A terrifying tale about good and evil and the meaning of human freedom, A Clockwork Orange became an instant classic when it was published in 1962 and has remained so ever since. Anthony Burgess takes us on a journey to a nightmarish future where sociopathic criminals rule the night. Brilliantly told in harsh invented slang by the novel's main character and merciless droog, fifteen-year-old Alex, this influential novel is now available in a student edition. The Norton Critical Edition of A Clockwork Orange is based on the first British edition and includes Burgess's original final chapter. It is accompanied by Mark Rawlinson's preface, explanatory annotations, and textual notes. A glossary of the Russian-origin terms that inspired Alex's dialect is provided to illustrate the process by which Burgess arrived at the distinctive style of this novel. "Backgrounds and Contexts" presents a wealth of materials chosen by the editor to enrich the reader's understanding of this unforgettable work, many of them by Burgess himself. Burgess's views on writing A Clockwork Orange, its philosophical issues, and the debates over the British edition versus the American edition and the novel versus the film adaptation are all included. Related writings that speak to some of the novel's central issues-youthful style, behavior modification, and art versus morality-are provided by Paul Rock and Stanley Cohen, B. F. Skinner, John R. Platt, Joost A. M. Meerloo, William Sargent, and George Steiner. "Criticism" is divided into two sections, one addressing the novel and the other Stanley Kubrick's film version. Five major reviews of the novel are reprinted along with a wide range of scholarly commentary, including, among others, David Lodge on the American reader; Julie Carson on linguistic invention; Zinovy Zinik on Burgess and the Russian language; Geoffrey Sharpless on education, masculinity, and violence; Shirley Chew on circularity; Patrick Parrinder on dystopias; Robbie B. H. Goh on language and social control; and Steven M. Cahn on freedom. A thorough analysis of the film adaptation of A Clockwork Orange is provided in reviews by Vincent Canby, Pauline Kael, and Christopher Ricks; in Philip Strick and Penelope Houston's interview with Stanley Kubrick; and in interpretive essays by Don Daniels, Alexander Walker, Philip French, Thomas Elsaesser, Tom Dewe Mathews, and Julian Petley. A Selected Bibliography is also included.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2014Vorhang auf für Alex und seine Wetterauer Horrorshow
"Clockwork Orange" von Anthony Burgess ist einer der berühmtesten und einflussreichsten Romane des zwanzigsten Jahrhunderts. Jetzt erscheint er in neuer Übersetzung und ruft Erinnerungen an eine wilde deutsche Jugend in seinem Zeichen wach.
Von Andreas Maier
Man kann die Handlung des Romans "Clockwork Orange" von Anthony Burgess mit guten Gründen voraussetzen, abgesehen von einem vergleichsweise unbekannten Schlusskapitel, das aus ebenfalls guten Gründen in manchen Versionen der Handlung entfällt. Dennoch ist es nicht ganz leicht, über dieses Buch zu schreiben, und die Gründe dafür sind wiederum einigermaßen erheblich.
Vergegenwärtigen wir uns erst einmal Menschen, die mit Alex, dem brutalen Schläger, aufgewachsen sind und in den siebziger, achtziger Jahren großes Interesse an ihm entwickelten bis hin zur kultischen Verehrung seiner Person, seines Umfeldes und seiner Sprache. Besonders vor Augen habe ich einen ehemaligen Schulkollegen, der wie ich in einer hessischen Kleinstadt aufgewachsen ist und dessen Vater einen HiFi-Laden betrieb. Er war für mich zu den damaligen Zeiten immer der prototypische Alex-Fan.
Wir waren damals mehr oder minder ungefährlich. Das Gefährlichste, was wir damals trieben, waren, würde ich sagen, unsere besoffenen Autofahrten. Auch ich stand einmal auf einem Wetterauer Acker und wusste nicht mehr, wo ist jetzt links, wo ist rechts, und wo bin ich überhaupt gerade? Diese Autofahrt ist mir auch deshalb im Gedächtnis geblieben, weil ein Freund von mir mit im Wagen saß, der sein Auto vor dem Haus meiner Eltern geparkt hatte und der ebenso stockbesoffen war wie ich (wir waren Schüler). Die ganze Zeit, während ich heimfuhr, wiederholte ich meine Ansprache an ihn: "Du musst mich unbedingt davon abhalten, nachher in die Garage zu fahren, das kriege ich nicht mehr hin." Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, war, dass das Automobil in der Garage stand und ich gerade die Garagentür herunterließ. "Wer hat das Auto da reingefahren?", fragte ich. "Du", sagte mein Freund. Darauf stieg er, immer noch ebenso blau wie ich, in sein Auto und fuhr noch bis ins übernächste Dorf. Manchmal gab es auch Wettrennen. Hin und wieder Schlägereien vor Kneipen, aber das hatte mit uns meist nichts zu tun. Einmal fuhr ich mit dem Audi meiner Mutter im Hintergarten herum, da, wo früher unsere Apfelbäume gestanden hatten. Das war etwa unser Gefährlichkeitsquotient.
Man traf sich nachts, es war die Zeit der aufblühenden Videorecorder, die Zeit von Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis", von Dire Straits, von "Krieg der Sterne" und, zumindest was uns Hessen angeht, die Zeit von Holger Börner und der Startbahn West. Der betreffende Wetterauer, den ich vor Augen habe, hatte ein großes Faible für Alex und seine Gang. Alex zieht ja bekanntermaßen mit seinen Jungs (Pete, Georgie und Dim) durch die Gegend und hinterlässt überall eine Spur der Verwüstung, Gewalt und Brutalität, als da wären: Diebstahl, Schlägereien, gefährliche Körperverletzungen mit Stiefeln und Messern, Vergewaltigungen, teils Gruppenvergewaltigungen der Ehepartnerin vor den Augen des Ehepartners, alles mit einer gewissen Lust und Lässigkeit ausgeführt, die im Buch etwas geradezu Herablassend-Elegantes hat. Alex ruht bei seinen Gewalttaten völlig in sich, und wie bei allem, was in sich ruht, geht auch bei ihm diese gewisse Eleganz und Leichtigkeit damit einher, wie wenn Gene Kelly seinen Regenschirm hebt oder Charles Chaplin an einer Blume riecht. Das wird in jedem Satz des Buches spürbar.
Meinen Wetterauer Kumpel aber interessierte offenbar mehr das bloße Ausmaß blutiger und sexueller Gewalt. Es schockte irgendwie (ein Ausdruck von damals). Später wird Alex bekanntlich jener Aversionstherapie unterzogen, von der er ziemlich schnodderig erzählt, übrigens so schnodderig, wie es nur in einem Buch möglich ist und wie man es in einem Film niemals wiedergeben könnte. Auch dem wohnt eine gewisse Eleganz und Größe inne: Zwar wird Alex nach seiner Therapie, und natürlich auch schon während ihr andauernd kotzübel, wenn er a) Brutalität und b) Sexuelles sieht oder c) Beethoven hört, aber er fährt unbeirrt damit fort, in seiner Nadsat-Sprache davon zu berichten, ebenso wie von seinem früheren und jetzt schmerzlich vermissten Gewaltleben, was eine meisterliche Kontinuität der Person bewahrt. Tatsächlich verändert sich Alex durch jene Therapie nämlich überhaupt nicht, und die ihm antrainierten Reflexe bleiben in seiner Person absolute Fremdkörper.
Nadsat, das sollte erklärt werden. Mein Wetterauer Bekannter kannte diesen Ausdruck nicht, er kannte nur einige Ausdrücke aus diesem Slang (Nadsat ist ein von Burgess erfundener, bei gewissen Leuten ziemlich berühmt gewordener Jugendslang). "Tolschocken" für prügeln etwa war so ein Wort oder jenes andere Wort "horrorshow", das wie viele Ausdrücke des Nadsat russische Wurzeln hat, auch wenn man es ihm so erst mal nicht ansieht. Aber wenn man es ausspricht, nähert es sich doch bedenklich dem russischen choroscho an, was eigentlich "gut" bedeutet. "Er kann sehr gut sprechen" würde auf Nadsat etwa lauten: "Er kann voll horrorshow goworitzen."
In der neuen Übersetzung, die Ulrich Blumenbach von "Clockwork Orange" gemacht hat, findet sich dankenswerterweise ein Glossar. Der Wortschatz ist übersichtlich und umfasst, wenn ich richtig zähle, 226 Worte, davon werden schätzungsweise dreißig, vierzig durchgängig gebraucht. Man lernt das schnell und kann das auch bald sprechen. Das geht sozusagen "skorri Slowo für Slowo in den Gulliver", da muss man kein "horrorshow"-Sprachtalent sein.
Mein Wetterauer Schulkollege kannte, wie gesagt, nur einige wenige Ausdrücke aus dem Nadsat, was ich im Nachhinein schade finde, denn er hatte wirklich nur die "horrorshowsten" mitbekommen, aber eben nicht, dass jemand da einen ganzen Text in dieser Sprache liefert und nicht nur sehr markante, herausstechende Wortspitzen beim allgemeinen Zutreten und Kaputtficken. Alex ist übrigens fünfzehn, nicht siebzehn oder neunzehn oder etwa noch älter, und die Mädchen, die er unter Drogen setzt und dann vergewaltigt, sind teils erst zehn Jahre alt. Alles das scheint in einer unbestimmten, allerdings ziemlich nahe liegenden Zukunft zu spielen.
Alex' Horrorshow war stets ein Geheimtip. Das konsumierte man nicht zu Hause auf dem Bett liegend, wenn die Mutter hereinkam, dafür traf man sich dann eben eher, wenn die Eltern schon schliefen. Mein Wetterauer Freund reagierte auf den Mittelteil der Handlung, als Alex jener berüchtigten Aversionstherapie unterzogen wird, übrigens gar nicht anders als auf den ersten Teil mit seinen detaillierten Misshandlungen durch Alex' Gang. Ich habe neulich in einem Roman darzustellen versucht, wie seltsam angezogen-abgestoßen die Reaktionen einer gewissen Gruppe von acht-, neunjährigen Mädchen war, wenn sie in meiner Kindheit ihre diversen Entblößungs- und Einsteckspiele spielten. Sie fanden es "spannend", dann wieder riefen sie begeistert aus: "Wie eklig!" Mein Wetterauer Freund reagierte auf die einzelnen Handlungsteile von "Clockwork Orange" ebenso: Irgendetwas zog ihn an, gerade weil es so abstoßend war. Das dürfte heute auch einigen Leuten bei Tarantino so gehen.
Nach wie vor könnte man an die moralisierenden Willensfreiheit-Diskurse des Buches viele Fußnoten hängen. Wäre es nicht so brutal, wäre es die ideale Schullektüre. Das Buch beinhaltet ein ausführliches Plädoyer für die Willensfreiheit auch des Bösen. Spätestens als Alex auf medizinischem Wege unfähig zum Bösen gemacht wird, gilt ihm ja die Teilnahme jedweden Lesers. Allerdings verhält es sich mit jener Unfreiheit etwas komplizierter. Sie ist bloß mechanischer Natur und berührt weder Alex' Seele noch seine (inexistenten) Moralvorstellungen. Unsere Teilnahme beim Lesen gilt also jemandem, der nach wie vor immer noch gern zutreten und kaputtficken würde, aber nicht kann, weil ihm jedesmal übel wird, wenn er nur daran denkt. Alex lässt sich sogar selbst in die Fresse hauen, weil das immer noch besser ist als die Übelkeit, die sich todsicher einstellen wird, wenn er daran denkt, zurückzuschlagen. Übrigens ist der Aversionstherapie-Teil des Buches umwerfend komisch. Das ganze Buch - und gerade das Orgiastisch-Brutale an ihm - hat etwas Karikaturistisches.
Der Zustand von Alex während und nach der Therapie hat nicht an Willensfreiheit eingebüßt, diese gedankliche Freiheit wird nur sofort von einem Reflex bestraft. Man könnte auch die ganze Zeit einen Aufseher neben ihm herlaufen lassen, der ihn mit Elektroschocks traktiert, kaum unternimmt er etwas "Böses". Alex hat genauso viel inneren freien Willen wie ein Sklave. Sein Zustand ist eher der der Rebellion, er ist nicht zu einem lobotomierten Idioten geworden wie McMurphy am Ende von "Einer flog über das Kuckucksnest".
Wie gesagt, man könnte viele Fußnoten an das erörterte Problem Willensfreiheit/Konditionierung hängen bei der Neu-Lektüre. Gewalt in Straßenbahnstationen? Immer brutaler werdende Jugendliche? Alles läuft immer mehr aus dem Ruder? Bengalos im Stadion? Kann uns Burgess-Lektüre da weiterhelfen? Ich habe darauf keinerlei Antwort, weil ich mindestens schon nicht weiß, inwieweit heutzutage tatsächlich etwas brutaler geworden ist als früher. Handelt es sich um ansteigende Phänomene? Eines weiß ich: Wenn demnächst wieder jemand in einer U-Bahn-Station alexmäßig tot- oder halbtotgetreten wird, werde ich - auch wenn ich keinen Fernseher habe - die Bilder davon garantiert in meiner Stadt Frankfurt am Main auf jedem Boulevardblatt an jedem Kiosk und auf jedem Bildschirm in jeder U-Bahn-Station massenhaft vervielfältigt sehen. Als sei die Öffentlichkeit süchtig nach so etwas oder solle süchtig danach gemacht werden (womit wir eher bei Orwells "1984" und seinen Propagandamethoden wären).
Andere mögliche Fußnote zu Burgess' Roman: Schule. Die ihretwegen verabreichten Medikamente. Dieses seltsame Menschenbild, das in den letzten zwanzig Jahren entstanden ist und sich nach jenem angeblichen Pisa-Schock (von dem ich bis heute nicht weiß, was er mit uns als Menschen zu tun hat), noch um so mehr beschleunigt hat. Der Begriff "Funktionieren" ist immer mehr in den Vordergrund gerückt. Alex verabreichen sie ja auch Medikamente.
Zurück zu meinem Wetterauer. Aufgefallen ist er sowieso nie als problematisch, er hat studiert, hat mit den Jahren eine Vorliebe für alte Bausubstanz entwickelt, kennt sich inzwischen sehr gut mit den Gesteinsschichten unseres Landes aus, und er ist, wie übrigens ich auch, zu einem großen, zu einem echt horrorshowmäßigen Verehrer von Edgar Reitz und seinen "Heimat"-Filmen geworden. Ja, das ist und kann Kunst: Als Liebhaber von Alex zeigte mein Wetterauer Kollege nie das geringste Anzeichen von Alex.
Natürlich habe ich bis jetzt offengelassen, ob mein Wetterauer tatsächlich das Buch von Burgess gelesen hat. Wäre ich Anthony Burgess selbst und würde gerade diesen Artikel lesen, dann würde ich ihn - konditioniert wie Alex - natürlich nur auf diesen einen Punkt hin lesen. Nämlich ob es hier tatsächlich um das Buch geht. Oder doch nur wieder um den Film. Burgess hat verständlicherweise darunter gelitten, dass der Film so berühmt geworden ist. Also, die Wahrheit ist natürlich: Mein Wetterauer hat nie ein Wort Burgess gelesen. Er hat immer nur den Film geschaut. Schade. Das Buch hat andere Qualitäten, siehe Mittelteil, und es hat nicht weniger Drive als Kubricks Film. Größere Berühmtheit muss ja nichts über größere Qualität sagen.
Allerdings macht der Film eines besser als das Buch. Er endet an der besseren Stelle: "Ich war wahrhaftig geheilt." So wird "Clockwork Orange" auf immer und ewig für meinen Wetterauer schließen: mit dem wiederhergestellten, gewaltbereiten Alex. In der Originalversion dagegen wird auf den letzten zehn Seiten aus Alex plötzlich jemand, der sich in genau so etwas wie meinen Wetterauer verwandelt. Er malt sich aus, neuerdings vielleicht einfach nur dazusitzen in einem schönen Eigenheim mit Frau und seine Ruhe zu genießen und die ganze Horrorshow seinzulassen. Als Begründung gibt er an, er werde eben langsam älter (!).
Dann sagt er noch, quasi als ein "Und was lernen wir daraus?": Ich kann später meine Kinder so gut erziehen, wie ich will, und diese ihre auch, aber sie werden wie ich sein, wenn sie jung sind, und das kann keine Macht auf der Welt ändern. Das hätte ich mir von meinem Lektor aus sehr guten Gründen wegstreichen lassen. Burgess war sich über seinen Schluss übrigens selbst unsicher und notierte in einer Fassung am Rand, ob der Roman nicht lieber da enden sollte, wo später Kubrick den Film enden ließ. Und warum?
Schauen wir auf meinen Wetterauer: Er war nie Alex, und da er nie einer war, braucht der diesen alles zurechtrückenden Schluss auch nicht. Alex muss nicht resozialisiert werden, auch nicht auf natürlichem Weg, durch Altern. Alex ist schlicht und einfach Kunst. Ich will ja auch über das weitere Schicksal der Mona Lisa nichts wissen. Mir reicht das Bild. Und das hat Stanley Kubrick haargenau kapiert. Und Anthony Burgess mindestens geahnt.
Anthony Burgess: "Clockwork Orange". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 256 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Clockwork Orange" von Anthony Burgess ist einer der berühmtesten und einflussreichsten Romane des zwanzigsten Jahrhunderts. Jetzt erscheint er in neuer Übersetzung und ruft Erinnerungen an eine wilde deutsche Jugend in seinem Zeichen wach.
Von Andreas Maier
Man kann die Handlung des Romans "Clockwork Orange" von Anthony Burgess mit guten Gründen voraussetzen, abgesehen von einem vergleichsweise unbekannten Schlusskapitel, das aus ebenfalls guten Gründen in manchen Versionen der Handlung entfällt. Dennoch ist es nicht ganz leicht, über dieses Buch zu schreiben, und die Gründe dafür sind wiederum einigermaßen erheblich.
Vergegenwärtigen wir uns erst einmal Menschen, die mit Alex, dem brutalen Schläger, aufgewachsen sind und in den siebziger, achtziger Jahren großes Interesse an ihm entwickelten bis hin zur kultischen Verehrung seiner Person, seines Umfeldes und seiner Sprache. Besonders vor Augen habe ich einen ehemaligen Schulkollegen, der wie ich in einer hessischen Kleinstadt aufgewachsen ist und dessen Vater einen HiFi-Laden betrieb. Er war für mich zu den damaligen Zeiten immer der prototypische Alex-Fan.
Wir waren damals mehr oder minder ungefährlich. Das Gefährlichste, was wir damals trieben, waren, würde ich sagen, unsere besoffenen Autofahrten. Auch ich stand einmal auf einem Wetterauer Acker und wusste nicht mehr, wo ist jetzt links, wo ist rechts, und wo bin ich überhaupt gerade? Diese Autofahrt ist mir auch deshalb im Gedächtnis geblieben, weil ein Freund von mir mit im Wagen saß, der sein Auto vor dem Haus meiner Eltern geparkt hatte und der ebenso stockbesoffen war wie ich (wir waren Schüler). Die ganze Zeit, während ich heimfuhr, wiederholte ich meine Ansprache an ihn: "Du musst mich unbedingt davon abhalten, nachher in die Garage zu fahren, das kriege ich nicht mehr hin." Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, war, dass das Automobil in der Garage stand und ich gerade die Garagentür herunterließ. "Wer hat das Auto da reingefahren?", fragte ich. "Du", sagte mein Freund. Darauf stieg er, immer noch ebenso blau wie ich, in sein Auto und fuhr noch bis ins übernächste Dorf. Manchmal gab es auch Wettrennen. Hin und wieder Schlägereien vor Kneipen, aber das hatte mit uns meist nichts zu tun. Einmal fuhr ich mit dem Audi meiner Mutter im Hintergarten herum, da, wo früher unsere Apfelbäume gestanden hatten. Das war etwa unser Gefährlichkeitsquotient.
Man traf sich nachts, es war die Zeit der aufblühenden Videorecorder, die Zeit von Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis", von Dire Straits, von "Krieg der Sterne" und, zumindest was uns Hessen angeht, die Zeit von Holger Börner und der Startbahn West. Der betreffende Wetterauer, den ich vor Augen habe, hatte ein großes Faible für Alex und seine Gang. Alex zieht ja bekanntermaßen mit seinen Jungs (Pete, Georgie und Dim) durch die Gegend und hinterlässt überall eine Spur der Verwüstung, Gewalt und Brutalität, als da wären: Diebstahl, Schlägereien, gefährliche Körperverletzungen mit Stiefeln und Messern, Vergewaltigungen, teils Gruppenvergewaltigungen der Ehepartnerin vor den Augen des Ehepartners, alles mit einer gewissen Lust und Lässigkeit ausgeführt, die im Buch etwas geradezu Herablassend-Elegantes hat. Alex ruht bei seinen Gewalttaten völlig in sich, und wie bei allem, was in sich ruht, geht auch bei ihm diese gewisse Eleganz und Leichtigkeit damit einher, wie wenn Gene Kelly seinen Regenschirm hebt oder Charles Chaplin an einer Blume riecht. Das wird in jedem Satz des Buches spürbar.
Meinen Wetterauer Kumpel aber interessierte offenbar mehr das bloße Ausmaß blutiger und sexueller Gewalt. Es schockte irgendwie (ein Ausdruck von damals). Später wird Alex bekanntlich jener Aversionstherapie unterzogen, von der er ziemlich schnodderig erzählt, übrigens so schnodderig, wie es nur in einem Buch möglich ist und wie man es in einem Film niemals wiedergeben könnte. Auch dem wohnt eine gewisse Eleganz und Größe inne: Zwar wird Alex nach seiner Therapie, und natürlich auch schon während ihr andauernd kotzübel, wenn er a) Brutalität und b) Sexuelles sieht oder c) Beethoven hört, aber er fährt unbeirrt damit fort, in seiner Nadsat-Sprache davon zu berichten, ebenso wie von seinem früheren und jetzt schmerzlich vermissten Gewaltleben, was eine meisterliche Kontinuität der Person bewahrt. Tatsächlich verändert sich Alex durch jene Therapie nämlich überhaupt nicht, und die ihm antrainierten Reflexe bleiben in seiner Person absolute Fremdkörper.
Nadsat, das sollte erklärt werden. Mein Wetterauer Bekannter kannte diesen Ausdruck nicht, er kannte nur einige Ausdrücke aus diesem Slang (Nadsat ist ein von Burgess erfundener, bei gewissen Leuten ziemlich berühmt gewordener Jugendslang). "Tolschocken" für prügeln etwa war so ein Wort oder jenes andere Wort "horrorshow", das wie viele Ausdrücke des Nadsat russische Wurzeln hat, auch wenn man es ihm so erst mal nicht ansieht. Aber wenn man es ausspricht, nähert es sich doch bedenklich dem russischen choroscho an, was eigentlich "gut" bedeutet. "Er kann sehr gut sprechen" würde auf Nadsat etwa lauten: "Er kann voll horrorshow goworitzen."
In der neuen Übersetzung, die Ulrich Blumenbach von "Clockwork Orange" gemacht hat, findet sich dankenswerterweise ein Glossar. Der Wortschatz ist übersichtlich und umfasst, wenn ich richtig zähle, 226 Worte, davon werden schätzungsweise dreißig, vierzig durchgängig gebraucht. Man lernt das schnell und kann das auch bald sprechen. Das geht sozusagen "skorri Slowo für Slowo in den Gulliver", da muss man kein "horrorshow"-Sprachtalent sein.
Mein Wetterauer Schulkollege kannte, wie gesagt, nur einige wenige Ausdrücke aus dem Nadsat, was ich im Nachhinein schade finde, denn er hatte wirklich nur die "horrorshowsten" mitbekommen, aber eben nicht, dass jemand da einen ganzen Text in dieser Sprache liefert und nicht nur sehr markante, herausstechende Wortspitzen beim allgemeinen Zutreten und Kaputtficken. Alex ist übrigens fünfzehn, nicht siebzehn oder neunzehn oder etwa noch älter, und die Mädchen, die er unter Drogen setzt und dann vergewaltigt, sind teils erst zehn Jahre alt. Alles das scheint in einer unbestimmten, allerdings ziemlich nahe liegenden Zukunft zu spielen.
Alex' Horrorshow war stets ein Geheimtip. Das konsumierte man nicht zu Hause auf dem Bett liegend, wenn die Mutter hereinkam, dafür traf man sich dann eben eher, wenn die Eltern schon schliefen. Mein Wetterauer Freund reagierte auf den Mittelteil der Handlung, als Alex jener berüchtigten Aversionstherapie unterzogen wird, übrigens gar nicht anders als auf den ersten Teil mit seinen detaillierten Misshandlungen durch Alex' Gang. Ich habe neulich in einem Roman darzustellen versucht, wie seltsam angezogen-abgestoßen die Reaktionen einer gewissen Gruppe von acht-, neunjährigen Mädchen war, wenn sie in meiner Kindheit ihre diversen Entblößungs- und Einsteckspiele spielten. Sie fanden es "spannend", dann wieder riefen sie begeistert aus: "Wie eklig!" Mein Wetterauer Freund reagierte auf die einzelnen Handlungsteile von "Clockwork Orange" ebenso: Irgendetwas zog ihn an, gerade weil es so abstoßend war. Das dürfte heute auch einigen Leuten bei Tarantino so gehen.
Nach wie vor könnte man an die moralisierenden Willensfreiheit-Diskurse des Buches viele Fußnoten hängen. Wäre es nicht so brutal, wäre es die ideale Schullektüre. Das Buch beinhaltet ein ausführliches Plädoyer für die Willensfreiheit auch des Bösen. Spätestens als Alex auf medizinischem Wege unfähig zum Bösen gemacht wird, gilt ihm ja die Teilnahme jedweden Lesers. Allerdings verhält es sich mit jener Unfreiheit etwas komplizierter. Sie ist bloß mechanischer Natur und berührt weder Alex' Seele noch seine (inexistenten) Moralvorstellungen. Unsere Teilnahme beim Lesen gilt also jemandem, der nach wie vor immer noch gern zutreten und kaputtficken würde, aber nicht kann, weil ihm jedesmal übel wird, wenn er nur daran denkt. Alex lässt sich sogar selbst in die Fresse hauen, weil das immer noch besser ist als die Übelkeit, die sich todsicher einstellen wird, wenn er daran denkt, zurückzuschlagen. Übrigens ist der Aversionstherapie-Teil des Buches umwerfend komisch. Das ganze Buch - und gerade das Orgiastisch-Brutale an ihm - hat etwas Karikaturistisches.
Der Zustand von Alex während und nach der Therapie hat nicht an Willensfreiheit eingebüßt, diese gedankliche Freiheit wird nur sofort von einem Reflex bestraft. Man könnte auch die ganze Zeit einen Aufseher neben ihm herlaufen lassen, der ihn mit Elektroschocks traktiert, kaum unternimmt er etwas "Böses". Alex hat genauso viel inneren freien Willen wie ein Sklave. Sein Zustand ist eher der der Rebellion, er ist nicht zu einem lobotomierten Idioten geworden wie McMurphy am Ende von "Einer flog über das Kuckucksnest".
Wie gesagt, man könnte viele Fußnoten an das erörterte Problem Willensfreiheit/Konditionierung hängen bei der Neu-Lektüre. Gewalt in Straßenbahnstationen? Immer brutaler werdende Jugendliche? Alles läuft immer mehr aus dem Ruder? Bengalos im Stadion? Kann uns Burgess-Lektüre da weiterhelfen? Ich habe darauf keinerlei Antwort, weil ich mindestens schon nicht weiß, inwieweit heutzutage tatsächlich etwas brutaler geworden ist als früher. Handelt es sich um ansteigende Phänomene? Eines weiß ich: Wenn demnächst wieder jemand in einer U-Bahn-Station alexmäßig tot- oder halbtotgetreten wird, werde ich - auch wenn ich keinen Fernseher habe - die Bilder davon garantiert in meiner Stadt Frankfurt am Main auf jedem Boulevardblatt an jedem Kiosk und auf jedem Bildschirm in jeder U-Bahn-Station massenhaft vervielfältigt sehen. Als sei die Öffentlichkeit süchtig nach so etwas oder solle süchtig danach gemacht werden (womit wir eher bei Orwells "1984" und seinen Propagandamethoden wären).
Andere mögliche Fußnote zu Burgess' Roman: Schule. Die ihretwegen verabreichten Medikamente. Dieses seltsame Menschenbild, das in den letzten zwanzig Jahren entstanden ist und sich nach jenem angeblichen Pisa-Schock (von dem ich bis heute nicht weiß, was er mit uns als Menschen zu tun hat), noch um so mehr beschleunigt hat. Der Begriff "Funktionieren" ist immer mehr in den Vordergrund gerückt. Alex verabreichen sie ja auch Medikamente.
Zurück zu meinem Wetterauer. Aufgefallen ist er sowieso nie als problematisch, er hat studiert, hat mit den Jahren eine Vorliebe für alte Bausubstanz entwickelt, kennt sich inzwischen sehr gut mit den Gesteinsschichten unseres Landes aus, und er ist, wie übrigens ich auch, zu einem großen, zu einem echt horrorshowmäßigen Verehrer von Edgar Reitz und seinen "Heimat"-Filmen geworden. Ja, das ist und kann Kunst: Als Liebhaber von Alex zeigte mein Wetterauer Kollege nie das geringste Anzeichen von Alex.
Natürlich habe ich bis jetzt offengelassen, ob mein Wetterauer tatsächlich das Buch von Burgess gelesen hat. Wäre ich Anthony Burgess selbst und würde gerade diesen Artikel lesen, dann würde ich ihn - konditioniert wie Alex - natürlich nur auf diesen einen Punkt hin lesen. Nämlich ob es hier tatsächlich um das Buch geht. Oder doch nur wieder um den Film. Burgess hat verständlicherweise darunter gelitten, dass der Film so berühmt geworden ist. Also, die Wahrheit ist natürlich: Mein Wetterauer hat nie ein Wort Burgess gelesen. Er hat immer nur den Film geschaut. Schade. Das Buch hat andere Qualitäten, siehe Mittelteil, und es hat nicht weniger Drive als Kubricks Film. Größere Berühmtheit muss ja nichts über größere Qualität sagen.
Allerdings macht der Film eines besser als das Buch. Er endet an der besseren Stelle: "Ich war wahrhaftig geheilt." So wird "Clockwork Orange" auf immer und ewig für meinen Wetterauer schließen: mit dem wiederhergestellten, gewaltbereiten Alex. In der Originalversion dagegen wird auf den letzten zehn Seiten aus Alex plötzlich jemand, der sich in genau so etwas wie meinen Wetterauer verwandelt. Er malt sich aus, neuerdings vielleicht einfach nur dazusitzen in einem schönen Eigenheim mit Frau und seine Ruhe zu genießen und die ganze Horrorshow seinzulassen. Als Begründung gibt er an, er werde eben langsam älter (!).
Dann sagt er noch, quasi als ein "Und was lernen wir daraus?": Ich kann später meine Kinder so gut erziehen, wie ich will, und diese ihre auch, aber sie werden wie ich sein, wenn sie jung sind, und das kann keine Macht auf der Welt ändern. Das hätte ich mir von meinem Lektor aus sehr guten Gründen wegstreichen lassen. Burgess war sich über seinen Schluss übrigens selbst unsicher und notierte in einer Fassung am Rand, ob der Roman nicht lieber da enden sollte, wo später Kubrick den Film enden ließ. Und warum?
Schauen wir auf meinen Wetterauer: Er war nie Alex, und da er nie einer war, braucht der diesen alles zurechtrückenden Schluss auch nicht. Alex muss nicht resozialisiert werden, auch nicht auf natürlichem Weg, durch Altern. Alex ist schlicht und einfach Kunst. Ich will ja auch über das weitere Schicksal der Mona Lisa nichts wissen. Mir reicht das Bild. Und das hat Stanley Kubrick haargenau kapiert. Und Anthony Burgess mindestens geahnt.
Anthony Burgess: "Clockwork Orange". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 256 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
A gruesomely witty cautionary tale Time