Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 48,95 €
Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2010

Als die Aufklärung fundamental wurde
Das klandestine Schrifttum im achtzehnten Jahrhundert wollte mehr als Liberalität

Für jemanden, der sich Jahr um Jahr an Texten abgearbeitet hat, deren Urheber der historische Jargon vornehm als "Minores" bezeichnet, liegt irgendwann die Versuchung nahe, nicht mehr nur unerschlossene Diskursfelder zu beackern, sondern sozusagen zur Flurbereinigung zu schreiten. Ein Beispiel hierfür mag die Aufklärungsforschung liefern. Sie zeichnet sich international durch rege Betriebsamkeit aus und hat in den letzten drei Jahrzehnten von einigen historiographischen Neuansätzen profitiert.

Vor allem die materiale Basis hat sich mit der Erschließung der sogenannten Clandestina, also von ungedruckten Texten mit oftmals beißender Kritik an den Dogmen der katholischen Kirche, die in nur wenigen Abschriften von Hand zu Hand weitergereicht wurden, wesentlich verbreitert. Am Gesamtbild der Epoche hat das allerdings bislang nichts Grundlegendes geändert: Unter "Aufklärung" verstehen wir das Zeitalter der sich emanzipierenden Vernunft, der wir spätestens seit Horkheimer und Adorno aber nicht mehr ohne Skepsis gegenüberstehen.

Nun hat der in Princeton lehrende Historiker Jonathan Israel eine große dreibändige Gesamtdarstellung der Aufklärung in Angriff genommen, in der er nicht nur gegen die moderne und vor allem seiner Wahrnehmung nach postmoderne Aufklärungsskepsis angeht, sondern vor allem die kulturelle und politische Bedeutung des aufklärerischen Denkens für unsere Gegenwart in den Vordergrund stellen will. Die ersten beiden, jeweils fast tausend Seiten starken Bände sind vor einigen Jahren erschienen und haben zumal im angelsächsischen Bereich ausführliche kritische Würdigungen erfahren ("Radical Enlightenment", 2001, und "Enlightenment Contested", 2006). Der dritte, abschließende Band, der die Aufklärung auf ihren Kulminationspunkt in der Französischen Revolution zuführen soll, ist in Vorbereitung. In einer schmaleren Schrift mit dem Titel "A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy" (Princeton University Press 2010) zieht Israel eine Art Zwischenbilanz und fasst seine Neudeutung der Aufklärung, die er in den umfangreicheren Vorarbeiten im historischen Detail entwickelt, in Thesenform zusammen.

Dabei verfolgt er ein recht ambitioniertes Programm: In historischer Perspektive zeichnet er ein völlig neues Bild der Epoche, in dem der bislang weniger beachtete Einfluss der radikalen Frühaufklärung ins Zentrum rückt. Damit geht eine Neudefinition des Begriffs von Aufklärung in offensichtlich ideenpolitischer Absicht einher. Die Grundoperation, die Israel vornimmt, ist relativ einfach: Was wir bislang gewohnt sind, als "Aufklärung" zu bezeichnen, nämlich das Denken von Philosophen wie John Locke, David Hume oder Voltaire, subsumiert er unter dem Oberbegriff der "moderaten Aufklärung". Das sind, grob gesagt, all jene, die Israels anspruchsvollem Kriterienkatalog für die wahre, und das ist eben die radikale Aufklärung, nicht Genüge leisten können. In der Tat nimmt Israel diesen Katalog bitter ernst: Voltaire beispielsweise besteht die Prüfung zum wahrhaften Aufklärer nicht - auch wenn sein Eintreten für religiöse Toleranz aller Ehren wert sei, so disqualifiziere ihn doch sein Festhalten an einem deistischen Gottesbild.

Demgegenüber begegnen wir in den radikalen Aufklärern den wahren Helden der Geschichte. Hierzu zählen jene bereits erwähnten Verfasser klandestiner Schriften, die eine in unterschiedlicher Weise rationalistisch oder materialistisch inspirierte Religionskritik üben und von Israel wahllos als Anhänger Spinozas deklariert werden.

Nun waren schon die Zeitgenossen im frühen achtzehnten Jahrhundert mit dem Vorwurf des "Spinozismus" recht schnell zur Hand, doch Israel interessiert sich nicht für Fragen der historischen Genauigkeit, wo es ihm einzig um Prinzipien geht. Als solche identifiziert er jene Ideen, die er als die grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Werte unserer Gegenwart benennt und gleich auf der ersten Seite seines Buches verkündet: Demokratie, Gleichheit der Rassen und der Geschlechter, Freiheit in der Gestaltung des individuellen Lebens, vollständige Gedanken- und Pressefreiheit sowie absolute Trennung von Staat und Kirche. Dass wohl kaum ein Protagonist namhaft zu machen wäre, bei dem die genannten Ideen entweder in dieser Vollständigkeit vorkommen oder unseren gegenwärtigen Vorstellungen, beispielsweise von individueller Lebensführung, auch nur annähernd entsprechen würden, macht nur umso deutlicher, wie willkürlich Israel sie festlegt.

Die radikale Aufklärung, dies die historische Pointe, liefert ihm schließlich auch die Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Französischen Revolution. Nicht, dass es darüber seit Tocquevilles Klassiker "Der Alte Staat und die Revolution" nicht eine unabsehbare Menge an Forschungen gegeben hätte: Israel ignoriert sie souverän, um mit naiver Entdeckerfreude zum ältesten Verdacht zurückzukehren, den schon die Gegenrevolution öffentlichkeitswirksam in die Welt gesetzt hatte, dass nämlich der revolutionäre Umsturz eine Folge des im Ancien Régime erfolglos unterdrückten Freidenkertums, eben der radikalen Aufklärung sei.

Wir ahnen also, worauf der dritte Band seiner Aufklärungs-Trilogie hinauslaufen wird, nämlich auf die Apotheose radikalaufklärerischen Denkens in der Französischen Revolution. Spannend bleibt allein die Frage, worin Israel seine Geschichte des philosophischen Radikalismus münden lässt. Sicher lässt sich schon jetzt voraussagen, dass es nicht der revolutionäre Terror der Jakobiner sein wird. Robespierre nämlich, auch wenn er die Schlagworte von Gleichheit, Gerechtigkeit und Vernunft im Mund geführt haben mag, wird eindeutig als rousseauistisch verirrter Gegenaufklärer dingfest gemacht. So muss Jonathan Israel schließlich der radikalen Aufklärung an der Stelle Grenzen setzen, wo es darum ginge, ihre mögliche Radikalisierung zu Ende zu denken.

SONJA ASAL

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr