Der reich bebilderte Sammelband vereint rund 50 Beiträge, die das ganze Spektrum der Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beleuchten: Neben resümierenden Einblicken in die allgemeinen Entwicklungen von den 1940er Jahren bis zur Gegenwart wird die Geschichte der verschiedenen Fächer, aber auch Themen wie Skandale und Gewalt an der Universität, die politische Belastung der Professorenschaft nach 1945 oder das Alltagsleben an der Universität aufgegriffen. Ergänzt wird der aufwendig gestaltete Jubiläumsband durch einen ausführlichen Anhang mit Daten, Zahlen und Fakten zur Mainzer Universitätsgeschichte der letzten sieben Jahrzehnte.Mit Grußworten von Georg Krausch, Malu Dreyer, Konrad Wolf und Michael Ebling
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.2021Vier Kilogramm Universitätsgeschichte
MAINZ Die Gutenberg-Uni hat aus Anlass ihres Bestehens seit 75 Jahren eine monumentale Festschrift herausgegeben. Trotz Hochglanzoptik verschweigt sie auch Skandale nicht.
Von Sascha Zoske
Das Paket aus Mainz ist so wuchtig, dass der Empfänger spaßeshalber den Verdacht äußert, es enthalte einen Nachdruck der Gutenberg-Bibel. Ganz so edel beschenkt die Universität, die sich mit dem Namen des Buchdruck-Erfinders schmückt, ihre Freunde dann doch nicht. Aber Gewicht hat das Werk - im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Stolze vier Kilogramm bringt die Festschrift zum fünfundsiebzigjährigen Bestehen der Johannes-Gutenberg-Universität (JGU) auf die Waage, und die Aufsätze, die zwischen den roten Buchdeckeln versammelt sind, bilden zusammen die wohl umfassendste Darstellung ihrer Geschichte, die zurzeit verfügbar ist.
Natürlich enthält die Publikation die üblichen Grußworte, Danksagungen und sonstigen Pflichtübungen, die aus solchem Anlass unvermeidlich sind. Und trotz der glanzvollen Aufmachung funkeln nicht alle Beiträge vor stilistischer Brillanz. Mancher Autor schuf im Bestreben nach akademischer Gravität wahre Perlen der Substantivierungskunst wie die Zwischenüberschrift "Verdichtung politischer Wandlungsaufforderungen: Fraktale Situationen für die JGU". Selbst Interessierte werden sich durch solche Anmoderation nur schwer in einen Überblicksbeitrag zur Hochschulentwicklung seit den Achtzigerjahren hineinsaugen lassen.
Trotzdem hat das Jubiläumsbuch Chancen, nach vollzogener Besprechung nicht unberührt im Regal zu verstauben, sondern gelegentlich wieder zur Hand genommen zu werden. Das ist zum einen der reichen Bebilderung zu verdanken, die sich aus dem Universitätsarchiv und weiteren Quellen speist. Außerdem bietet der maßgeblich durch den Freundesverein und die Universitätsstiftung finanzierte Band dank seines Umfangs Raum für die Behandlung scheinbar randständiger, teils kurioser, aber auch brisanter Aspekte.
Das betrifft zum Beispiel die Bezüge zur Zeit vor 1945. Eine NS-Vergangenheit hat die Universität als Ganzes nicht. Sie wurde am 22. Mai 1946 unter der Aufsicht der französischen Besatzungsmacht eröffnet - eine Neugründung, die an die Tradition der alten Mainzer Universität anknüpfte, welche von 1477 bis 1798 bestanden hatte. Corine Defrance nennt den Aufbau der Hochschule nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem Festschriftbeitrag ein "Meisterstück der französischen ,Umerziehungspolitik'": Die Universität sollte zu einer Lehranstalt der Demokratie werden, gleichzeitig aber auch potentielle Eliten-Bildungsstätte für einen autonomen linksrheinischen Staat, über dessen Gründung die französische Regierung nachgedacht habe.
Ein "Gegenmodell" zu den deutschen Traditionshochschulen ist die Gutenberg-Uni nach Defrances Urteil allerdings nicht geworden. Auch gelangten in Mainz wie andernorts Personen ins Amt, die mehr oder minder schwer durch ihr Verhalten während der NS-Zeit belastet waren. Die Publizistikwissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann etwa hatte 1940 eine Dissertation mit antisemitischen Behauptungen verfasst. Die Kritik daran und an ihren Thesen zur Massenkommunikation verband sich mit Klagen über schlechte Studienbedingungen am Publizistik-Institut und gipfelte 1971 in dessen Besetzung. Was Noelle-Neumanns Schüler Hans Mathias Kepplinger hiervon berichtet, macht deutlich, dass die "Cancel Culture" keine Erfindung der Gegenwart ist: Eine Versammlung der Publizistikstudenten habe damals beschlossen, dass die Institutsgründerin durch eine Pressekampagne "von der Universität vertrieben" werden solle.
Noelle-Neumann blieb, und auch in anderen Fällen entfaltete studentischer Protest im Mainz nicht die Wucht, die er etwa in Frankfurt erreichte. Als einen Höhepunkt der Revolte von 1968 erwähnt Michael Kißener in seinem Aufsatz eine "Sitzblockade vor der JGU mit anschließender Großkundgebung". Der Versuch einiger Aktivisten aus der Nachbarstadt, die braven Mainzer in revolutionären Furor zu versetzen, sei fehlgeschlagen: "Ein Frankfurter Lautsprecherwagen entfernte sich schließlich unter Abspielen der ,Internationale' vom Campus."
In späteren Jahren kam es allerdings auch an der Gutenberg-Uni zu politischer Gewalt. Noch heute erschreckend ist ein Vorfall, an den Martin Göllnitz in seinem Aufsatz erinnert: Im April 1982 stürmten rund 100 Anhänger der iranischen Regierung das Internationale Studentenwohnheim auf dem Campus und prügelten auf angeblich regimekritische Landsleute ein. Unverletzt blieb dagegen vier Jahre später der Publizistikforscher Kepplinger, als Linksextremisten vor dem Büro des vermeintlichen Handlangers der "Imperialisten" eine Bombe detonieren ließen.
Nicht zum üblichen hohen Festschrift-Ton passt der Abschnitt, dem Stefanie Martin die Überschrift "Eine Geschichte der JGU in Skandalen" gegeben hat. Vom Radium-Diebstahl aus dem Max-Planck-Institut 1951 über die illegale Vergabe von Medizinstudienplätzen 1981 bis zum qualvollen Tod der mit Medikamenten vollgepumpten Siebenkämpferin Birgit Dressel im Uniklinikum 1987 reicht die Reihe der Vorfälle, auf deren Erwähnung konventionelle Laudatoren aus Anlass eines Jubiläums wohl verzichtet hätten. Es ehrt die Verantwortlichen, dass sie anders entschieden: Platz, um die Großtaten der Universität in Forschung und Lehre zu rühmen, war auf den übrigen 700 Hochglanzseiten genug.
"75 Jahre Johannes Gutenberg-Universität Mainz - Universität in der demokratischen Gesellschaft". Verlag Schnell + Steiner, 784 Seiten, 50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
MAINZ Die Gutenberg-Uni hat aus Anlass ihres Bestehens seit 75 Jahren eine monumentale Festschrift herausgegeben. Trotz Hochglanzoptik verschweigt sie auch Skandale nicht.
Von Sascha Zoske
Das Paket aus Mainz ist so wuchtig, dass der Empfänger spaßeshalber den Verdacht äußert, es enthalte einen Nachdruck der Gutenberg-Bibel. Ganz so edel beschenkt die Universität, die sich mit dem Namen des Buchdruck-Erfinders schmückt, ihre Freunde dann doch nicht. Aber Gewicht hat das Werk - im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Stolze vier Kilogramm bringt die Festschrift zum fünfundsiebzigjährigen Bestehen der Johannes-Gutenberg-Universität (JGU) auf die Waage, und die Aufsätze, die zwischen den roten Buchdeckeln versammelt sind, bilden zusammen die wohl umfassendste Darstellung ihrer Geschichte, die zurzeit verfügbar ist.
Natürlich enthält die Publikation die üblichen Grußworte, Danksagungen und sonstigen Pflichtübungen, die aus solchem Anlass unvermeidlich sind. Und trotz der glanzvollen Aufmachung funkeln nicht alle Beiträge vor stilistischer Brillanz. Mancher Autor schuf im Bestreben nach akademischer Gravität wahre Perlen der Substantivierungskunst wie die Zwischenüberschrift "Verdichtung politischer Wandlungsaufforderungen: Fraktale Situationen für die JGU". Selbst Interessierte werden sich durch solche Anmoderation nur schwer in einen Überblicksbeitrag zur Hochschulentwicklung seit den Achtzigerjahren hineinsaugen lassen.
Trotzdem hat das Jubiläumsbuch Chancen, nach vollzogener Besprechung nicht unberührt im Regal zu verstauben, sondern gelegentlich wieder zur Hand genommen zu werden. Das ist zum einen der reichen Bebilderung zu verdanken, die sich aus dem Universitätsarchiv und weiteren Quellen speist. Außerdem bietet der maßgeblich durch den Freundesverein und die Universitätsstiftung finanzierte Band dank seines Umfangs Raum für die Behandlung scheinbar randständiger, teils kurioser, aber auch brisanter Aspekte.
Das betrifft zum Beispiel die Bezüge zur Zeit vor 1945. Eine NS-Vergangenheit hat die Universität als Ganzes nicht. Sie wurde am 22. Mai 1946 unter der Aufsicht der französischen Besatzungsmacht eröffnet - eine Neugründung, die an die Tradition der alten Mainzer Universität anknüpfte, welche von 1477 bis 1798 bestanden hatte. Corine Defrance nennt den Aufbau der Hochschule nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem Festschriftbeitrag ein "Meisterstück der französischen ,Umerziehungspolitik'": Die Universität sollte zu einer Lehranstalt der Demokratie werden, gleichzeitig aber auch potentielle Eliten-Bildungsstätte für einen autonomen linksrheinischen Staat, über dessen Gründung die französische Regierung nachgedacht habe.
Ein "Gegenmodell" zu den deutschen Traditionshochschulen ist die Gutenberg-Uni nach Defrances Urteil allerdings nicht geworden. Auch gelangten in Mainz wie andernorts Personen ins Amt, die mehr oder minder schwer durch ihr Verhalten während der NS-Zeit belastet waren. Die Publizistikwissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann etwa hatte 1940 eine Dissertation mit antisemitischen Behauptungen verfasst. Die Kritik daran und an ihren Thesen zur Massenkommunikation verband sich mit Klagen über schlechte Studienbedingungen am Publizistik-Institut und gipfelte 1971 in dessen Besetzung. Was Noelle-Neumanns Schüler Hans Mathias Kepplinger hiervon berichtet, macht deutlich, dass die "Cancel Culture" keine Erfindung der Gegenwart ist: Eine Versammlung der Publizistikstudenten habe damals beschlossen, dass die Institutsgründerin durch eine Pressekampagne "von der Universität vertrieben" werden solle.
Noelle-Neumann blieb, und auch in anderen Fällen entfaltete studentischer Protest im Mainz nicht die Wucht, die er etwa in Frankfurt erreichte. Als einen Höhepunkt der Revolte von 1968 erwähnt Michael Kißener in seinem Aufsatz eine "Sitzblockade vor der JGU mit anschließender Großkundgebung". Der Versuch einiger Aktivisten aus der Nachbarstadt, die braven Mainzer in revolutionären Furor zu versetzen, sei fehlgeschlagen: "Ein Frankfurter Lautsprecherwagen entfernte sich schließlich unter Abspielen der ,Internationale' vom Campus."
In späteren Jahren kam es allerdings auch an der Gutenberg-Uni zu politischer Gewalt. Noch heute erschreckend ist ein Vorfall, an den Martin Göllnitz in seinem Aufsatz erinnert: Im April 1982 stürmten rund 100 Anhänger der iranischen Regierung das Internationale Studentenwohnheim auf dem Campus und prügelten auf angeblich regimekritische Landsleute ein. Unverletzt blieb dagegen vier Jahre später der Publizistikforscher Kepplinger, als Linksextremisten vor dem Büro des vermeintlichen Handlangers der "Imperialisten" eine Bombe detonieren ließen.
Nicht zum üblichen hohen Festschrift-Ton passt der Abschnitt, dem Stefanie Martin die Überschrift "Eine Geschichte der JGU in Skandalen" gegeben hat. Vom Radium-Diebstahl aus dem Max-Planck-Institut 1951 über die illegale Vergabe von Medizinstudienplätzen 1981 bis zum qualvollen Tod der mit Medikamenten vollgepumpten Siebenkämpferin Birgit Dressel im Uniklinikum 1987 reicht die Reihe der Vorfälle, auf deren Erwähnung konventionelle Laudatoren aus Anlass eines Jubiläums wohl verzichtet hätten. Es ehrt die Verantwortlichen, dass sie anders entschieden: Platz, um die Großtaten der Universität in Forschung und Lehre zu rühmen, war auf den übrigen 700 Hochglanzseiten genug.
"75 Jahre Johannes Gutenberg-Universität Mainz - Universität in der demokratischen Gesellschaft". Verlag Schnell + Steiner, 784 Seiten, 50 Euro.
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