"Breslau, the leading city in East Germany, had a Jewish community of 20,000 which, prior to 1933, played a prominent part in the economic, social, and cultural life of the city. Professor Ascher's pioneering study describes in minute detail how the Nazi authorities, over a number of years, systematically 'liquidated' this community until no one remained. He also relates on the basis of much hitherto unknown or unused material how the Jews reacted individually and as a community. It is a tragic story repeated many times over in Germany and other European countries, but it has never before been told in such authoritative detail. It is much more than local history and will serve as a model for the historiography of this dark period."--Walter Laqueur
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2008Reagieren, statt sich zu unterwerfen
Geschichte der jüdischen Gemeinde Breslaus in der Zeit des Nationalsozialismus
Ende des Jahres 1938 kamen die Eltern von Norbert Elias nach London: um zu sehen, wie sich ihr Sohn in der Emigration eingerichtet habe. Dessen größere Sorge galt aber ihnen selbst und ihrer Gefährdung im heimatlichen Breslau. Soeben hatte dort der Terror der sogenannten Reichskristallnacht gewütet wie überall in Deutschland. Aber nichts vermochte die Eltern von der Rückkehr nach Breslau abzuhalten. "Warum sollen wir weggehen", fragte der Vater, "ich habe nie etwas Unrechtes getan. Was können sie mir tun?" Dabei blieb es, und Norbert Elias sollte seine Eltern nie wiedersehen.
Zur selben Zeit riskierte in Breslau die Familie Ascher alles, nur um aus Deutschland herauszukommen. Es war die realistischere Einschätzung der Gefahrenlage, denn wenige Jahre später waren 22 Familienangehörige dem Holocaust zum Opfer gefallen. Vom eigenen Familienschicksal, daneben auch dem der Familie Elias, berichtet das neue Buch von Abraham Ascher. Der 2003 emeritierte Historiker der City University New York und ausgewiesene Kenner Osteuropas weiß, in welchen Archiven zwischen Warschau, Jerusalem und Washington man sich heute über die jüdische Gemeinde Breslaus informieren kann. Er befragte Zeitzeugen und studierte eine umfangreiche Literatur. So entstand ein umfassend informiertes, gut lesbares Buch über das Breslauer Judentum unter dem Nationalsozialismus. Mehr noch, hier wird erstmals und überzeugend ein Bild dieser Gemeinde in ihrer dunkelsten Zeit vermittelt. Was Ascher zu berichten weiß, ist freilich unsagbar traurig und beschämend.
Das Buch beginnt als Erinnerungswerk, und dieser persönliche Bezug zieht sich durch fast alle Kapitel. Die Familie Ascher war 1920 aus Galizien nach Breslau gekommen, wo man sich bald wohl fühlte und ein Auskommen hatte. Aber man blieb in doppelter Weise Außenseiter, einerseits als streng religiöse Ostjuden, andererseits als polnische Staatsangehörige. Der wirtschaftliche Boykott der Nationalsozialisten und die ständige Drohung der Ausweisung ließen die Aschers 1938 den schwersten Entschluss ihres Lebens fassen: die Zerreißung der Familie, sofern sich nur einem von ihnen die Möglichkeit zur Flucht bot. Sie gelang zunächst nur dem Vater. Warum aber der amerikanische Vizekonsul in Breslau für ein Besuchervisum in die Vereinigten Staaten 500 Mark verlangte, offenbaren heute die Akten. Der Diplomat war wegen seiner Alkoholprobleme nach Breslau versetzt worden, wo er sich verleiten ließ, die Notlage der jüdischen Bittsteller auszunutzen. Ascher hält ihm jedoch zugute, er habe mindestens 106 Visa für die Philippinen ausgestellt und damit Menschenleben gerettet. Als Letzter der großen Familie Ascher konnte im Juli 1939 der elfjährige Abraham mit seiner Mutter nach England fliehen. Vor jedem Einzelnen sollten unglaublich entbehrungsreiche Jahre liegen, aber man lebte.
Die Breslauer jüdische Gemeinde, die ihnen bis dahin eine Heimat geboten hatte, befand sich schon seit 1933 im Belagerungszustand. So nennt Ascher die Zwangslage dieser drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands. Dabei konnte gerade sie auf eine große Vergangenheit zurückblicken, deren bedeutende Leistungen und Persönlichkeiten einleitend in Erinnerung gerufen werden. In vielen Bereichen der Wirtschaft, des akademischen Lebens, der sozialen Einrichtungen und nicht zuletzt der Kultur hatten die Breslauer Juden weit mehr geleistet, als man es von einer Bevölkerungsgruppe von maximal 23 000 Personen oder 5 Prozent der Einwohner Breslaus erwarten konnte. Der Wohlstand vieler Juden machte sich bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus bemerkbar, wenn ihr Stimmgewicht in den beiden oberen Wahlklassen weit überproportional ausfiel, wovon die Liberalen profitierten. Seit der Weimarer Republik wählten Juden hier eher sozialdemokratisch. Breslau verfügte über ein hochentwickeltes jüdisches Bildungswesen, angeführt vom 1854 gestifteten Jüdisch-Theologischen Seminar, das halb Europa mit Rabbinern versorgte. So wurde es zum Vorbild für die Rabbinerseminare von Budapest (1877) und New York (1886).
Indirekt wirkt dieser Breslauer Einfluss bis heute im jüdischen Leben Amerikas nach. Innerhalb der Breslauer Einheitsgemeinde sammelte sich der größere liberale Teil unter der Kuppel der Neuen Synagoge, während die orthodoxen Juden in der historischen Storch-Synagoge beteten. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Juden in Breslau ein selbstverständlicher, kaum angefochtener Bestandteil der Gesellschaft. Breslau war die erste deutsche Großstadt, in der 1897 ein Jude (Ferdinand Julius Cohn) Ehrenbürger wurde. Man war stolz auf die Nobelpreisträger jüdischer Herkunft. Bis in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, so Ascher, gab es hier weniger Äußerungen des Antisemitismus als sonst in Deutschland.
Das alles schlug danach in unbegreiflicher Weise um, wie es sich wieder an den politischen Wahlen ablesen lässt. Mit der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten begannen in Breslau zwei Jahre einer "schleichenden Verfolgung", danach eine Phase der Ruhe vor dem Sturm, bis nach der "Kristallnacht" alle Rücksicht fallengelassen wurde und die Marterschrauben angezogen wurden. Fast die Hälfte aller Breslauer Juden musste nun den Weg in die Vernichtungslager antreten. Das ist eine Abfolge der Ereignisse, wie sie auch anderenorts galt, die aber hier immer wieder durch Fakten und Namen belegt wird.
In Auseinandersetzung mit Hannah Arendt, die er mehrfach zitiert, hebt Ascher jedoch darauf ab, wie couragiert und flexibel die Breslauer Gemeinde in ihrem Belagerungszustand auf jede neue Herausforderung reagierte und damit im Rahmen des ihr Möglichen Widerstand leistete. Zu offenem Widerstand fehlten freilich alle Voraussetzungen. Man reagierte mit geschmeidiger Anpassung an die Lage, ohne sich je unterwerfen zu wollen, so eine Kernthese des Buches.
Daher nehmen bei Ascher die lange aufrechterhaltenen Leistungen der Gemeinde auf dem Gebiet des Kulturlebens und des Schulwesens, die Improvisationskunst der ärztlichen Versorgung und die bewundernswerten Fürsorgemaßnahmen einen gebührenden Raum ein, während das Elend der neun aufeinanderfolgenden großen Deportationen seit November 1941 beinahe zurücktritt. Aber im Sommer 1943, direkt nach dem Ende der Breslauer Deportationen, erreichte den Breslauer Kardinal Bertram ein anonymer Brief. Der Verfasser bekannte sich als Jude, und er schwor bei Gott dem Allmächtigen, dass er nichts als die Wahrheit berichte. Er müsse den Kardinal und seine Mitbischöfe über die Verbrechen des deutschen Volkes an den Juden unterrichten. Sodann folgte ein detaillierter Bericht über die Massaker in Polen von 1939 an: Inzwischen dürften um die vier Millionen Juden ermordet sein. Ob ihm das wohl bewusst sei? Gott werde es nicht zulassen, dass dieses Volk der Deutschen ungestraft davonkomme. Bertram nahm das Schreiben zu den Akten, heute liegt es in Washington. Für die sicher bald zu erwartende deutsche Ausgabe des Buches wünschte man sich, dass dieses Schriftstück und anderes im Wortlaut abgedruckt würde. Man sollte diese Gelegenheit auch nutzen, um kleinere Ungenauigkeiten in der Beschreibung Breslaus oder einzelner Personen zu beheben.
NORBERT CONRADS
Abraham Ascher: A Community under Siege. The Jews of Breslau under Nazism. Stanford University Press, Stanford California 2007. 324 S., 55,- $.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichte der jüdischen Gemeinde Breslaus in der Zeit des Nationalsozialismus
Ende des Jahres 1938 kamen die Eltern von Norbert Elias nach London: um zu sehen, wie sich ihr Sohn in der Emigration eingerichtet habe. Dessen größere Sorge galt aber ihnen selbst und ihrer Gefährdung im heimatlichen Breslau. Soeben hatte dort der Terror der sogenannten Reichskristallnacht gewütet wie überall in Deutschland. Aber nichts vermochte die Eltern von der Rückkehr nach Breslau abzuhalten. "Warum sollen wir weggehen", fragte der Vater, "ich habe nie etwas Unrechtes getan. Was können sie mir tun?" Dabei blieb es, und Norbert Elias sollte seine Eltern nie wiedersehen.
Zur selben Zeit riskierte in Breslau die Familie Ascher alles, nur um aus Deutschland herauszukommen. Es war die realistischere Einschätzung der Gefahrenlage, denn wenige Jahre später waren 22 Familienangehörige dem Holocaust zum Opfer gefallen. Vom eigenen Familienschicksal, daneben auch dem der Familie Elias, berichtet das neue Buch von Abraham Ascher. Der 2003 emeritierte Historiker der City University New York und ausgewiesene Kenner Osteuropas weiß, in welchen Archiven zwischen Warschau, Jerusalem und Washington man sich heute über die jüdische Gemeinde Breslaus informieren kann. Er befragte Zeitzeugen und studierte eine umfangreiche Literatur. So entstand ein umfassend informiertes, gut lesbares Buch über das Breslauer Judentum unter dem Nationalsozialismus. Mehr noch, hier wird erstmals und überzeugend ein Bild dieser Gemeinde in ihrer dunkelsten Zeit vermittelt. Was Ascher zu berichten weiß, ist freilich unsagbar traurig und beschämend.
Das Buch beginnt als Erinnerungswerk, und dieser persönliche Bezug zieht sich durch fast alle Kapitel. Die Familie Ascher war 1920 aus Galizien nach Breslau gekommen, wo man sich bald wohl fühlte und ein Auskommen hatte. Aber man blieb in doppelter Weise Außenseiter, einerseits als streng religiöse Ostjuden, andererseits als polnische Staatsangehörige. Der wirtschaftliche Boykott der Nationalsozialisten und die ständige Drohung der Ausweisung ließen die Aschers 1938 den schwersten Entschluss ihres Lebens fassen: die Zerreißung der Familie, sofern sich nur einem von ihnen die Möglichkeit zur Flucht bot. Sie gelang zunächst nur dem Vater. Warum aber der amerikanische Vizekonsul in Breslau für ein Besuchervisum in die Vereinigten Staaten 500 Mark verlangte, offenbaren heute die Akten. Der Diplomat war wegen seiner Alkoholprobleme nach Breslau versetzt worden, wo er sich verleiten ließ, die Notlage der jüdischen Bittsteller auszunutzen. Ascher hält ihm jedoch zugute, er habe mindestens 106 Visa für die Philippinen ausgestellt und damit Menschenleben gerettet. Als Letzter der großen Familie Ascher konnte im Juli 1939 der elfjährige Abraham mit seiner Mutter nach England fliehen. Vor jedem Einzelnen sollten unglaublich entbehrungsreiche Jahre liegen, aber man lebte.
Die Breslauer jüdische Gemeinde, die ihnen bis dahin eine Heimat geboten hatte, befand sich schon seit 1933 im Belagerungszustand. So nennt Ascher die Zwangslage dieser drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands. Dabei konnte gerade sie auf eine große Vergangenheit zurückblicken, deren bedeutende Leistungen und Persönlichkeiten einleitend in Erinnerung gerufen werden. In vielen Bereichen der Wirtschaft, des akademischen Lebens, der sozialen Einrichtungen und nicht zuletzt der Kultur hatten die Breslauer Juden weit mehr geleistet, als man es von einer Bevölkerungsgruppe von maximal 23 000 Personen oder 5 Prozent der Einwohner Breslaus erwarten konnte. Der Wohlstand vieler Juden machte sich bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus bemerkbar, wenn ihr Stimmgewicht in den beiden oberen Wahlklassen weit überproportional ausfiel, wovon die Liberalen profitierten. Seit der Weimarer Republik wählten Juden hier eher sozialdemokratisch. Breslau verfügte über ein hochentwickeltes jüdisches Bildungswesen, angeführt vom 1854 gestifteten Jüdisch-Theologischen Seminar, das halb Europa mit Rabbinern versorgte. So wurde es zum Vorbild für die Rabbinerseminare von Budapest (1877) und New York (1886).
Indirekt wirkt dieser Breslauer Einfluss bis heute im jüdischen Leben Amerikas nach. Innerhalb der Breslauer Einheitsgemeinde sammelte sich der größere liberale Teil unter der Kuppel der Neuen Synagoge, während die orthodoxen Juden in der historischen Storch-Synagoge beteten. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Juden in Breslau ein selbstverständlicher, kaum angefochtener Bestandteil der Gesellschaft. Breslau war die erste deutsche Großstadt, in der 1897 ein Jude (Ferdinand Julius Cohn) Ehrenbürger wurde. Man war stolz auf die Nobelpreisträger jüdischer Herkunft. Bis in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, so Ascher, gab es hier weniger Äußerungen des Antisemitismus als sonst in Deutschland.
Das alles schlug danach in unbegreiflicher Weise um, wie es sich wieder an den politischen Wahlen ablesen lässt. Mit der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten begannen in Breslau zwei Jahre einer "schleichenden Verfolgung", danach eine Phase der Ruhe vor dem Sturm, bis nach der "Kristallnacht" alle Rücksicht fallengelassen wurde und die Marterschrauben angezogen wurden. Fast die Hälfte aller Breslauer Juden musste nun den Weg in die Vernichtungslager antreten. Das ist eine Abfolge der Ereignisse, wie sie auch anderenorts galt, die aber hier immer wieder durch Fakten und Namen belegt wird.
In Auseinandersetzung mit Hannah Arendt, die er mehrfach zitiert, hebt Ascher jedoch darauf ab, wie couragiert und flexibel die Breslauer Gemeinde in ihrem Belagerungszustand auf jede neue Herausforderung reagierte und damit im Rahmen des ihr Möglichen Widerstand leistete. Zu offenem Widerstand fehlten freilich alle Voraussetzungen. Man reagierte mit geschmeidiger Anpassung an die Lage, ohne sich je unterwerfen zu wollen, so eine Kernthese des Buches.
Daher nehmen bei Ascher die lange aufrechterhaltenen Leistungen der Gemeinde auf dem Gebiet des Kulturlebens und des Schulwesens, die Improvisationskunst der ärztlichen Versorgung und die bewundernswerten Fürsorgemaßnahmen einen gebührenden Raum ein, während das Elend der neun aufeinanderfolgenden großen Deportationen seit November 1941 beinahe zurücktritt. Aber im Sommer 1943, direkt nach dem Ende der Breslauer Deportationen, erreichte den Breslauer Kardinal Bertram ein anonymer Brief. Der Verfasser bekannte sich als Jude, und er schwor bei Gott dem Allmächtigen, dass er nichts als die Wahrheit berichte. Er müsse den Kardinal und seine Mitbischöfe über die Verbrechen des deutschen Volkes an den Juden unterrichten. Sodann folgte ein detaillierter Bericht über die Massaker in Polen von 1939 an: Inzwischen dürften um die vier Millionen Juden ermordet sein. Ob ihm das wohl bewusst sei? Gott werde es nicht zulassen, dass dieses Volk der Deutschen ungestraft davonkomme. Bertram nahm das Schreiben zu den Akten, heute liegt es in Washington. Für die sicher bald zu erwartende deutsche Ausgabe des Buches wünschte man sich, dass dieses Schriftstück und anderes im Wortlaut abgedruckt würde. Man sollte diese Gelegenheit auch nutzen, um kleinere Ungenauigkeiten in der Beschreibung Breslaus oder einzelner Personen zu beheben.
NORBERT CONRADS
Abraham Ascher: A Community under Siege. The Jews of Breslau under Nazism. Stanford University Press, Stanford California 2007. 324 S., 55,- $.
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