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Produktdetails
  • Harvard University Press Reference Library
  • Verlag: Harvard University Press
  • Seitenzahl: 1128
  • Erscheinungstermin: 22. März 2010
  • Englisch
  • Abmessung: 50mm x 175mm x 260mm
  • Gewicht: 1776g
  • ISBN-13: 9780674035942
  • ISBN-10: 0674035941
  • Artikelnr.: 26436331
Autorenporträt
Greil Marcus, geboren 1945, gilt als einer der größten Bob Dylan-Kenner. In seinen Büchern hat er immer wieder über Rockmusik und ihr Verhältnis zur amerikanischen Kultur und Politik geschrieben. Der Autor lebt in Berkeley.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2009

Die Haltbarkeit des Jetzt
Warum der Poptheoretiker Greil Marcus kulturelle Schlüsselmomente gesammelt hat
Was haben die Anonymen Alkoholiker, der Pornostar Linda Lovelace und „Der Fänger im Roggen” gemeinsam? Was die Hexenprozesse von Salem, der Grafitti- und Hip-Hop-Film „Wild Style” und Nabokovs „Lolita”? – Sie alle haben die permanente Selbsterfindung Amerikas ein Stück vorangetrieben. Oder, in den Worten von Greil Marcus: „Mit ihnen war das Land am Mittwoch nicht mehr dasselbe wie am Dienstag.”
Marcus, der Pophistoriker und Kulturwissenschaftler aus Berkeley, hat gemeinsam mit Werner Sollors, dem aus Deutschland stammenden und in Harvard lehrenden Literaturwissenschaftler, mehr als 200 solcher kultureller Schlüsselmomente gesammelt. In der von ihnen herausgegebenen „New Literary History of America” erzählen sie gemeinsam mit ebenso vielen Autoren entlang dieser Kette von Ereignissen eine gleichermaßen faszinierende wie bewegende Geschichte des Landes, wie man sie so noch nie gehört hat – und wie sie, so behaupten die Herausgeber, in keinem anderen Land möglich wäre.
Um eine Literaturgeschichte im konventionellen Sinne handelt es sich, anders als der Titel vermuten lässt, bei dem mehr als 1000-seitigen Band nicht. Viele der Essays behandeln durchaus einschlägige Höhepunkte amerikanischer Literatur, Melvilles „Moby Dick”, Whitmans „Leaves of Grass” oder Fitzgeralds „Great Gatsby”. Doch andere beschäftigen sich mit der architektonischen Schönheit eines Ford-Werks in Detroit oder mit der Legalisierung des Glücksspiels in Nevada.
„Es ist eine Geschichte der großen amerikanischen Konversation”, sagt Marcus in seinem Büro in der New Yorker New School of Social Research, wo er zurzeit unterrichtet, eine Art Diskursgeschichte also. „Es schließt alles ein, was geschrieben, gesagt, erfunden wurde, jede Form des Ausdrucks. Eine Geschichte der amerikanischen Literatur wäre ein Oxymoron. Man kann die amerikanische Literatur nicht vom Rest der Kultur, von Politik, von der gesellschaftlichen Debatte trennen.”
Amerika, so Marcus, unterscheidet sich darin fundamental von Europa, wo Literatur und Bildung seit dem Mittelalter ihren festen Platz und ihr eigenes Milieu in der Gesellschaft hatten, sei es in den Klöstern oder am Hof – und mit den jeweiligen Hochsprachen auch Ausdrucksformen, die der Plebs mit ihren Dialekten und Vulgärsprachen nicht zur Verfügung standen.
„Wer in Amerika auf eine Weise schreibt, die sein Werk von der Sprache gewöhnlicher Menschen trennt, wird als nicht amerikanisch wahrgenommen”, sagt Marcus. „Henry James etwa wird ja immer für so vornehm gehalten, weil er in England lebte und sich ein wenig gestelzt ausdrückte. Aber Sie müssen nur ,The Americans’ lesen oder ,Daisy Miller’ und Sie sehen, dass seine Figuren genauso aus Fleisch und Blut sind wie die von Mark Twain.”
Obwohl der Band, der bei Harvard University Press erschienen ist, mit allen Insignien wissenschaftlicher Seriosität ausgestattet ist, interessierten sich Marcus und Sollars nicht für letztgültige Expertenmeinungen, sondern für Neuentdeckungen und Lebendigkeit, wie man sie weder in akademischen Werken noch bei Wikipedia findet.
Deswegen ließen sie zwar angesehene Wissenschaftler und Literaten – darunter Camille Paglia, Jonathan Lethem, Richard Powers und Luc Santé schreiben, doch nur fernab ihrer Spezialgebiete: „Selbst wenn sie viel Wissen mitbrachten, wollten wir, dass sie ihre Themen behandeln, als hätte niemand vor ihnen darüber geschrieben. Jeder sollte sein eigener Columbus sein.” Marcus und
Sollors machten das Genre der Enyzklopädie für sich nutzbar, indem sie es dekonstruierten.
Das zeigt sich auch bei der Auswahl der Themen, die sich nur gelegentlich mit dem gängigen Kanon wichtiger geschichtlicher und kulturgeschichtlicher Ereignisse decken. Der erste Essay behandelt nicht die Entdeckung Amerikas, sondern seine erste Erwähnung auf einer Landkarte.
Bob Dylan und Chuck Berry sind eigene Kapitel gewidmet, aber Elvis geht leer aus. Das folgenreiche Desaster vom 11. September wird nicht näher behandelt, wohl aber der Hurrikan Katrina, an den Marcus und Sollors in einem erschütternden Artikel erinnern, der zugleich düsterer Epilog des Buchs ist. Und statt den Zweiten Weltkrieg anhand einer Rede von Roosevelt oder der Memoiren eines Generals abzuhandeln, wählt Glenda Carpio Thomas Pynchons „Gravity’s Rainbow”, in der die Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, der Fabrik für Hitlers V2-Raketen, durch die amerikanischen Truppen beschrieben wird.
Doch für Marcus und Sollors geht es bei Auswahl und Behandlung um mehr als nur den Ehrgeiz, Neues zu sagen: Ihr Buch soll die spezifische Eigenheit der amerikanischen Kultur abbilden: „Amerika ist ein erfundenes Land. In organischen Gesellschaften wie der deutschen oder der französischen ist es ganz anders: Dort existierten die sozialen Formationen lange vor den politischen Formationen des modernen Staats, Letztere entwickelten sich aus Ersteren. In den USA war es umgekehrt. Die politische Formation kam zuerst, samt dem Recht – und der Pflicht von jedem, sein Glück zu suchen. Die Gesellschaft wuchs aus dieser Formation heraus.”
Wenn die „New Literary History” sich in ihrem chronologischen Durchgang durch die Geschichte statt auf evolutionäre Veränderungen, also auf die Ereignisse konzentriert, die das Land und seinen Diskurs ruckartig verändert haben, dann deshalb: In dem Land, wo jeder Bürger „die Obligation hat, etwas Neues zu sagen, etwas Neues zu beginnen”, ist auch Amerika selbst letztlich nur eine von vielen Erfindungen, die zwischen Atlantik und Pazifik auf den Ideenmarkt kamen.
Und wie alles Erfundene ist auch Amerika nie sicher davor, zu scheitern und zu verschwinden. Wie in dem letzten Essay, wo so ein Tod Amerikas beschrieben wird: 2005, in New Orleans, „als die Regierung der Stadt den Rücken zuwandte und sagte: Who gives a shit? – Die Leute sahen ihr Land und sie sahen es verschwinden.”
Die Emphase und Dringlichkeit des Neuen, und das Bangen um seine historische Haltbarkeit, sie durchdringen jeden der Essays. Das trägt auch bei zu dem leidenschaftlichen Grundton, der einem Deutschen beim Reden über sein Land so fern läge.
Ob im Großen oder im Kleinen, ob bei den Kinderbüchern von Dr. Seuss oder bei der Atombombe: Immer geht es ums Ganze, immer ums Jetzt, auch wenn es schon 300 Jahre zurückliegt. Statt unterlegt in den unterschiedlichen Graustufen historischer Einordnung, strahlt jedes der Ereignisse hier mit scheinbar zeitgenössischer Leuchtkraft.
Der Eindruck von Simultaneität, der dabei entsteht, macht erst sichtbar,
was Marcus „The Story of America” nennt, den Motor seiner Geschichte:
Amerikas Versagen darin, seine eigenen Ideale zu erfüllen: „Sie sind so hoch,
dass ihr Verrat unvermeidlich ist.
Doch in jedem Verrat ist der Fortgang des Kampfs darum angelegt, sie doch noch zu einzulösen.”
JÖRG HÄNTZSCHEL
Wie alles Erfundene ist auch Amerika nie sicher davor, zu scheitern und zu verschwinden. Rettungsaktion in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina im September 2005. Foto: Thomas Dworzak / Magnum / Agentur Focus
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