Produktdetails
  • Verlag: Bantam
  • ISBN-13: 9780553580938
  • ISBN-10: 0553580930
  • Artikelnr.: 23915050
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.1998

Wachteln über Atlanta
Auf ein neues: Tom Wolfe schnürt Amerika in ein Romanpaket

NEW YORK, im November

Bis vor einiger Zeit, so erzählte Tom Wolfe bei der ersten Lesung aus seinem neuen Roman "A Man in Full" in New York, sei für ihn der Inbegriff von überschießendem Luxus ein Privatjet gewesen. Die Anschaffungskosten. Der Unterhalt. Die Lizenzen. Das Personal. Wie jeder Mensch, der bei Sinnen ist, hielt auch Tom Wolfe die Dollarmillionen, zu denen sich all dies summiert, für eine Verschwendung erster Ordnung. Das galt, bis er eine Plantage in Georgia besuchte.

Freunde hatten ihn eingeladen. Sie führten ihn zu einer Plantage, die mit hundertzwanzig Quadratkilometern groß genug war, um einem weitläufigen Landsitz, sechsunddreißig Nutzgebäuden, darunter Stallungen für eine Zucht mit sechsundfünfzig Pferden, Behausungen für die Bediensteten, einem Schlangenhaus, dem Gehege für die Jagdhunde, Garagen und der Landebahn für den Gulfstream-Jet der Besitzer Raum zu geben. Herzstück der Plantage aber, auf der aus jedem Stück Natur und Gerät ungebrochene Virilität atmete, waren jene Bereiche, die als private Wildnis unberührt blieben. Sie dienten einzig einem Zweck, der Wachteljagd.

Wie immer bei Tom Wolfe kommt es auf die Größe an. Wer waren diese Leute, fragte sich der Autor, die ein so riesiges Gelände unterhielten, um in der nur sechzehn Wochen währenden Jagdsaison durch die schwere Luft des Südens zu reiten, in kleinen Gruppen mit immer nur zwei Jägern, damit sie einander bei der wilden Schießerei auf ihre aufgeregten Ziele nicht gefährdeten? Zum Abendessen im "Gun Room", in dessen Kamin von der Größe eines Luftschutzkellers ein Feuer prasselte, das in der milden Nacht nur auszuhalten war, weil die Klimaanlage auf höchsten Touren lief, gab es, wie zu erwarten, Wachteln. Legt man die Kosten der Plantage um, kostete jede von ihnen, so rechnete der Gastgeber stolz vor, 4784 Dollar.

Der durchschnittliche New Yorker hatte von solchen Wachteljagden noch nie gehört. Und so, wie Tom Wolfe es erzählte, freihändig und im Plauderton, klang es, als sei es ihm gerade in den Sinn gekommen, seinem Publikum ein wenig Hintergrundmaterial zu "A Man in Full" zu liefern, aus dem er kurz darauf zu lesen begann. Doch der Eindruck täuschte. Fast dieselbe Vorstellung hatte Tom Wolfe bereits im Juni auf der Buchmesse in Chicago gegeben, und tatsächlich handelte es sich nicht um das Rohmaterial seiner Romanidee, sondern bereits um fast wörtliche Zitate aus dem Prolog und einem späteren, einem der besten Kapitel etwa in der Mitte des Buchs: Tom Wolfe ist ein hart arbeitender Unterhaltungskünstler, der aus jeder Recherche das Maximum an Pointen, und aus jeder Pointe das Maximum an Wiederholbarkeit herausholt.

Wer seinen letzten Roman, "Fegefeuer der Eitelkeiten", kennt, wird sich erinnern, daß er auch als Autor einigen Unterhaltungswert besitzt. "A Man in Full" bestätigt diesen Eindruck. Doch diesmal wollte Tom Wolfe mehr: Er wollte nicht nur einen Bestseller schreiben, der ein paar Schlagworte prägt wie seine anderen Bücher - "Fegefeuer der Eitelkeiten" brachte uns den "Master of the Universe", und "The Right Stuff" trägt Tom Wolfes Copyright nach seinem gleichnamigen Buch -, sondern den großen amerikanischen Roman des ausgehenden Jahrhunderts, ein Buch, das ihn als Erben von Hugo, Balzac, Zola auszeichnet. Kaum eine der meist positiven Rezensionen verzichtete darauf, diesen Ehrgeiz zu dokumentieren und weitere Namen ins Gespräch zu werfen, allen voran Dickens. Niemand jedoch stellte die Frage, warum ein Autor im ausgehenden zwanzigsten unbedingt einen Roman des neunzehnten Jahrhunderts schreiben wollte. Wie auch immer, geglückt ist es ihm nicht.

"A Man in Full" ist der Roman eines Journalisten: die Dokumentation einer riesigen Recherche und einer überschäumenden Lust am Detail, die vor Redundanzen ("der Anbau von 1989, der neue Teil des Rathauses") nicht zurückschreckt, geschrieben in einer groben Sprache, die einzig dazu dient, die Handlungsmasse halbwegs in der Spur zu halten und über die Marathondistanz von 742 Seiten voranzuprügeln. Verdichtung, Präzision durch Verknappung, Auslassungen, Raffinement, sprachliche Ambiguität bei gleichzeitiger Kohärenz von Figuren, Handlung und Ton - all dies sind literarische Techniken, die Tom Wolfe nicht schätzt. Oder die ihm nicht zur Verfügung stehen.

Kein Buch der letzten Jahre ist mit vergleichbarem Aufwand in Amerika vermarktet worden. Zwar wurden auch die großen Romane bedeutenderer Autoren, Thomas Pynchons "Mason & Dixon" etwa, Don DeLillos "Underworld" oder auch Toni Morrisons "Paradise", von den Medien keineswegs übersehen. Doch nie wurde so früh so viel Schaum geschlagen wie für Tom Wolfe. Da das Buch, als die Werbung begann, noch längst nicht fertiggeschrieben war, wurde vor allem über Zahlen geredet. Fünf bis sieben Millionen Dollar soll der Verlag Farrar, Straus & Giroux aus der Holtzbrinck-Gruppe an Wolfe gezahlt haben, die Zeitschrift "Rolling Stone" noch einmal hundertfünfzigtausend für den Vorabdruck dreier Episoden, eine halbe Million soll ins Marketing geflossen sein, damit der Erstauflage von 1,2 Millionen Exemplaren bald eine zweite folgen kann. Elf Jahre hat Tom Wolfe an dem Buch gearbeitet, und es ist das erste, das je schon Wochen vor Publikation für den "National Book Award" nominiert wurde. Daß es durch Zählung der Vorbestellungen bereits vor seinem Erscheinungsdatum ein Bestseller war, versteht sich fast von selbst, daß die Filmrechte noch zu haben sind, grenzt hingegen an ein Wunder.

Es ist eine saftige Geschichte, die Tom Wolfe zu erzählen hat, und sie ist mit der Verlagswerbung "Big men. Big money. Big libidos. Big trouble" zutreffend beschrieben. Nimmt man John Updikes Beobachtung hinzu, der den Roman für den "New Yorker" als ein "muskulöses" Stück Literatur besprochen hat, das voller Beschreibungen aufgepumpter Muskelpakete im Schulter- und Nackenbereich sowie einiger hochdefinierter Oberkörper, fester Hinterteile und sehniger Arme und Beine sei, bekommt man eine ganz gute Vorstellung davon, was für ein Buch dies ist. Daß das nicht mehr ganz neue Schönheitsideal für Mädchen, auszusehen wie "Jungs mit Brüsten", dem Autor nicht behagt, ist keine Überraschung.

Der Roman spielt in Atlanta und Umgebung, und der Mann, der ihm den Titel gibt, ist der Immobilientycoon Charlie Croker. Er hat nicht nur ein, sondern vier Privatflugzeuge mit zwölf Piloten, sieben Autos sowie, neben einigem anderen Besitz, die oben beschriebene Plantage, die aus Steuergründen als experimentelle Farm ausgewiesen ist. Außerdem gehören ihm ein Werk für Tiefkühlkost und ein Büroturm außerhalb Atlantas, der nur zu einem Drittel vermietet ist. Croker hat also Schulden, bei seinem größten Kreditgeber, der PlannersBanc, genau 515 Millionen Dollar.

Die Szene, in der bei einer Frühstückskonferenz Charlie Croker und der Spezialist der Bank für solche Fälle, der "Artiste" aufeinandertreffen - die Machtverschiebung zwischen den beiden; die in Croker aufsteigende Angst; der Ehrgeiz des "Artiste", den Schuldner so in die Enge zu treiben, bis sein Erfolg daran abzulesen ist, wie sich die Schweißflecken von den Armbeugen des Hemdes zur Brust hin ausdehnen, um sich über dem Bauch schließlich zu treffen -, ist eine der stärksten des Buches. Tom Wolfe las sie in seiner New Yorker Lesung ebenso wie die Szene von der Wachteljagd, inklusive W. C.-Fields-Imitation und einem lupenreinen Südstaatenidiom, wo es gebraucht wurde, und hatte damit das Beste, was sein Buch zu bieten hat, bereits verraten.

Die Lust an dem Buch, das man als anspruchsvollen Reißer beschreiben könnte, der dem Leser Einblick in die von der Ostküste aus gesehen exotische Welt des neuen Südens gibt, in dem die Spuren des Alten noch nicht verwischt sind, schwindet spätestens auf halber Strecke. Am Ende, das trotz der langen Vorbereitung abrupt kommt und völlig mißlungen ist, flimmert sie nur noch schwach. Die Lautschrift für lokale oder ethnische Akzente - "something very simple" wird zu "sump' veh simple" -, die comichaften Buchstabenhaufen - "Roarrrrr", "glugluglug", "thomp! thomp! thomp", "Brannnnnnng!", "Trilllll . . . Trilllll . . . Trilllll" (so klingt, wie wir alle wissen, ein Telefon) - sind ermüdend und kaum in Maßen amüsant. Doch im aufsteigenden Ennui über das testosterongeschwellte Werk, das sich zeitweise liest wie der Mitschnitt aus dem Waschraum eines Jungeninternats, läßt sich leicht übersehen, daß Tom Wolfe mit "A Man in Full" auch etwas gelungen ist.

Atlanta, die Hauptstadt des neuen Südens, die in den letzten Jahren zu Reichtum und unter Leuten, die vor allem Geld interessiert, auch zu Ansehen gekommen ist, die Stadt von CNN und den Olympischen Spielen, ist zu siebzig Prozent schwarz. Eine neue schwarze Mittelschicht hat sich gebildet, jenseits der vollständig neu gestalteten Innenstadt mit einigen markanten Hochhäusern gibt es aber immer noch Slums, die berüchtigt sind. "A Man in Full", in dem neben dem weißen Charlie Croker unter anderen ein schwarzer Bürgermeister, ein schwarzer Anwalt, ein schwarzer Footballstar aus den Slums, ein weißer Arbeitsloser und ein weißer Bankangestellter prominente Rollen übernehmen, ist auch und vielleicht vor allem eine Bestandsaufnahme der Rassenbeziehungen. Einzig in diesem Sinn ist das Buch, wie die amerikanische Kritik trompetet, der Roman über die neunziger Jahre. Mit der Akkuratesse eines Reiseführers zeigt uns Tom Wolfe all die Stätten, Wegbiegungen, Vorgärten, verlassenen Gelände in Atlanta, an denen die Spannungen sichtbar werden. Mit derselben unkorrumpierten Genauigkeit beschreibt er das Innere eines Tiefkühllagers und eines Gefängnisses.

Mit allem, was er hat, und dazu gehört sein Äußeres, verkauft Tom Wolfe Bilder des Exzesses und der Dekadenz. Immer noch trägt er seine cremefarbenen Anzüge mit den stoffüberzogenen Knöpfen und wirkt zunehmend, wenn nicht wie ein Clown, so doch wie ein Zirkusdirektor. In "A Man in Full" folgt über weite Strecken ein Peitschenknall auf den anderen. Daß die Figuren dazu tanzen, ist mehr, als die meisten Journalisten erreichen. Daß Tom Wolfe ihnen aber nur Reflexe, keine Seele gibt, ist weniger, als man von einem Schriftsteller erwarten darf. VERENA LUEKEN

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