68, immer schon Gegenstand heftiger Kritik von "rechts", ist in den letzten Jahren zur Zielscheibe "linker" Kritik geworden. Die 68erInnen, so wird von einigen Historikern - darunter ehemalige Aktivisten der Bewegung - behauptet, seien allen Legenden zum Trotz in Wahrheit ihren Nazi-Eltern "schrecklich ähnlich" gewesen: in ihrem Denken, in ihrem Handeln und in ihrer verhängnisvollen Neigung zu politisch motivierter Gewalt.Im Spannungsfeld solcher Anwürfe und Kontroversen führte die Autorin Gespräche mit beteiligten ZeitzeugInnen und InitiatorInnen der 68er-Bewegung. Sichtbar werden Kontinuitäten und Brüche im Selbstfindungsprozess einer politischen Generation, zu deren einschneidenden frühen Erlebnissen eine Kindheit im Krieg, die Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit und die Konfrontation mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gehören. Das herrschende Erinnerungstabu in der politischen Kultur der 50er und 60er Jahre und das Schweigen in den Familien über die eigene Beteiligung verdichten sich für die Nachgeborenen zu einem Szenario, in dem der Faschismus nicht als Vergangenheit, sondern in den politischen Auseinandersetzungen und in der Konfrontation mit einer feindseligen Bevölkerung als aktuelle Bedrohung erlebt wird. Dies wird zur explosiven Triebkraft einer Revolte, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte einzigartig ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2017Als Rüdiger Safranski noch Flugblätter warf
Karin Wetterau versucht die Achtundsechziger mit Tiefeninterviews zu erkunden
Schon der Titel dieses Buchs - er ist sozusagen nicht doppelt, sondern dreifach gemoppelt - lässt befürchten, dass Karin Wetterau den Gedanken, um den es ihr geht, nicht richtig zu fassen bekommen wird. "68. Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte" - diese seltsam umständliche und überdeterminierte Zusammenballung schwerer Zeichen passt gut auf ein Buch, das sich nicht entscheiden kann, was es eigentlich sein will. Vorgenommen hatte sich Karin Wetterau offenbar eine Art Seelengeschichte der sogenannten Achtundsechziger-Generation.
Deutlich erkennbares Vorbild sind Heinz Budes Bücher über die Alterskohorte der Flakhelfer und ihre "Deutschen Karrieren" sowie dessen Achtundsechziger-Buch über "Das Altern einer Generation". Die heuristische Methode ist - wie bei Bude - das Tiefeninterview, eine am psychoanalytischen Übertragungsgeschehen geschulte Befragungstechnik, die neben den manifest geäußerten Inhalten auch unbewusste Signale zur Kenntnis nimmt und ausdeutet. Karin Wetteraus psychoanalytisches Interpretationsmodell hat Freuds Theorem vom "Familienroman der Neurotiker" geliefert. Freud hatte beschrieben, dass bestimmte "Typen aus der psychoanalytischen Arbeit" sich Ersatzeltern erträumen, die in ihre unbewussten Interessenlagen besser hineinpassen als die wirklichen. Ein anspruchsvoller methodischer Ansatz, aus dem man viel hätte machen können. Er hat die Autorin jedoch sichtlich überfordert.
Wer sich an die kultische (deutlich von unbewussten Energien gespeiste) Verehrung erinnert, die intellektuellen Leitfiguren wie Adorno oder Herbert Marcuse bis in die achtziger Jahre hinein entgegengebracht wurde, muss den Gedanken einleuchtend finden, dass sich die studentischen Rebellen linke, bezeichnenderweise oft jüdische Vaterfiguren vor allem deshalb innerlich anverwandelt haben, weil ihre leiblichen Eltern aufgrund deren Mittäter- oder Mitläuferschaft in den NS-Jahren nicht nur ihrem politischen Bewusstsein verdächtig, sondern auch ihrem Unterbewussten tief unheimlich waren.
Die Methodik des Tiefeninterviews könnte Aufschlüsse darüber erwarten lassen, wie sich der politisierte Familienroman zahlreicher Einzelner zu einer gesellschaftlichen Bewegung zusammengeschlossen hat. Aber Wetteraus ganz konventionelle Darstellung der Protestbewegungen seit 1968 bleibt von den individuellen und oft sehr schmerzhaften Erfahrungen, die sie in ihren Interviews dokumentiert, seltsam unberührt. Wir erfahren interessante Details - wie zum Beispiel dass Bernd Rabehls Vater im Krieg der "Assistent", wie Wetterau schreibt, Gottfried Benns gewesen ist oder dass der nachmalige Maoist Rüdiger Safranski mit der Verteilung von Flugblättern des "Kuratoriums Unteilbares Deutschland" politisch debütierte - die er dann freilich, weil dieser von den "Heinzelmännchen" bezahlte Studentenjob ihm peinlich war, unverteilt wieder nach Hause gebracht und jahrelang als Notizzettel verwertet hat.
Aber aus den zum Teil sehr interessanten Passagen der Tiefeninterviews, die Karin Wetterau durchgeführt hat, wird in ihrer Interpretation nichts deutlich, was wir nicht aus Fichters und Lönnendonkers Geschichte des SDS, Gerd Koenens Buch über das "Rote Jahrzehnt" oder dasjenige Philipp Felschs über den "Langen Sommer der Theorie" schon längst wüssten. Karin Wetterau hantiert mit ihrem differenzierten psychoanalytischen Besteck wie jemand, der einen Teilchenbeschleuniger dazu benutzt, eine Bierdose aufzumachen.
Unter der überschaubaren Anzahl von Gedanken in diesem Buch, die man nicht oft und trennschärfer anderswo gelesen hat, fallen zwei ins Auge: der tatsächlich oft übersehene Gesichtspunkt, dass viele Achtundsechziger nicht, wie Jean-Luc Godard glaubte, wohlstandsverwöhnte "Kinder von Marx und Coca-Cola" waren, sondern verstörte und um ihre Kindheit betrogene Kriegskinder. Und zweitens der merkwürdige Umstand, dass zwei ihrer einflussreichsten Protagonisten - Horst Mahler und Bernd Rabehl - während der neunziger Jahre publikumswirksam vom extrem linken ins extrem rechte Lager gewechselt sind.
Vermutlich hängen diese beiden Denkwürdigkeiten miteinander zusammen - auf verschlungenen unbewussten Seelenpfaden, die Karin Wetterau auf geradezu dramatische Weise nicht aufzudecken vermag. Gerade die Passagen über Bernd Rabehl, den sie ausführlich interviewt hat, sind ein Paradebeispiel dafür, wie man aus exzellentem Originalton-Material so gut wie überhaupt nichts Lesenswertes machen kann. Geholfen hätte vermutlich Freuds erwähntes Gedankenmodell jener phantasierten Eltern, die den "Familienroman des Neurotikers" bevölkern. Denn die nationale Identität, der sich Rabehl heute verschreibt, ist ebenso eine Reihe von erfundenen Vätern wie der berühmte Profilfries aus Marx, Engels, Lenin und Mao, der die SDS-Plakate und später das Frontispiz der verschiedenen maoistischen Parteizeitungen schmückte.
Aber Freuds Begriff wird nirgends fruchtbar gemacht und taucht nach seinem vielversprechenden Auftritt im Titel des Buches so gut wie überhaupt nicht mehr auf. Statt die skandalöse Wendung Rabehls begreifbar zu machen und damit wirksam zu kritisieren, flüchtet sich Wetterau passagenweise in die Vorstellung, hier seien Missverständnisse am Werk: "Der Begriffswirrwarr macht es möglich. Man spricht dieselbe Sprache, verwendet dieselben Begriffe, meint aber Verschiedenes." Dann wieder empört sie sich im Stil einer Leserbriefschreiberin: "Dass die unvorhergesehene Karriere des linken Antiimperialismus zum rechtsradikalen Ressentiment in der Logik von 68 gelegen habe, muss indes entschieden zurückgewiesen werden."
In der Analyse unbefriedigend - so muss man den inhaltlichen Gehalt dieses schön und mit zahlreichen, zum Teil farbigen Bildern aufgemachten Buches zusammenfassen. Es fällt trotz seines hohen Anspruchs weit hinter die bereits erreichten Standards der Achtundsechziger-Literatur zurück.
STEPHAN WACKWITZ.
Karin Wetterau: "68".
Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2017. 325 S., Abb., br., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karin Wetterau versucht die Achtundsechziger mit Tiefeninterviews zu erkunden
Schon der Titel dieses Buchs - er ist sozusagen nicht doppelt, sondern dreifach gemoppelt - lässt befürchten, dass Karin Wetterau den Gedanken, um den es ihr geht, nicht richtig zu fassen bekommen wird. "68. Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte" - diese seltsam umständliche und überdeterminierte Zusammenballung schwerer Zeichen passt gut auf ein Buch, das sich nicht entscheiden kann, was es eigentlich sein will. Vorgenommen hatte sich Karin Wetterau offenbar eine Art Seelengeschichte der sogenannten Achtundsechziger-Generation.
Deutlich erkennbares Vorbild sind Heinz Budes Bücher über die Alterskohorte der Flakhelfer und ihre "Deutschen Karrieren" sowie dessen Achtundsechziger-Buch über "Das Altern einer Generation". Die heuristische Methode ist - wie bei Bude - das Tiefeninterview, eine am psychoanalytischen Übertragungsgeschehen geschulte Befragungstechnik, die neben den manifest geäußerten Inhalten auch unbewusste Signale zur Kenntnis nimmt und ausdeutet. Karin Wetteraus psychoanalytisches Interpretationsmodell hat Freuds Theorem vom "Familienroman der Neurotiker" geliefert. Freud hatte beschrieben, dass bestimmte "Typen aus der psychoanalytischen Arbeit" sich Ersatzeltern erträumen, die in ihre unbewussten Interessenlagen besser hineinpassen als die wirklichen. Ein anspruchsvoller methodischer Ansatz, aus dem man viel hätte machen können. Er hat die Autorin jedoch sichtlich überfordert.
Wer sich an die kultische (deutlich von unbewussten Energien gespeiste) Verehrung erinnert, die intellektuellen Leitfiguren wie Adorno oder Herbert Marcuse bis in die achtziger Jahre hinein entgegengebracht wurde, muss den Gedanken einleuchtend finden, dass sich die studentischen Rebellen linke, bezeichnenderweise oft jüdische Vaterfiguren vor allem deshalb innerlich anverwandelt haben, weil ihre leiblichen Eltern aufgrund deren Mittäter- oder Mitläuferschaft in den NS-Jahren nicht nur ihrem politischen Bewusstsein verdächtig, sondern auch ihrem Unterbewussten tief unheimlich waren.
Die Methodik des Tiefeninterviews könnte Aufschlüsse darüber erwarten lassen, wie sich der politisierte Familienroman zahlreicher Einzelner zu einer gesellschaftlichen Bewegung zusammengeschlossen hat. Aber Wetteraus ganz konventionelle Darstellung der Protestbewegungen seit 1968 bleibt von den individuellen und oft sehr schmerzhaften Erfahrungen, die sie in ihren Interviews dokumentiert, seltsam unberührt. Wir erfahren interessante Details - wie zum Beispiel dass Bernd Rabehls Vater im Krieg der "Assistent", wie Wetterau schreibt, Gottfried Benns gewesen ist oder dass der nachmalige Maoist Rüdiger Safranski mit der Verteilung von Flugblättern des "Kuratoriums Unteilbares Deutschland" politisch debütierte - die er dann freilich, weil dieser von den "Heinzelmännchen" bezahlte Studentenjob ihm peinlich war, unverteilt wieder nach Hause gebracht und jahrelang als Notizzettel verwertet hat.
Aber aus den zum Teil sehr interessanten Passagen der Tiefeninterviews, die Karin Wetterau durchgeführt hat, wird in ihrer Interpretation nichts deutlich, was wir nicht aus Fichters und Lönnendonkers Geschichte des SDS, Gerd Koenens Buch über das "Rote Jahrzehnt" oder dasjenige Philipp Felschs über den "Langen Sommer der Theorie" schon längst wüssten. Karin Wetterau hantiert mit ihrem differenzierten psychoanalytischen Besteck wie jemand, der einen Teilchenbeschleuniger dazu benutzt, eine Bierdose aufzumachen.
Unter der überschaubaren Anzahl von Gedanken in diesem Buch, die man nicht oft und trennschärfer anderswo gelesen hat, fallen zwei ins Auge: der tatsächlich oft übersehene Gesichtspunkt, dass viele Achtundsechziger nicht, wie Jean-Luc Godard glaubte, wohlstandsverwöhnte "Kinder von Marx und Coca-Cola" waren, sondern verstörte und um ihre Kindheit betrogene Kriegskinder. Und zweitens der merkwürdige Umstand, dass zwei ihrer einflussreichsten Protagonisten - Horst Mahler und Bernd Rabehl - während der neunziger Jahre publikumswirksam vom extrem linken ins extrem rechte Lager gewechselt sind.
Vermutlich hängen diese beiden Denkwürdigkeiten miteinander zusammen - auf verschlungenen unbewussten Seelenpfaden, die Karin Wetterau auf geradezu dramatische Weise nicht aufzudecken vermag. Gerade die Passagen über Bernd Rabehl, den sie ausführlich interviewt hat, sind ein Paradebeispiel dafür, wie man aus exzellentem Originalton-Material so gut wie überhaupt nichts Lesenswertes machen kann. Geholfen hätte vermutlich Freuds erwähntes Gedankenmodell jener phantasierten Eltern, die den "Familienroman des Neurotikers" bevölkern. Denn die nationale Identität, der sich Rabehl heute verschreibt, ist ebenso eine Reihe von erfundenen Vätern wie der berühmte Profilfries aus Marx, Engels, Lenin und Mao, der die SDS-Plakate und später das Frontispiz der verschiedenen maoistischen Parteizeitungen schmückte.
Aber Freuds Begriff wird nirgends fruchtbar gemacht und taucht nach seinem vielversprechenden Auftritt im Titel des Buches so gut wie überhaupt nicht mehr auf. Statt die skandalöse Wendung Rabehls begreifbar zu machen und damit wirksam zu kritisieren, flüchtet sich Wetterau passagenweise in die Vorstellung, hier seien Missverständnisse am Werk: "Der Begriffswirrwarr macht es möglich. Man spricht dieselbe Sprache, verwendet dieselben Begriffe, meint aber Verschiedenes." Dann wieder empört sie sich im Stil einer Leserbriefschreiberin: "Dass die unvorhergesehene Karriere des linken Antiimperialismus zum rechtsradikalen Ressentiment in der Logik von 68 gelegen habe, muss indes entschieden zurückgewiesen werden."
In der Analyse unbefriedigend - so muss man den inhaltlichen Gehalt dieses schön und mit zahlreichen, zum Teil farbigen Bildern aufgemachten Buches zusammenfassen. Es fällt trotz seines hohen Anspruchs weit hinter die bereits erreichten Standards der Achtundsechziger-Literatur zurück.
STEPHAN WACKWITZ.
Karin Wetterau: "68".
Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2017. 325 S., Abb., br., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main