutschen Gesellschaft – von der Prügelstrafe bis zur Sexualaufklärung – reformbedürftig gewesen seien. Reformen seien aber von Parlament und Regierung initiiert worden, keinesfalls von den Studenten, denen Aly nicht einmal ihre antiautoritäre Haltung abnimmt: Er beruft sich auf eine Umfrage, derzufolge die Studenten den Wissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker sowie Walter Hallstein, Kommissionspräsident der EWG, für die größten Vorbilder hielten. Daran könne man ablesen, dass die Studenten sich nach Autoritäten gesehnt hätten. Aly nimmt wirklich jeden Quark her, um seine Thesen zusammenzukitten. Die radikalen (Berliner) Gewaltapostel, die er in seinem Buch verdammt, waren gewiss keine Bewunderer Hallsteins. In westdeutschen Provinzuniversitäten mochten viele brave Studenten Hallstein schätzen, aber denen stand der Sinn nicht nach Puddingattentaten.
Besonders amüsant sind jene Partien in Alys Buch, in denen er Kurt Georg Kiesinger als weise-väterlichen Staatsmann schildert, der „mutig” genug gewesen sei, die verfemte DDR als „Phänomen” zu bezeichnen – dies zu einer Zeit, da die liberale Presse die DDR schon längst auch sprachlich wie einen normalen Staat behandelte. Weniger spaßig ist Alys Anliegen: Lauter Vorwürfe, die schon Ende der sechziger Jahre und oft in der Hitze der Debatte geäußert wurden, hat er zu der absonderlichen Unterstellung zusammengerührt, die Studentenbewegung (sich selbst zählt er dazu) habe „formal” der frühen NS-Bewegung geähnelt, sei aber zum Glück daran gehindert worden, sich in diesem Sinn ganz zu verwirklichen.
Alys These ist ein bisschen albern, ziemlich degoutant und vor allem unverständlich. Was will er mit seinem Hinweis auf „formale” Ähnlichkeiten insinuieren? Dass die Studenten ein totalitäres System errichten wollten? Dass die Nazis in ihrem Kern auch nicht schlimmer gewesen seien als die Studenten 1968? Wie kommt Aly auf seine bizarre Suggestion von Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Studentenrevolte? Der Politologe Albrecht von Lucke hat einen Vorschlag: So wie sich das Bürgertum nach der gescheiterten Revolution 1848 der „Realpolitik” und „national-liberalen Zielen” verschrieb, hätten viele in der realen Wirtschaft gestrandete Achtundsechziger ihr Heil im Rückzug auf konservative bürgerliche Werte gesehen. Lucke belegt seine Ansichten mit gut ausgewählten Einlassungen der Betroffenen. 1968, so zeigt er, wird heute schlecht gemacht, damit die Adenauer-Republik in der Rückschau umso heller strahle.
Aber „1968” spielte sich ja nicht nur in der Bundesrepublik ab. Wer wissen will, was sich damals wirklich zutrug, sollte Norbert Freis Buch lesen. Der Historiker hat farbig und spannend von den Achtundsechziger-Bewegungen in aller Welt erzählt, er hat dargestellt, was sie alle gemeinsam haben, wie sie einander beeinflussten und welche Unterschiede es gab. In Holland zum Beispiel kam es nicht zu größeren Krawallen, weil die Polizei sehr schnell die „Spielregeln” verstand und „konsequent auf Deeskalation setzte”. In den USA verbot sich den Studenten die ausführliche Beschäftigung mit radikalen Gewaltphantasien schon deshalb, weil es in ihrem Land, angefangen mit dem Ku-Klux-Klan, schon genügend Gruppierungen gab, die andere Menschen töteten. Frei hat die Literatur sehr genau und auf ihre Pointen hin studiert: Wer meint, von „1968” in Paris oder Los Angeles oder Tokio nichts wissen zu müssen, wird bei der Lektüre merken, dass diese Geschichten zum einen interessant und zum anderen von Belang sind.
Eine Frage bleibt, sie beschäftigt auch Norbert Frei: Seit langem werde darüber spekuliert, „inwiefern der linke Terrorismus als ein spezifisches Problem der einstigen Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs zu verstehen sei”. Der Schoß des Faschismus war in der Tat lange fruchtbar. Er hat aber nur einzelne terroristische Früchtchen erzeugt.
FRANZISKA AUGSTEIN
NORBERT FREI: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008. 280 Seiten, 15 Euro.
GÖTZ ALY: Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2008. 253 Seiten, 19,90 Euro.
ALBRECHT VON LUCKE: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht. Wagenbach, Berlin 2008. 96 Seiten, 9,90 Euro.
REINHARD MOHR: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern. WJS Verlag, Berlin 2008. 238 Seiten, 19,90 Euro.
Rudi Dutschke und Mitstreiter (unter anderem Gaston Salvatore/rechts) bei einer Vietnam-Demonstration 1968 in Berlin. Foto: picture-alliance/akg
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Götz Aly hält die Achtundsechziger für so gefährlich wie Hitlers Horden – weil er auffallen will. Es gibt Seriöseres und Spannenderes zu lesen
Die deutsche Vergangenheitsbewältigung ist jetzt im Jahr 1968 angekommen. Anlässlich des Jubiläums wird entsprechend viel publiziert. Der Historiker Götz Aly hält die Achtundsechziger rückblickend für ebenso gefährlich wie die rechten Horden, die zu Hitlers frühen Zeiten durch deutsche Straßen marschierten. Norbert Frei betrachtet „1968” in internationaler Perspektive und findet viele Gemeinsamkeiten zwischen bundesdeutschen Aktivisten und denen anderer Länder. Reinhard Mohrs Buch ist eine gute Medizin gegen Alys verbissene Generalverdammnis. Albrecht von Lucke erklärt das Tamtam, das heute über 1968 gemacht wird, aus seinem ideologischen Kern.
Reinhard Mohr hat 1968 mitgemischt. In Frankfurt trug er als Student „das Rotbuch ,Wie man gegen Polizei und Justiz die Nerven behält‘ in der Tasche” seiner „schweren Lederjacke”. Wie fast alle Aktivisten jener Zeit behielt Mohr die Nerven, er wurde nicht Terrorist, sondern Journalist. Seine kurzweilige, bisweilen arg launig erzählte Geschichte der deutschen Achtundsechziger soll nebenbei auch deren Andenken retten.
Götz Aly verachtet alle Historiker, die Druckkostenzuschüsse zur Publikation ihrer Arbeiten erhalten. Er braucht das nicht. Aly schätzt extreme Ansichten. Davon zeugt der Titel seines neuen Buches: „Unser Kampf”. Er legt nahe, die Achtundsechziger seien ähnlich fürchterlich gestimmt gewesen wie Adolf Hitler. Und Aly leidet darunter, dass er nicht Ordinarius geworden ist. Das bringt er auch in „Unser Kampf” aufs Tapet: Den Achtundsechzigern hält er vor, sie hätten einander sowohl beim Ausbau der Universitätslandschaft Ende der sechziger Jahre als auch nach der Eingliederung der DDR ins Bundesgebiet Sinekuren verschafft, lukrative Professuren bis zum Lebensende.
Dass eine kommunistische Lehrerin wegen des Radikalenerlasses in den siebziger Jahren Lehrverbot erhielt und dann ohne Reue ihre Bezüge weiterhin eingestrichen habe, findet er umso verwerflicher, als die Frau nach ihrer Freistellung in eine „Landkommune” umzog. Er spricht von „Parasitenstolz”. Ihm selbst wurde in den siebziger Jahren wegen seiner linken Umtriebe auch von Staats wegen ein Jahr lang Berufsverbot erteilt, vermutlich nicht bei fortlaufenden Bezügen.
Zweifellos ist es schade, dass Aly nicht Professor geworden ist. Schade ist es aber auch, dass er die Thesen seiner Bücher zunehmend im Hinblick auf das Hühnchen formuliert, das er mit der Gesellschaft, der Welt oder wem auch immer zu rupfen hat. So bleibt zum Beispiel unklar, was er den Achtundsechzigern übler nimmt: Dass sie sich Gewaltphantasien hingaben oder dass sie später einkömmliche Posten einnahmen.
Einerseits hält er ihnen – übrigens zu Unrecht – vor, dass sie gegen den sowjetischen Einmarsch in Prag nicht protestiert hätten, andererseits erbittert es ihn, dass sie sich dem Internationalismus verschrieben und wortreich die Befreiungsbewegungen in fremden Ländern unterstützten. Die Hochschulreform hätte es, so Aly, auch ohne die Achtundsechziger gegeben. Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen hätten fähige Staatsanwälte damals schon längst in die Hand genommen. Fälschlich behauptet Aly, die
Studenten jener Zeit hätten sich für
diese Prozesse nicht interessiert. Aller-
lei ungerechte Generalisierungen solcher Art geben seinem Buch den Anschein einer Hasstirade – oder sollte es Selbsthass sein?
Im Schützengraben
Für die Polizei, die sich in seiner Schilderung der gewalttätigen Studenten kaum erwehren konnte, hat Aly Sympathie. Als der Journalist Kai Hermann damals von einer Pogromstimmung in Berlin sprach, muss er sich in Alys Augen geirrt haben: Die Medien, so schreibt er, seien der Revolte im Großen und Ganzen „neutral oder verständnisvoll” begegnet. Immerhin konzediert er, dass in Berlin die Springerpresse dominierte, die gegen die Studenten hetzte. Weit davon entfernt, sich für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu interessieren, so Aly weiter, hätten die Studenten der späten sechziger und frühen siebziger Jahre sich eskapistisch auf den Vietnamkrieg konzentriert und die Vereinigten Staaten zum Sündenbock erkoren: „Im Antiamerikanismus überschnitten sich die Gedankenwelten der von Goebbels verformten Eltern und ihrer zum harten Contra aufgelegten Kinder.”
Weil die Kinder ihre Eltern nicht als Vorbilder ansehen konnten, hätten sie sich unwillkürlich ebenso intolerant gebärdet: Sie seien „aus einer komplexen Welt in die elementar vereinfachte Situation des Schützengrabens” geflohen. Der Name der damaligen Kultband Ton, Steine, Scherben kündet in Alys Ohren von dem alten Lied „Wir werden weitermarschieren / Wenn alles in Scherben fällt.” Er konstatiert eine „formale Ähnlichkeit” der 68er-Revolte mit der NS-Bewegung. Kulminiert habe die studentische Verblendung in einem palästinenserfreundlichen Antizionismus, der allzu oft in Antisemitismus umgeschlagen sei. Auch in diesem Punkt seien die Kinder also nach ihren Eltern geraten.
Bizarre Suggestionen
Immerhin gibt Aly zu, dass viele Aspekte der bundesdeutschen Gesellschaft – von der Prügelstrafe bis zur Sexualaufklärung – reformbedürftig gewesen seien. Reformen seien aber von Parlament und Regierung initiiert worden, keinesfalls von den Studenten, denen Aly nicht einmal ihre antiautoritäre Haltung abnimmt: Er beruft sich auf eine Umfrage, derzufolge die Studenten den Wissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker sowie Walter Hallstein, Kommissionspräsident der EWG, für die größten Vorbilder hielten. Daran könne man ablesen, dass die Studenten sich nach Autoritäten gesehnt hätten. Aly nimmt wirklich jeden Quark her, um seine Thesen zusammenzukitten. Die radikalen (Berliner) Gewaltapostel, die er in seinem Buch verdammt, waren gewiss keine Bewunderer Hallsteins. In westdeutschen Provinzuniversitäten mochten viele brave Studenten Hallstein schätzen, aber denen stand der Sinn nicht nach Puddingattentaten.
Besonders amüsant sind jene Partien in Alys Buch, in denen er Kurt Georg Kiesinger als weise-väterlichen Staatsmann schildert, der „mutig” genug gewesen sei, die verfemte DDR als „Phänomen” zu bezeichnen – dies zu einer Zeit, da die liberale Presse die DDR schon längst auch sprachlich wie einen normalen Staat behandelte. Weniger spaßig ist Alys Anliegen: Lauter Vorwürfe, die schon Ende der sechziger Jahre und oft in der Hitze der Debatte geäußert wurden, hat er zu der absonderlichen Unterstellung zusammengerührt, die Studentenbewegung (sich selbst zählt er dazu) habe „formal” der frühen NS-Bewegung geähnelt, sei aber zum Glück daran gehindert worden, sich in diesem Sinn ganz zu verwirklichen.
Alys These ist ein bisschen albern, ziemlich degoutant und vor allem unverständlich. Was will er mit seinem Hinweis auf „formale” Ähnlichkeiten insinuieren? Dass die Studenten ein totalitäres System errichten wollten? Dass die Nazis in ihrem Kern auch nicht schlimmer gewesen seien als die Studenten 1968? Wie kommt Aly auf seine bizarre Suggestion von Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Studentenrevolte? Der Politologe Albrecht von Lucke hat einen Vorschlag: So wie sich das Bürgertum nach der gescheiterten Revolution 1848 der „Realpolitik” und „national-liberalen Zielen” verschrieb, hätten viele in der realen Wirtschaft gestrandete Achtundsechziger ihr Heil im Rückzug auf konservative bürgerliche Werte gesehen. Lucke belegt seine Ansichten mit gut ausgewählten Einlassungen der Betroffenen. 1968, so zeigt er, wird heute schlecht gemacht, damit die Adenauer-Republik in der Rückschau umso heller strahle.
Aber „1968” spielte sich ja nicht nur in der Bundesrepublik ab. Wer wissen will, was sich damals wirklich zutrug, sollte Norbert Freis Buch lesen. Der Historiker hat farbig und spannend von den Achtundsechziger-Bewegungen in aller Welt erzählt, er hat dargestellt, was sie alle gemeinsam haben, wie sie einander beeinflussten und welche Unterschiede es gab. In Holland zum Beispiel kam es nicht zu größeren Krawallen, weil die Polizei sehr schnell die „Spielregeln” verstand und „konsequent auf Deeskalation setzte”. In den USA verbot sich den Studenten die ausführliche Beschäftigung mit radikalen Gewaltphantasien schon deshalb, weil es in ihrem Land, angefangen mit dem Ku-Klux-Klan, schon genügend Gruppierungen gab, die andere Menschen töteten. Frei hat die Literatur sehr genau und auf ihre Pointen hin studiert: Wer meint, von „1968” in Paris oder Los Angeles oder Tokio nichts wissen zu müssen, wird bei der Lektüre merken, dass diese Geschichten zum einen interessant und zum anderen von Belang sind.
Eine Frage bleibt, sie beschäftigt auch Norbert Frei: Seit langem werde darüber spekuliert, „inwiefern der linke Terrorismus als ein spezifisches Problem der einstigen Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs zu verstehen sei”. Der Schoß des Faschismus war in der Tat lange fruchtbar. Er hat aber nur einzelne terroristische Früchtchen erzeugt.
FRANZISKA AUGSTEIN
NORBERT FREI: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008. 280 Seiten, 15 Euro.
GÖTZ ALY: Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2008. 253 Seiten, 19,90 Euro.
ALBRECHT VON LUCKE: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht. Wagenbach, Berlin 2008. 96 Seiten, 9,90 Euro.
REINHARD MOHR: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern. WJS Verlag, Berlin 2008. 238 Seiten, 19,90 Euro.
Rudi Dutschke und Mitstreiter (unter anderem Gaston Salvatore/rechts) bei einer Vietnam-Demonstration 1968 in Berlin. Foto: picture-alliance/akg
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2008Der Not gehorchend?
Die 68er mal in kritisch-distanzierter, mal in freudlos-orthodoxer Perspektive / Von Andreas Rödder
Vierzig Jahre achtundsechzig - einmal mehr diskutiert das Land die Bedeutung jenes Zusammenhangs von Ereignissen, Akteuren und Entwicklungen eines ganzen Generationenprojekts der um und nach 1940 Geborenen. Dabei waren nur die wenigsten im engeren Sinne aktiv in den Unruhen zwischen Frühsommer 1967 und Spätherbst 1969, vor allem in den universitären Zentren. Was den Generationszusammenhang aber ausmachte, war die große Zahl gefühlter Aktivisten sowie von emotional und habituell Alliierten im Nachgang der siebziger Jahre - und ebenso die aktive Auseinandersetzung, um die auch die Gegner der 68er nicht herumkamen. In verschiedenen Windungen hat sich dieser "Kulturkampf" um die Deutung bis heute fortgesetzt, massiv verstärkt durch die Selbstbezüglichkeit einer akademisch gebildeten Elite ebenso wie der universitären Wissenschaft, die im Zusammenhang von 1968 wie sonst nie zum historisch-politischen Akteur wurde.
Dabei haben sich die Positionen inzwischen ausdifferenziert und eigentümlich überlagert. Sehen viele Konservative in den 68ern den Urgrund von Leistungs- und Werteverfall, so mahnt der Verfassungsrichter Udo di Fabio, "68" als Teil der Entwicklung zu akzeptieren. Auch unter den 68ern im engeren Sinne hat sich das Spektrum erheblich aufgefächert: Neben traditioneller Nostalgie und Apologie stehen kritisch-distanzierte Auseinandersetzungen aus den Federn von Wolfgang Kraushaar oder Götz Aly, während Altaktivisten wie Bernd Rabehl und Horst Mahler bis ins rechte Extrem gewandert und auch bei Rudi Dutschke (1940-1979) nachträglich erstaunlich nationale Töne vernommen worden sind. Bei Jüngeren stößt sehr vieles von alledem auf Unverständnis, während mit Albrecht von Lucke ein 1967 Geborener zur Apologie der 68er ansetzt. Ambivalenzen sind freilich für das gesamte Thema kennzeichnend.
Auch nach vierzig Jahren, auch nach dem Abtritt der 68er von der politischen Macht und auch nachdem sich ein Großteil der 68er-Lehrer, -Richter und -Journalisten in den Ruhestand verabschiedet hat - das ist neu im Vergleich zu den Debatten von 1988 und 1998 -, hält es Wolfgang Kraushaar für naiv, so etwas wie historische Gerechtigkeit in der öffentlichen Diskussion zu erwarten. Stattdessen setzt sich dieser randständige Aktivist von 1968 und herausragende Kenner des Gesamtzusammenhangs das Ziel einer "ausgewogenen Darstellung". In der Tat enthüllt der unaufgeregt unorthodoxe Autor in seinem zehnten Buch, zugleich seiner dritten Bilanz zum Thema, keine substantiell neuen Einsichten, ist auch von Umschweifen und Redundanzen nicht frei, lohnt aber immer wieder Lektüre und Auseinandersetzung.
Albrecht von Lucke macht sich unterdessen in seinem überblickenden Essay auf die Spur des Wandels der "1968" zugeschriebenen Bedeutung im "Kampf um die Deutungsmacht". Dass er im kursorischen Vorübergehen die meinungsstarke Geschwätzigkeit printmedialer Attributierungen vor Augen führt, leuchtet dabei eher ein als seine neu-alt-linke Philippika gegen die "reaktionären" Zustände in der Bundesrepublik im Zeichen einer "neuen Bürgerlichkeit", die das Private vom Politischen trenne und der er "68" als "Stachel im Fleisch" und "Hoffnungsschimmer" entgegenhält. Dass Bürgerlichkeit beziehungsweise bürgerliche Selbstverantwortung durch einen expandierenden Sozialstaat beeinträchtigt sein könnte, der das Private immer weiter verstaatlicht und der den sozialen Aufstiegswillen derer, die etwas zu gewinnen haben, abwürgt, kommt dieser ebenso festgelegten wie freudlosen orthodox-linken Sichtweise gar nicht in den Blick.
Da ist die unkonventionelle Selbstreflexion der 68er doch erheblich origineller: Götz Alys "irritierter Blick zurück" auf die eigene Vergangenheit etwa. Mehr als Kraushaar ein Aktivist von 1968/69 und der frühen siebziger Jahre, hat sich Aly in den vergangenen Jahren zum enfant terrible einer thesenstarken und öffentlichkeitswirksamen, wissenschaftlich fundierten historisch-politischen Publizistik entwickelt. Auch diese fulminante Polemik beruht neben ihren autobiographischen Grundlagen auf wichtigen Quellen: den deklassifizierten Informationen des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den Nachlässen von Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, die in Berlin vergebens Brücken zu den 68ern zu bauen suchten, sowie auf zeitgenössischen Druckschriften, deren Lektüre er als "schwere Selbstprüfung" empfand: "Ungleich leichter lässt sich über die Vergangenheit anderer schreiben."
Geistreich, persönlich und unfair geht Aly mit Sarkasmus stets dahin, wo es weh tut, vor allem seinen alten Gefährten: "An Häuserwänden stand ,High sein, frei sein, Terror muss dabei sein'. Es entstand eine Art Sentimentalstalinismus. In seiner Kurzbiographie schrieb der langsam alternde Revoluzzer: lebt und arbeitet in Berlin. Was immer das bedeuten mochte. Zwischen Kranzler-Eck und Schlesischem Tor etablierte sich bis in die späten achtziger Jahre hinein ein juste milieu von Egomanen." Wo bei Kraushaar noch eine gewisse Nostalgie durchscheint, gießt Aly Kübel voller Spott über die perpetuierte "luxurierende Jugendexistenz" der westdeutschen Dauerachtundsechziger im Idyll der alten Bundesrepublik und ihre Ignoranz gegenüber den Deutschen in der DDR, die sich 1989 immerhin zugutehalten konnten, eine wirklich repressive Obrigkeit zum Sturz gebracht zu haben - und im Ergebnis dem alt gewordenen westdeutschen Privatdozenten noch eine "Last-Minute-Sinekure in Rostock" verschafften. So schreibt der Autor, dem selbst der Sprung auf eine Professur verwehrt blieb. Alles nicht so einfach mit diesen 68ern.
Wie nun ist "68" mit der Erfahrung von vierzig Jahren zeithistorisch zu bilanzieren? Kraushaar unterscheidet zwischen einer politischen und einer sozial-kulturellen Bilanz. Politisch ist zunächst festzuhalten, dass eine Verbindung zu den deutschen Arbeitern nicht gelang und daher niemals irgendein wirklich revolutionäres Szenario entstand. Zwei konkrete Erfolge hält Kraushaar den 68ern zugute: zum einen die Abschwächung der ursprünglich geplanten Notstandsgesetze, ohne jedoch empirische Belege dafür beizubringen, inwiefern die Außerparlamentarische Opposition (APO) beziehungsweise ihre Perzeption konkret auf den Gesetzgebungsprozess einwirkte. Dasselbe gilt für das zweite Aktivum seiner Bilanz: dass nämlich die APO den Einzug der NPD in den Bundestag von 1969 zu verhindern und somit der sozialliberalen Koalition in den Sattel half. Hier schimmert (wie auch bei von Lucke und Aly) eine nostalgische Überhöhung nicht von 1968, sondern des Machtwechsels von 1969 als der Umgründung der Republik, der guten Reform und des guten Kanzlers durch, wie überhaupt die Regierung Brandt zunehmend zum positiven Bezugspunkt einer bundesdeutschen Geschichtsschreibung im Zeichen der Liberalisierung avanciert, in der sich für einen kurzen historischen Moment die Melancholie des linken Traums von einer besseren Welt zu materialisieren schien, den ansonsten das 20. Jahrhundert pulverisiert hat.
In sozial-kultureller Hinsicht sticht der Vergangenheitsbezug der 68er auf den Nationalsozialismus heraus. Er stand allerdings nicht unter originär historisch-moralischen, sondern unter genuin sozialistisch-"antifaschistischen" Vorzeichen. So besaß er in erster Linie eine antikapitalistische und somit zugleich antibürgerliche Stoßrichtung, wie sie für "68" charakteristisch ist. "Bürgerlich" bedeutete dabei in den sechziger Jahren die konkrete Engführung einer in vielem kleinbürgerlich-altfränkischen, hierarchischen Sozialkultur zum einen und ebenso das allgemeine Konzept von Individualität, Freiheit und Pluralismus. Die 68er verfolgten demgegenüber "die Absicht, die als Repressionszusammenhang entlarvte Familie durch andere Kollektivformen zu ersetzen und auf diese Weise mit der Kernzelle der alten Gesellschaft Tabula rasa zu machen" (Kraushaar) - die "experimentelle Erprobung einer neuen Kollektivität" mit dem Anspruch einer neuen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung führte freilich mitten in die Illiberalität einer eben nicht pluralistischen und freiheitlichen Ordnungsvorgabe, in den doktrinären Zwang des "neuen Menschen".
An ebendiesem Punkt lag die totalitäre Versuchung der 68er, und die verbotene Frucht war die der Gewalt. Die RAF war nur der extremste Strang eines stufenweise entgrenzten Prozesses, zu dem nicht zuletzt eine "ausgeprägte ästhetische Selbstinszenierung" von Militanz und Männlichkeit gehörte (Kraushaar) und in dem nicht Mahatma Gandhi, sondern Che Guevara als Idol firmierte. Horst Mahlers Weg von der extremen Linken auf die extreme Rechte etwa folgte, wie Kraushaar herausstellt, einer Spur der Kontinuität von Antiamerikanismus, Antisemitismus und Ablehnung des Rechts- und Verfassungsstaates. Konsequenter noch, wenn auch zu einlinig, zieht Aly diese - schon zeitgenössisch wiederholt angesprochene - deutsche Kontinuität antibürgerlicher Unbedingtheit, wie bereits der provozierende Titel seines Buches andeutet: dass nämlich die 68er "ihren Eltern, den Dreiunddreißigern, auf elende Weise ähnelten. Diese wie jene sahen sich als ,Bewegung', die das ,System' der Republik von der historischen Bühne fegen wollte." Zugleich geht er, auf der Suche nach Erklärungen dann auch wieder nachdenklicher und differenzierter, einen Schritt weiter zur sozialkulturellen Disposition des gesamten, durch Kriege und Katastrophen tief erschütterten Landes, in dem die Auseinandersetzung in weitgehender gegenseitiger Verständnislosigkeit eskalierte: "Die Achtundsechzigerrevolte nahm ihren heillosen Lauf, weil der alten Bundesrepublik der ideelle Kern fehlte, den eine freie Gesellschaft braucht."
Was die Akteure von 1968 in jenem engeren Sinne des Zeitraums zwischen Frühsommer 1967 und Spätherbst 1969 betrifft, so unterscheidet Kraushaar in seinem Bemühen um Differenzierung, wenn auch terminologisch nicht immer ganz konsistent, vor allem zwischen zwei Richtungen: den antiautoritären "Gradualisten" der Gesellschaftsveränderung auf der einen Seite (die freilich auf Rätesozialismus und Anarchismus zielten) und den revolutionären "Maximalisten" auf der anderen, die ihrerseits in eine antiautoritäre und eine autoritäre Richtung zerfielen. Schon dies ist heterogen genug, und ein gemeinsamer Nenner lässt sich kaum finden; selbst die antiautoritäre Zielrichtung stellte nur bedingt ein verbindendes Element dar, galt sie doch von vornherein nicht für die antipluralistischen Marxisten, und auch für den Mainstream um den SDS führte die Reise schnell darüber hinaus, wenn es darum ging, "den Staat abzuschaffen und die bürgerliche Gesellschaft radikal umzuwandeln". Die Unüberbrückbarkeit der unterschiedlichen Positionen trat in aller Deutlichkeit zutage, als mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 das einigende Band der Opposition zerriss; die Maximalisten setzten zum "Sturmlauf gegen die Einrichtungen von Staat und Gesellschaft" an, der die einen in den Terrorismus führte, während die Gradualisten sich an innergesellschaftlichen Veränderungen abarbeiteten.
Was "68" kennzeichnete, war in erster Linie Ambivalenz, wie Kraushaar deutlich herausstellt: Freiheitsbewegung für eine "subjektbestimmte Modernität" einerseits und antibürgerliche Illiberalität im Zeichen des "neuen Menschen" andererseits. Vor diesem Hintergrund kann nicht einfach von einer "Fundamentalliberalisierung" der Bundesrepublik durch die ohnehin dezidiert antiliberalen 68er (mit der Verbalkeule "Scheißliberale") die Rede sein, wie sie von Lucke so emphatisch führt, und auch nicht von einer Beförderung der "Zivilgesellschaft", mit der die antibürgerlichen "68er" nichts zu schaffen hatten, auch nicht als unintendierte Folge intentionalen Handelns.
Denn dafür gibt es wenig empirische Evidenz. Vielmehr verbanden sich "68" und die Folgen mit einem allgemeinen Wertewandel, der schon in den mittleren sechziger Jahren eingesetzt hatte und der sich nun beschleunigte und verstärkte: einem Wandel von Pflichtwerten und der Akzeptanz des Vorgegebenen hin zu Freiheits- und Selbstentfaltungswerten, in emanzipatorischer ebenso wie in hedonistischer Dimension. Ebendies hat aber auch die bürgerlichen Kreise nicht unberührt gelassen. Individuelle Freiheitsspielräume - ein genuin bürgerlich-liberales Anliegen - haben ebenso zugenommen, wie sich die Geschlechterverhältnisse oder die Standards der Kindererziehung von den Festlegungen der bürgerlichen Gesellschaft in den sechziger Jahren entfernt haben. Auch die hedonistische Komponente hat sich allerorten verbreitet, und nicht selten haben gerade diejenigen, die den Werteverfall seit 1968 beklagen, soeben ihren vierten Jahresurlaub gebucht. Zugleich haben auch dort im Zeichen vordringender staatlicher Rundumregulierung genuin bürgerliche Orientierungen wie diejenige der Selbstverantwortung an Bedeutung verloren, wenn beispielsweise den Familien allenthalben kaum mehr zugetraut wird, die Erziehung und Persönlichkeitsbildung ihrer Kinder besser zu leisten als der Staat. In diesen sozialkulturellen Entwicklungen ebenso wie in der Tradition eines antibürgerlichen Misstrauens, das heute in der Tradition staatlichen Kümmerns daherkommt, liegt das eigentliche Thema 40 Jahre nach 68.
Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 253 S., 19,90 [Euro].
Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Propyläen Verlag, Berlin 2008. 335 S., 19,90 [Euro].
Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 96 S., 9,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die 68er mal in kritisch-distanzierter, mal in freudlos-orthodoxer Perspektive / Von Andreas Rödder
Vierzig Jahre achtundsechzig - einmal mehr diskutiert das Land die Bedeutung jenes Zusammenhangs von Ereignissen, Akteuren und Entwicklungen eines ganzen Generationenprojekts der um und nach 1940 Geborenen. Dabei waren nur die wenigsten im engeren Sinne aktiv in den Unruhen zwischen Frühsommer 1967 und Spätherbst 1969, vor allem in den universitären Zentren. Was den Generationszusammenhang aber ausmachte, war die große Zahl gefühlter Aktivisten sowie von emotional und habituell Alliierten im Nachgang der siebziger Jahre - und ebenso die aktive Auseinandersetzung, um die auch die Gegner der 68er nicht herumkamen. In verschiedenen Windungen hat sich dieser "Kulturkampf" um die Deutung bis heute fortgesetzt, massiv verstärkt durch die Selbstbezüglichkeit einer akademisch gebildeten Elite ebenso wie der universitären Wissenschaft, die im Zusammenhang von 1968 wie sonst nie zum historisch-politischen Akteur wurde.
Dabei haben sich die Positionen inzwischen ausdifferenziert und eigentümlich überlagert. Sehen viele Konservative in den 68ern den Urgrund von Leistungs- und Werteverfall, so mahnt der Verfassungsrichter Udo di Fabio, "68" als Teil der Entwicklung zu akzeptieren. Auch unter den 68ern im engeren Sinne hat sich das Spektrum erheblich aufgefächert: Neben traditioneller Nostalgie und Apologie stehen kritisch-distanzierte Auseinandersetzungen aus den Federn von Wolfgang Kraushaar oder Götz Aly, während Altaktivisten wie Bernd Rabehl und Horst Mahler bis ins rechte Extrem gewandert und auch bei Rudi Dutschke (1940-1979) nachträglich erstaunlich nationale Töne vernommen worden sind. Bei Jüngeren stößt sehr vieles von alledem auf Unverständnis, während mit Albrecht von Lucke ein 1967 Geborener zur Apologie der 68er ansetzt. Ambivalenzen sind freilich für das gesamte Thema kennzeichnend.
Auch nach vierzig Jahren, auch nach dem Abtritt der 68er von der politischen Macht und auch nachdem sich ein Großteil der 68er-Lehrer, -Richter und -Journalisten in den Ruhestand verabschiedet hat - das ist neu im Vergleich zu den Debatten von 1988 und 1998 -, hält es Wolfgang Kraushaar für naiv, so etwas wie historische Gerechtigkeit in der öffentlichen Diskussion zu erwarten. Stattdessen setzt sich dieser randständige Aktivist von 1968 und herausragende Kenner des Gesamtzusammenhangs das Ziel einer "ausgewogenen Darstellung". In der Tat enthüllt der unaufgeregt unorthodoxe Autor in seinem zehnten Buch, zugleich seiner dritten Bilanz zum Thema, keine substantiell neuen Einsichten, ist auch von Umschweifen und Redundanzen nicht frei, lohnt aber immer wieder Lektüre und Auseinandersetzung.
Albrecht von Lucke macht sich unterdessen in seinem überblickenden Essay auf die Spur des Wandels der "1968" zugeschriebenen Bedeutung im "Kampf um die Deutungsmacht". Dass er im kursorischen Vorübergehen die meinungsstarke Geschwätzigkeit printmedialer Attributierungen vor Augen führt, leuchtet dabei eher ein als seine neu-alt-linke Philippika gegen die "reaktionären" Zustände in der Bundesrepublik im Zeichen einer "neuen Bürgerlichkeit", die das Private vom Politischen trenne und der er "68" als "Stachel im Fleisch" und "Hoffnungsschimmer" entgegenhält. Dass Bürgerlichkeit beziehungsweise bürgerliche Selbstverantwortung durch einen expandierenden Sozialstaat beeinträchtigt sein könnte, der das Private immer weiter verstaatlicht und der den sozialen Aufstiegswillen derer, die etwas zu gewinnen haben, abwürgt, kommt dieser ebenso festgelegten wie freudlosen orthodox-linken Sichtweise gar nicht in den Blick.
Da ist die unkonventionelle Selbstreflexion der 68er doch erheblich origineller: Götz Alys "irritierter Blick zurück" auf die eigene Vergangenheit etwa. Mehr als Kraushaar ein Aktivist von 1968/69 und der frühen siebziger Jahre, hat sich Aly in den vergangenen Jahren zum enfant terrible einer thesenstarken und öffentlichkeitswirksamen, wissenschaftlich fundierten historisch-politischen Publizistik entwickelt. Auch diese fulminante Polemik beruht neben ihren autobiographischen Grundlagen auf wichtigen Quellen: den deklassifizierten Informationen des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den Nachlässen von Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, die in Berlin vergebens Brücken zu den 68ern zu bauen suchten, sowie auf zeitgenössischen Druckschriften, deren Lektüre er als "schwere Selbstprüfung" empfand: "Ungleich leichter lässt sich über die Vergangenheit anderer schreiben."
Geistreich, persönlich und unfair geht Aly mit Sarkasmus stets dahin, wo es weh tut, vor allem seinen alten Gefährten: "An Häuserwänden stand ,High sein, frei sein, Terror muss dabei sein'. Es entstand eine Art Sentimentalstalinismus. In seiner Kurzbiographie schrieb der langsam alternde Revoluzzer: lebt und arbeitet in Berlin. Was immer das bedeuten mochte. Zwischen Kranzler-Eck und Schlesischem Tor etablierte sich bis in die späten achtziger Jahre hinein ein juste milieu von Egomanen." Wo bei Kraushaar noch eine gewisse Nostalgie durchscheint, gießt Aly Kübel voller Spott über die perpetuierte "luxurierende Jugendexistenz" der westdeutschen Dauerachtundsechziger im Idyll der alten Bundesrepublik und ihre Ignoranz gegenüber den Deutschen in der DDR, die sich 1989 immerhin zugutehalten konnten, eine wirklich repressive Obrigkeit zum Sturz gebracht zu haben - und im Ergebnis dem alt gewordenen westdeutschen Privatdozenten noch eine "Last-Minute-Sinekure in Rostock" verschafften. So schreibt der Autor, dem selbst der Sprung auf eine Professur verwehrt blieb. Alles nicht so einfach mit diesen 68ern.
Wie nun ist "68" mit der Erfahrung von vierzig Jahren zeithistorisch zu bilanzieren? Kraushaar unterscheidet zwischen einer politischen und einer sozial-kulturellen Bilanz. Politisch ist zunächst festzuhalten, dass eine Verbindung zu den deutschen Arbeitern nicht gelang und daher niemals irgendein wirklich revolutionäres Szenario entstand. Zwei konkrete Erfolge hält Kraushaar den 68ern zugute: zum einen die Abschwächung der ursprünglich geplanten Notstandsgesetze, ohne jedoch empirische Belege dafür beizubringen, inwiefern die Außerparlamentarische Opposition (APO) beziehungsweise ihre Perzeption konkret auf den Gesetzgebungsprozess einwirkte. Dasselbe gilt für das zweite Aktivum seiner Bilanz: dass nämlich die APO den Einzug der NPD in den Bundestag von 1969 zu verhindern und somit der sozialliberalen Koalition in den Sattel half. Hier schimmert (wie auch bei von Lucke und Aly) eine nostalgische Überhöhung nicht von 1968, sondern des Machtwechsels von 1969 als der Umgründung der Republik, der guten Reform und des guten Kanzlers durch, wie überhaupt die Regierung Brandt zunehmend zum positiven Bezugspunkt einer bundesdeutschen Geschichtsschreibung im Zeichen der Liberalisierung avanciert, in der sich für einen kurzen historischen Moment die Melancholie des linken Traums von einer besseren Welt zu materialisieren schien, den ansonsten das 20. Jahrhundert pulverisiert hat.
In sozial-kultureller Hinsicht sticht der Vergangenheitsbezug der 68er auf den Nationalsozialismus heraus. Er stand allerdings nicht unter originär historisch-moralischen, sondern unter genuin sozialistisch-"antifaschistischen" Vorzeichen. So besaß er in erster Linie eine antikapitalistische und somit zugleich antibürgerliche Stoßrichtung, wie sie für "68" charakteristisch ist. "Bürgerlich" bedeutete dabei in den sechziger Jahren die konkrete Engführung einer in vielem kleinbürgerlich-altfränkischen, hierarchischen Sozialkultur zum einen und ebenso das allgemeine Konzept von Individualität, Freiheit und Pluralismus. Die 68er verfolgten demgegenüber "die Absicht, die als Repressionszusammenhang entlarvte Familie durch andere Kollektivformen zu ersetzen und auf diese Weise mit der Kernzelle der alten Gesellschaft Tabula rasa zu machen" (Kraushaar) - die "experimentelle Erprobung einer neuen Kollektivität" mit dem Anspruch einer neuen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung führte freilich mitten in die Illiberalität einer eben nicht pluralistischen und freiheitlichen Ordnungsvorgabe, in den doktrinären Zwang des "neuen Menschen".
An ebendiesem Punkt lag die totalitäre Versuchung der 68er, und die verbotene Frucht war die der Gewalt. Die RAF war nur der extremste Strang eines stufenweise entgrenzten Prozesses, zu dem nicht zuletzt eine "ausgeprägte ästhetische Selbstinszenierung" von Militanz und Männlichkeit gehörte (Kraushaar) und in dem nicht Mahatma Gandhi, sondern Che Guevara als Idol firmierte. Horst Mahlers Weg von der extremen Linken auf die extreme Rechte etwa folgte, wie Kraushaar herausstellt, einer Spur der Kontinuität von Antiamerikanismus, Antisemitismus und Ablehnung des Rechts- und Verfassungsstaates. Konsequenter noch, wenn auch zu einlinig, zieht Aly diese - schon zeitgenössisch wiederholt angesprochene - deutsche Kontinuität antibürgerlicher Unbedingtheit, wie bereits der provozierende Titel seines Buches andeutet: dass nämlich die 68er "ihren Eltern, den Dreiunddreißigern, auf elende Weise ähnelten. Diese wie jene sahen sich als ,Bewegung', die das ,System' der Republik von der historischen Bühne fegen wollte." Zugleich geht er, auf der Suche nach Erklärungen dann auch wieder nachdenklicher und differenzierter, einen Schritt weiter zur sozialkulturellen Disposition des gesamten, durch Kriege und Katastrophen tief erschütterten Landes, in dem die Auseinandersetzung in weitgehender gegenseitiger Verständnislosigkeit eskalierte: "Die Achtundsechzigerrevolte nahm ihren heillosen Lauf, weil der alten Bundesrepublik der ideelle Kern fehlte, den eine freie Gesellschaft braucht."
Was die Akteure von 1968 in jenem engeren Sinne des Zeitraums zwischen Frühsommer 1967 und Spätherbst 1969 betrifft, so unterscheidet Kraushaar in seinem Bemühen um Differenzierung, wenn auch terminologisch nicht immer ganz konsistent, vor allem zwischen zwei Richtungen: den antiautoritären "Gradualisten" der Gesellschaftsveränderung auf der einen Seite (die freilich auf Rätesozialismus und Anarchismus zielten) und den revolutionären "Maximalisten" auf der anderen, die ihrerseits in eine antiautoritäre und eine autoritäre Richtung zerfielen. Schon dies ist heterogen genug, und ein gemeinsamer Nenner lässt sich kaum finden; selbst die antiautoritäre Zielrichtung stellte nur bedingt ein verbindendes Element dar, galt sie doch von vornherein nicht für die antipluralistischen Marxisten, und auch für den Mainstream um den SDS führte die Reise schnell darüber hinaus, wenn es darum ging, "den Staat abzuschaffen und die bürgerliche Gesellschaft radikal umzuwandeln". Die Unüberbrückbarkeit der unterschiedlichen Positionen trat in aller Deutlichkeit zutage, als mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 das einigende Band der Opposition zerriss; die Maximalisten setzten zum "Sturmlauf gegen die Einrichtungen von Staat und Gesellschaft" an, der die einen in den Terrorismus führte, während die Gradualisten sich an innergesellschaftlichen Veränderungen abarbeiteten.
Was "68" kennzeichnete, war in erster Linie Ambivalenz, wie Kraushaar deutlich herausstellt: Freiheitsbewegung für eine "subjektbestimmte Modernität" einerseits und antibürgerliche Illiberalität im Zeichen des "neuen Menschen" andererseits. Vor diesem Hintergrund kann nicht einfach von einer "Fundamentalliberalisierung" der Bundesrepublik durch die ohnehin dezidiert antiliberalen 68er (mit der Verbalkeule "Scheißliberale") die Rede sein, wie sie von Lucke so emphatisch führt, und auch nicht von einer Beförderung der "Zivilgesellschaft", mit der die antibürgerlichen "68er" nichts zu schaffen hatten, auch nicht als unintendierte Folge intentionalen Handelns.
Denn dafür gibt es wenig empirische Evidenz. Vielmehr verbanden sich "68" und die Folgen mit einem allgemeinen Wertewandel, der schon in den mittleren sechziger Jahren eingesetzt hatte und der sich nun beschleunigte und verstärkte: einem Wandel von Pflichtwerten und der Akzeptanz des Vorgegebenen hin zu Freiheits- und Selbstentfaltungswerten, in emanzipatorischer ebenso wie in hedonistischer Dimension. Ebendies hat aber auch die bürgerlichen Kreise nicht unberührt gelassen. Individuelle Freiheitsspielräume - ein genuin bürgerlich-liberales Anliegen - haben ebenso zugenommen, wie sich die Geschlechterverhältnisse oder die Standards der Kindererziehung von den Festlegungen der bürgerlichen Gesellschaft in den sechziger Jahren entfernt haben. Auch die hedonistische Komponente hat sich allerorten verbreitet, und nicht selten haben gerade diejenigen, die den Werteverfall seit 1968 beklagen, soeben ihren vierten Jahresurlaub gebucht. Zugleich haben auch dort im Zeichen vordringender staatlicher Rundumregulierung genuin bürgerliche Orientierungen wie diejenige der Selbstverantwortung an Bedeutung verloren, wenn beispielsweise den Familien allenthalben kaum mehr zugetraut wird, die Erziehung und Persönlichkeitsbildung ihrer Kinder besser zu leisten als der Staat. In diesen sozialkulturellen Entwicklungen ebenso wie in der Tradition eines antibürgerlichen Misstrauens, das heute in der Tradition staatlichen Kümmerns daherkommt, liegt das eigentliche Thema 40 Jahre nach 68.
Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 253 S., 19,90 [Euro].
Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Propyläen Verlag, Berlin 2008. 335 S., 19,90 [Euro].
Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 96 S., 9,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main