In medieval times, a pilgrimage gave the average Joe his only break from the daily grind. For Gideon Lewis-Kraus, it promises a different kind of escape. Determined to avoid the kind of constraint that kept his father, a gay rabbi, closeted until midlife, he has moved to anything-goes Berlin. But the surfeit of freedom there has begun to paralyze him, and when a friend extends a drunken invitation to join him on an ancient pilgrimage route across Spain, he grabs his sneakers, glad of the chance to be committed to something and someone.
Irreverent, moving, hilarious, and thought-provoking, A Sense of Direction is Lewis-Kraus's dazzling riff on the perpetual war between discipline and desire, and its attendant casualties. Across three pilgrimages and many hundreds of miles - the thousand-year-old Camino de Santiago, a solo circuit of eighty-eight Buddhist temples on the Japanese island of Shikoku, and, together with his father and brother, an annual mass migration to the tomb of a famous Hasidic mystic in the Ukraine - he completes an idiosyncratic odyssey to the heart of a family mystery and a human dilemma: How do we come to terms with what has been and what is - and find a way forward, with purpose?
Irreverent, moving, hilarious, and thought-provoking, A Sense of Direction is Lewis-Kraus's dazzling riff on the perpetual war between discipline and desire, and its attendant casualties. Across three pilgrimages and many hundreds of miles - the thousand-year-old Camino de Santiago, a solo circuit of eighty-eight Buddhist temples on the Japanese island of Shikoku, and, together with his father and brother, an annual mass migration to the tomb of a famous Hasidic mystic in the Ukraine - he completes an idiosyncratic odyssey to the heart of a family mystery and a human dilemma: How do we come to terms with what has been and what is - and find a way forward, with purpose?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2012Der Weg ist das Buch
Der junge amerikanische Autor Gideon Lewis-Kraus ist von Berlin aus in die Welt gepilgert. Um das Rätsel seines Lebens zu lösen
Klar hätte er nicht so viel trinken und kiffen sollen, als er seinen Freund Tom in Tallinn besucht hatte. Jetzt ist er wieder in Berlin, schaut sich die verschwommenen Bilder in seiner Digitalkamera an, die aussehen wie in einem nebligen Helsinki aufgenommen, und liest die einzige Zeile, die er während der vier Estland-Tage in sein Notizbuch geschrieben hat: "Jakobsweg - Zielstrebigkeit - zehnter Juni". Was soll das? Er kann sich beim besten Willen nicht erinnern, warum er das geschrieben hat. Er ruft Tom an, und der weiß es. Sie sind verabredet zum gemeinsamen Pilgern einmal quer durch Spanien. Am zehnten Juni geht es los. Sie wollen nur laufen. Allein mit sich und mit einem einfachen Ziel: vorwärts.
Und das ist nur der Anfang. Im Verlauf des Jahres, im Verlauf dieses schönen, lebensklugen, drogen-, freundschaft- und sexverherrlichenden Buches "A Sense of Direction" (zu Deutsch "Orientierungssinn"), das gerade in Amerika erschienen ist, wird Gideon Lewis-Kraus geradezu in eine Pilgerschaftsabhängigkeit geraten und von Ort zu Ort ziehen, fort aus Welten der unendlichen Freiheiten oder der unendlichen Abhängigkeiten, hinüber in die Wanderwelt der Notwendigkeit, zunächst gemeinsam mit seinem Freund Tom, dann mit seinem Großvater und schließlich mit Bruder und Vater.
Gideon Lewis-Kraus, so heißt er im Buch und so heißt er in der Wirklichkeit, ist 27 Jahre alt, als er sich 2010 in San Francisco aufmacht zum weltberühmten Pilgerort der unendlichen Möglichkeiten: nach Berlin. Er schreibt für "Harper's Magazine", für "n+1" und andere Magazine. Er ist müde von den Gesprächen in San Francisco und in New York, die alle mit den gleichen Fragen beginnen: "Womit verdienst du dein Geld? Wo wohnst du? Wie viel Miete zahlst du?" Er folgt dem amerikanischen Berlin-Abziehbild, auf dem steht: absolute Freiheit von kulturellen und finanziellen Zwängen, minimale Mieten, unendliche Kunst-Möglichkeiten. "Die Gerüchte einer neuen ,Lost Generation' waren ein schreckliches Klischee, aber es war schwer, ihnen zu widerstehen."
Jedes Glücksversprechen wird wahr in diesem Berlin der Jetzt-Feier und der absoluten Gegenwart. Gideon Lewis-Kraus erfährt eine Verwandlung. Zum ersten Mal in seinem Leben als Erwachsener fühlt sich alles richtig an, was er tut. Vor allem das Nichtstun. Die Sonne hier, jede Zigarette, das Soho House, die Kunstausstellungen mit echter Kunst, gefälschter Kunst, echten Galeristen, falschen Galeristen, die Spree, das Badeschiff, junge Menschen von überall, glücklich, da zu sein und die Zeit nach Zigarettenrauchmaßstäben einzuteilen. "Just being there felt glorious, or, more than glorious, felt like enough." Die Menschen, die er trifft, teilen einen beinahe religiösen Glauben an die Möglichkeiten der permanenten Neuerfindung: Nichts ist festgelegt, niemand ist festgelegt, schon morgen kann man ein anderer sein.
Die Freiheiten von Gideon Lewis-Kraus, so beschreibt er es, potenzieren sich ins Unendliche dadurch, dass er Jude ist. Als amerikanischer Jude hat man immer "den Holocaust in der Tasche", schreibt er, den man nach Belieben herausziehen könne und der einem zum Beispiel erlaubt, die örtliche Kultur zu missachten oder mit jeder Frau zu schlafen, mit der du willst, "selbst wenn sie einen Freund hat". Für Lewis-Kraus ist das eigentlich nur ein Witz. Unlustig dagegen schildert er Juden wie etwa den Architekten Daniel Libeskind, die sich permanent selbst zu der Tatsache gratulierten, den Deutschen den Holocaust vergeben zu haben. "Das war Vergebung als Macht und als Arroganz."
Er selbst kennt sich mit dem Judentum ganz gut aus, denn sein Vater ist Rabbi, was für den Sohn eigentlich keine große Sache ist. Eine große Sache ist jedoch, dass er ein schwuler Rabbi ist, der dreißig Jahre seines Lebens für sein Coming-out gebraucht hat. Es steht auf wackligen Füßen, das Leben von Gideon Lewis-Kraus, weil die Identität seines Vaters stets auf so unsicheren Füßen stand. Die Unehrlichkeit des Vaters, die Verdruckstheit, das Desinteresse an den Kindern, an seiner Frau, die ganze Flüchtigkeit jetzt, seit dem Coming-out - all das macht den Helden dieses Buches zu einem Suchenden, einem Schwankenden, der von Frau zu Frau, Droge zu Droge, Frage zu Frage eilt. Und erst in der Übergangsstadt Berlin fühlt sich so ein Übergangsleben an wie Glück.
Aber auch das hält nicht für immer. Zunächst denkt er noch, das sei die Stadt Berlin, die sich in einem Jahr so sehr verändert hat, dass dieses Glück sich nicht mehr von selbst einstellt. Als eines Tages eine "Lounge Tausend" eröffnet, denkt er so für sich, dass in seinem Berlin, dem von vor einem Jahr, ein solcher Angebername niemals möglich gewesen wäre. "Da hießen die Bars ,eins' oder ,zwei', maximal ,sechs'. Aber doch niemals ,tausend'".
Schließlich, auf jener Tallinn-Fahrt, erkennt er aber doch, dass er selbst es ist, der dieser ganzen Freiheit überdrüssig geworden ist. Und er macht sich auf zum Jakobsweg, mit Tom. Das Herrliche am Pilgern erkennt er sofort: Es sind die gelben Schilder, die alle paar Schritte die Richtung weisen. Es gibt keine Fragen nach dem Wohin, man braucht kein Google Maps, keine Informationen über die coolste Bar des Abends. Es gibt auch keine Frage nach dem Warum. Es geht ums Laufen. Befreiung von der Freiheit - das ist es, was Gideon Lewis-Kraus hier pilgernd sucht und findet. Oder auch: "Ferien von den ewigen Ferien, die unser Leben sind."
Sofort sind sie begeistert. Schon am zweiten Tag beschließen sie, am Ende des langen Weges wieder von vorn zu beginnen: Pilgern als Lebenszweck. Aber natürlich entscheiden sie sich zweimal am Tag wieder um. Als Lewis-Kraus Wochen später nach vollendeter Wanderung wieder in der Bar "Drei" sitzt und raucht, kommt ihm die Pilgerei wie ein längst vergangener Traum vor.
Aber es hat sich etwas verändert. Es ist das Besondere an dem Buch von Gideon Lewis-Kraus, dass die Veränderungen, die im Erzähler vorgehen, so leise, leicht und nebenbei geschehen. Langsam, Seite für Seite, fügt sich die Grundlage seines Lebens zu einer neuen Festigkeit zusammen. Mit den Geschichten, den Menschen, denen er begegnet und denen er mit wachsendem Interesse zuhört, mit dem Nachdenken über das verborgene Leben seines Vaters und was es mit ihm zu tun hat.
Er wird weiterpilgern, nach dieser ersten Erfahrung. Mit seinem 82-jährigen Großvater Max pilgert er auf der japanischen Insel Shikoku. Max ist einer der rüstigsten und aktivsten Großväter der Welt. Er scheine sich so gar nicht vor dem Tod zu fürchten, sagt Gideon einmal zu ihm. Und Max sagt, ja, er habe eben so ein gutes Leben gehabt, und er sei so dankbar, dass er gesund sei und so viel Zeit mit seiner Familie verbringen konnte. Aber, bevor er sterbe, würde er sich gerne noch mit Gideons Vater aussprechen, leider wisse er nicht, ob es noch dazu kommen werde. Das scheint seine einzige Angst.
Die letzte Wanderung des Buches führt Gideon Lewis-Kraus zur jüdischen Pilgerstadt Uman in der Ukraine. Er reist dorthin, zusammen mit seinem Bruder und mit seinem Vater. Sie laufen, sie schauen, sie reden, und sie hören zu. Es ist wie ein Roman, in eine Pilgerreise verwandelt, oder umgekehrt. Die alten, wackligen Erinnerungen, die falschen, geheimen, verschobenen werden, indem sie neu und wahrhaftig erzählt werden, zu stabilen, erzählbaren Geschichten, auf denen die Söhne und der Vater ein gutes, selbstgewisses Leben aufbauen können.
Das alles hat Gideon Lewis-Kraus mit echten Namen aufgeschrieben, so wie er es erlebt hat, er ist der Nächste aus einer ganzen Reihe junger amerikanischer Autoren, die aus der Wirklichkeit und der Recherche und der Anteilnahme an der Welt einen herausragenden literarischen Stil entwickeln, so wie Dave Eggers oder Mark Greif.
Gideon Lewis-Kraus ahnt, dass manches in diesem Buch seinen Vater verletzen könnte, wenn er es liest. Zu lange hat er im Verborgenen gelebt, um das alles so offen vorzufinden. Doch die Zärtlichkeit und Liebe in diesem Buch sind eigentlich zu groß, um jemanden zu verletzen. "Danke, dass ihr mich wieder akzeptiert, in euren bemerkenswerten Leben", schreibt der Vater am Ende an seine Söhne. Und jetzt spielt er auch noch eine Hauptrolle in einem sehr bemerkenswerten Buch.
VOLKER WEIDERMANN
Gideon Lewis-Kraus: "A Sense of Direction". Riverhead Books, 345 Seiten
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der junge amerikanische Autor Gideon Lewis-Kraus ist von Berlin aus in die Welt gepilgert. Um das Rätsel seines Lebens zu lösen
Klar hätte er nicht so viel trinken und kiffen sollen, als er seinen Freund Tom in Tallinn besucht hatte. Jetzt ist er wieder in Berlin, schaut sich die verschwommenen Bilder in seiner Digitalkamera an, die aussehen wie in einem nebligen Helsinki aufgenommen, und liest die einzige Zeile, die er während der vier Estland-Tage in sein Notizbuch geschrieben hat: "Jakobsweg - Zielstrebigkeit - zehnter Juni". Was soll das? Er kann sich beim besten Willen nicht erinnern, warum er das geschrieben hat. Er ruft Tom an, und der weiß es. Sie sind verabredet zum gemeinsamen Pilgern einmal quer durch Spanien. Am zehnten Juni geht es los. Sie wollen nur laufen. Allein mit sich und mit einem einfachen Ziel: vorwärts.
Und das ist nur der Anfang. Im Verlauf des Jahres, im Verlauf dieses schönen, lebensklugen, drogen-, freundschaft- und sexverherrlichenden Buches "A Sense of Direction" (zu Deutsch "Orientierungssinn"), das gerade in Amerika erschienen ist, wird Gideon Lewis-Kraus geradezu in eine Pilgerschaftsabhängigkeit geraten und von Ort zu Ort ziehen, fort aus Welten der unendlichen Freiheiten oder der unendlichen Abhängigkeiten, hinüber in die Wanderwelt der Notwendigkeit, zunächst gemeinsam mit seinem Freund Tom, dann mit seinem Großvater und schließlich mit Bruder und Vater.
Gideon Lewis-Kraus, so heißt er im Buch und so heißt er in der Wirklichkeit, ist 27 Jahre alt, als er sich 2010 in San Francisco aufmacht zum weltberühmten Pilgerort der unendlichen Möglichkeiten: nach Berlin. Er schreibt für "Harper's Magazine", für "n+1" und andere Magazine. Er ist müde von den Gesprächen in San Francisco und in New York, die alle mit den gleichen Fragen beginnen: "Womit verdienst du dein Geld? Wo wohnst du? Wie viel Miete zahlst du?" Er folgt dem amerikanischen Berlin-Abziehbild, auf dem steht: absolute Freiheit von kulturellen und finanziellen Zwängen, minimale Mieten, unendliche Kunst-Möglichkeiten. "Die Gerüchte einer neuen ,Lost Generation' waren ein schreckliches Klischee, aber es war schwer, ihnen zu widerstehen."
Jedes Glücksversprechen wird wahr in diesem Berlin der Jetzt-Feier und der absoluten Gegenwart. Gideon Lewis-Kraus erfährt eine Verwandlung. Zum ersten Mal in seinem Leben als Erwachsener fühlt sich alles richtig an, was er tut. Vor allem das Nichtstun. Die Sonne hier, jede Zigarette, das Soho House, die Kunstausstellungen mit echter Kunst, gefälschter Kunst, echten Galeristen, falschen Galeristen, die Spree, das Badeschiff, junge Menschen von überall, glücklich, da zu sein und die Zeit nach Zigarettenrauchmaßstäben einzuteilen. "Just being there felt glorious, or, more than glorious, felt like enough." Die Menschen, die er trifft, teilen einen beinahe religiösen Glauben an die Möglichkeiten der permanenten Neuerfindung: Nichts ist festgelegt, niemand ist festgelegt, schon morgen kann man ein anderer sein.
Die Freiheiten von Gideon Lewis-Kraus, so beschreibt er es, potenzieren sich ins Unendliche dadurch, dass er Jude ist. Als amerikanischer Jude hat man immer "den Holocaust in der Tasche", schreibt er, den man nach Belieben herausziehen könne und der einem zum Beispiel erlaubt, die örtliche Kultur zu missachten oder mit jeder Frau zu schlafen, mit der du willst, "selbst wenn sie einen Freund hat". Für Lewis-Kraus ist das eigentlich nur ein Witz. Unlustig dagegen schildert er Juden wie etwa den Architekten Daniel Libeskind, die sich permanent selbst zu der Tatsache gratulierten, den Deutschen den Holocaust vergeben zu haben. "Das war Vergebung als Macht und als Arroganz."
Er selbst kennt sich mit dem Judentum ganz gut aus, denn sein Vater ist Rabbi, was für den Sohn eigentlich keine große Sache ist. Eine große Sache ist jedoch, dass er ein schwuler Rabbi ist, der dreißig Jahre seines Lebens für sein Coming-out gebraucht hat. Es steht auf wackligen Füßen, das Leben von Gideon Lewis-Kraus, weil die Identität seines Vaters stets auf so unsicheren Füßen stand. Die Unehrlichkeit des Vaters, die Verdruckstheit, das Desinteresse an den Kindern, an seiner Frau, die ganze Flüchtigkeit jetzt, seit dem Coming-out - all das macht den Helden dieses Buches zu einem Suchenden, einem Schwankenden, der von Frau zu Frau, Droge zu Droge, Frage zu Frage eilt. Und erst in der Übergangsstadt Berlin fühlt sich so ein Übergangsleben an wie Glück.
Aber auch das hält nicht für immer. Zunächst denkt er noch, das sei die Stadt Berlin, die sich in einem Jahr so sehr verändert hat, dass dieses Glück sich nicht mehr von selbst einstellt. Als eines Tages eine "Lounge Tausend" eröffnet, denkt er so für sich, dass in seinem Berlin, dem von vor einem Jahr, ein solcher Angebername niemals möglich gewesen wäre. "Da hießen die Bars ,eins' oder ,zwei', maximal ,sechs'. Aber doch niemals ,tausend'".
Schließlich, auf jener Tallinn-Fahrt, erkennt er aber doch, dass er selbst es ist, der dieser ganzen Freiheit überdrüssig geworden ist. Und er macht sich auf zum Jakobsweg, mit Tom. Das Herrliche am Pilgern erkennt er sofort: Es sind die gelben Schilder, die alle paar Schritte die Richtung weisen. Es gibt keine Fragen nach dem Wohin, man braucht kein Google Maps, keine Informationen über die coolste Bar des Abends. Es gibt auch keine Frage nach dem Warum. Es geht ums Laufen. Befreiung von der Freiheit - das ist es, was Gideon Lewis-Kraus hier pilgernd sucht und findet. Oder auch: "Ferien von den ewigen Ferien, die unser Leben sind."
Sofort sind sie begeistert. Schon am zweiten Tag beschließen sie, am Ende des langen Weges wieder von vorn zu beginnen: Pilgern als Lebenszweck. Aber natürlich entscheiden sie sich zweimal am Tag wieder um. Als Lewis-Kraus Wochen später nach vollendeter Wanderung wieder in der Bar "Drei" sitzt und raucht, kommt ihm die Pilgerei wie ein längst vergangener Traum vor.
Aber es hat sich etwas verändert. Es ist das Besondere an dem Buch von Gideon Lewis-Kraus, dass die Veränderungen, die im Erzähler vorgehen, so leise, leicht und nebenbei geschehen. Langsam, Seite für Seite, fügt sich die Grundlage seines Lebens zu einer neuen Festigkeit zusammen. Mit den Geschichten, den Menschen, denen er begegnet und denen er mit wachsendem Interesse zuhört, mit dem Nachdenken über das verborgene Leben seines Vaters und was es mit ihm zu tun hat.
Er wird weiterpilgern, nach dieser ersten Erfahrung. Mit seinem 82-jährigen Großvater Max pilgert er auf der japanischen Insel Shikoku. Max ist einer der rüstigsten und aktivsten Großväter der Welt. Er scheine sich so gar nicht vor dem Tod zu fürchten, sagt Gideon einmal zu ihm. Und Max sagt, ja, er habe eben so ein gutes Leben gehabt, und er sei so dankbar, dass er gesund sei und so viel Zeit mit seiner Familie verbringen konnte. Aber, bevor er sterbe, würde er sich gerne noch mit Gideons Vater aussprechen, leider wisse er nicht, ob es noch dazu kommen werde. Das scheint seine einzige Angst.
Die letzte Wanderung des Buches führt Gideon Lewis-Kraus zur jüdischen Pilgerstadt Uman in der Ukraine. Er reist dorthin, zusammen mit seinem Bruder und mit seinem Vater. Sie laufen, sie schauen, sie reden, und sie hören zu. Es ist wie ein Roman, in eine Pilgerreise verwandelt, oder umgekehrt. Die alten, wackligen Erinnerungen, die falschen, geheimen, verschobenen werden, indem sie neu und wahrhaftig erzählt werden, zu stabilen, erzählbaren Geschichten, auf denen die Söhne und der Vater ein gutes, selbstgewisses Leben aufbauen können.
Das alles hat Gideon Lewis-Kraus mit echten Namen aufgeschrieben, so wie er es erlebt hat, er ist der Nächste aus einer ganzen Reihe junger amerikanischer Autoren, die aus der Wirklichkeit und der Recherche und der Anteilnahme an der Welt einen herausragenden literarischen Stil entwickeln, so wie Dave Eggers oder Mark Greif.
Gideon Lewis-Kraus ahnt, dass manches in diesem Buch seinen Vater verletzen könnte, wenn er es liest. Zu lange hat er im Verborgenen gelebt, um das alles so offen vorzufinden. Doch die Zärtlichkeit und Liebe in diesem Buch sind eigentlich zu groß, um jemanden zu verletzen. "Danke, dass ihr mich wieder akzeptiert, in euren bemerkenswerten Leben", schreibt der Vater am Ende an seine Söhne. Und jetzt spielt er auch noch eine Hauptrolle in einem sehr bemerkenswerten Buch.
VOLKER WEIDERMANN
Gideon Lewis-Kraus: "A Sense of Direction". Riverhead Books, 345 Seiten
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main