Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2014Was sich liebt, das hackt sich
Papi, bist du's? Der Silicon-Valley-Roman von Scott Hutchins handelt beschwingt von den Grundlagen des Menschseins.
Von Oliver Jungen
Frankensteins bemitleidenswertes Monster lernte sprechen, indem es unbemerkt die Alltagsgespräche einer Bauernfamilie belauschte. Das System der Worte entschlüsselte der Namenlose schnell, merkte aber, dass es noch Wichtigeres gab: "Ich verlangte danach, auch ihre Gefühle kennenzulernen." Erst mit den Emotionen, die ihn ins Verderben stürzten, wurde er ganz Mensch: Liebe, Verletzungen, Rache.
Wie kann man Mary Shelleys vielfach adaptierten Roman im Jahr 2014 noch einmal neu zum Leben erwecken? Indem man Frankensteins Labor ins Silicon Valley verlegt und dabei gerade nicht die Omnipotenz der Technik betont. Bei Scott Hutchins spielt zwar ein sprechender Computer, der im bislang von keiner Software bestandenen Turing-Test ein Drittel der Juroren über seine Computernatur hinwegtäuschen soll, eine zentrale Rolle, aber diese Schöpfung, die Hutchins an tatsächliche Projekte der Künstlichen Intelligenz (KI) aus den letzten Jahren angelehnt hat, ist weniger Kreation aus dem Nichts als rationale Totenerweckung.
Um eine Überführung von echtem Kommunikationsverhalten in KI geht es bei dem Vorhaben des steinalten und etwas tüddeligen europäischen Visionärs Henry Livorno (das toskanische Livorno spielt übrigens eine gewisse Rolle in der erwähnten "Frankenstein"-Szene, und auch hier ist Italien die Fluchtperspektive). Allerdings greift dieses Projekt nicht, wie es heute wohl am leichtesten wäre, auf das digitale Komplettprofil einer Person zurück, sondern, so viel Retro-Charme erlaubt sich der Autor, auf die traditionelle Form der Meinungsarchivierung. Die Grundlage des sprechenden Monsters nämlich ist das fünftausendseitige, zwanzig Jahre umfassende Tagebuch des Arztes Neill Bassett, eines "Samuel Pepys der Südstaaten": "Die Idee dahinter ist, dass die verborgenen Bezüge der Einträge einen logischen Zusammenhang darstellen, eine Persönlichkeit also, die allen vorangegangenen derartigen Projekten . . . fehlte."
In regeltechnisch immer weiter verfeinerten Chats trainiert Neill Bassett junior, ein sympathischer, bindungsunfähiger Mittdreißiger und eigentliche Hauptfigur (sowie Ich-Erzähler), über Jahre hinweg die Vater-Maschine. Zusätzlich integriert das Team eine "Sieben Todsünden"-Software, um den Computer namens "drbas" mit einem Willen auszustatten. Das Ziel ist die perfekte Illusion, denn für den Positivisten Livorno besteht zwischen Schein und Sein kein Unterschied (womit zugleich die gravitätische Prometheus-Programmatik lässig unterlaufen ist). Neill freilich muss sich mit der Ehe seiner Eltern sowie mit den Depressionen und dem Selbstmord des Vaters auseinandersetzen.
Immer häufiger fragt der Protagonist den Vater-Avatar aber auch in eigenen Angelegenheiten um Rat, denn gerade in Liebesdingen klaffen Schein und Sein denn doch auseinander. Gefühlstechnisch ist Neill zwischen seiner Exfrau Erin, einer selbstbewussten Programmiererin, sowie der blutjungen, für New-Age-Formen der Sinnstiftung empfänglichen Rachel hin und her gerissen. Nicht das Schwanken ist aber Neills Hauptproblem, sondern seine zwanghafte Nähevermeidung. Was bleibt, ist unerfüllbare Sehnsucht und viel Enttäuschung. Rachel flüchtet derweil in eine Freie-Liebe-Sekte, die jede Form von Geräte-Sexualität - vom Dildo bis zum Roboter-Beischlaf - im Namen des "limbischen Klicks", der spirituellen Verbindung, bekämpft. Neill konkurriert zwar mit der Sekte um Rachel, an der ihm mehr liegt, als er sich selbst eingestehen will, aber dieser geistig-körperlichen Sicht der Liebe kann er einiges abgewinnen.
Man verrät nicht zu viel, wenn man andeutet, dass sich die Implementierung dieses starken Gefühls (und seiner Folgen) als entscheidender Schritt auf dem Weg zum Bewusstsein erweist, was wiederum Neill immer affektiver auf die Maschine reagieren lässt. Es treffen zwei vorläufige Theorien der Liebe aufeinander: Dem kühl systemtheoretischen Verständnis - Liebe als Sozialsemantik - steht der alles rekodierende Liebestaumel à la Roland Barthes gegenüber, wobei hier für Letzteren ein sehr schön digitaladäquater Ausdruck gefunden wird: "Im Zweifel eher Ja als Nein."
Die Parallelisierung des privaten Liebesunglücks und der ultimativen KI-Ertüchtigung mag auf den ersten Blick arg konzeptionell wirken, die Vater-Sohn-Beziehung gar vulgärpsychologisch. Beim Lesen des Romans stellt sich diese Wirkung jedoch keineswegs ein, was nicht zuletzt daran liegt, dass Hutchins, der mitten im Silicon Valley an der Stanford-Universität Creative Writing unterrichtet, einen charmant-flotten und in den Dialogen (auch jenen zwischen Neill und "drbas") schlagfertigen Stil pflegt. Mit Ironie führt er uns das entwurzelte Leben eines Hipsters vor Augen, der Geld und Zeit genug hat, an der eigenen Redundanz zu laborieren.
Vor allem aber vertieft sich der Autor voller Lust und Kenntnisreichtum in die produktiven Widersprüche San Franciscos, in jene ganz eigene Mischung von Natur-Stolz und Techno-Esoterik, von Allmacht und Verunsicherung: "Was ist mit uns amerikanischen Männern passiert? Früher haben wird die Welt geplündert wie fröhliche Piraten - und nun, da sie uns praktisch gehört, sitzen wir im Lotossitz in einer paradiesischen Landschaft . . . und meditieren über Verlust und Verbitterung." Doch die erdenthobene San Francisco Bay Area wird nicht denunziert, im Gegenteil: "Eine vorläufige Theorie der Liebe" ist nicht zuletzt ein Stadtroman, der als sonniges Pendant zu Jonathan Lethems intellektuellen Liebeserklärungen an New York gelten kann.
Die Subtilität lässt mitunter zu wünschen übrig: So verüben die Anhänger der wahren Liebe eine Serie von Brandanschlägen auf Sexshops, und Livorno wie ein Konkurrent namens Toler sind zu Karikaturen geraten. Zudem geht dem Autor im letzten Drittel ein wenig die Luft aus, obwohl gerade hier wichtige Enthüllungen abgearbeitet werden und der große Turing-Test endlich stattfindet. Und doch ist dieser intelligente, aber nie philosophisch auftrumpfende Debütroman über einen viele Jahre nach seinem Tod allmählich zum Digitalleben erwachenden und dabei den eigenen Sohn emotional reprogrammierenden Puritaner in seiner Leichtfüßigkeit ein großes Lesevergnügen.
Scott Hutchins: "Eine vorläufige Theorie der Liebe". Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Piper Verlag, München 2014. 416 S., geb., 21,99 [Euro].
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Papi, bist du's? Der Silicon-Valley-Roman von Scott Hutchins handelt beschwingt von den Grundlagen des Menschseins.
Von Oliver Jungen
Frankensteins bemitleidenswertes Monster lernte sprechen, indem es unbemerkt die Alltagsgespräche einer Bauernfamilie belauschte. Das System der Worte entschlüsselte der Namenlose schnell, merkte aber, dass es noch Wichtigeres gab: "Ich verlangte danach, auch ihre Gefühle kennenzulernen." Erst mit den Emotionen, die ihn ins Verderben stürzten, wurde er ganz Mensch: Liebe, Verletzungen, Rache.
Wie kann man Mary Shelleys vielfach adaptierten Roman im Jahr 2014 noch einmal neu zum Leben erwecken? Indem man Frankensteins Labor ins Silicon Valley verlegt und dabei gerade nicht die Omnipotenz der Technik betont. Bei Scott Hutchins spielt zwar ein sprechender Computer, der im bislang von keiner Software bestandenen Turing-Test ein Drittel der Juroren über seine Computernatur hinwegtäuschen soll, eine zentrale Rolle, aber diese Schöpfung, die Hutchins an tatsächliche Projekte der Künstlichen Intelligenz (KI) aus den letzten Jahren angelehnt hat, ist weniger Kreation aus dem Nichts als rationale Totenerweckung.
Um eine Überführung von echtem Kommunikationsverhalten in KI geht es bei dem Vorhaben des steinalten und etwas tüddeligen europäischen Visionärs Henry Livorno (das toskanische Livorno spielt übrigens eine gewisse Rolle in der erwähnten "Frankenstein"-Szene, und auch hier ist Italien die Fluchtperspektive). Allerdings greift dieses Projekt nicht, wie es heute wohl am leichtesten wäre, auf das digitale Komplettprofil einer Person zurück, sondern, so viel Retro-Charme erlaubt sich der Autor, auf die traditionelle Form der Meinungsarchivierung. Die Grundlage des sprechenden Monsters nämlich ist das fünftausendseitige, zwanzig Jahre umfassende Tagebuch des Arztes Neill Bassett, eines "Samuel Pepys der Südstaaten": "Die Idee dahinter ist, dass die verborgenen Bezüge der Einträge einen logischen Zusammenhang darstellen, eine Persönlichkeit also, die allen vorangegangenen derartigen Projekten . . . fehlte."
In regeltechnisch immer weiter verfeinerten Chats trainiert Neill Bassett junior, ein sympathischer, bindungsunfähiger Mittdreißiger und eigentliche Hauptfigur (sowie Ich-Erzähler), über Jahre hinweg die Vater-Maschine. Zusätzlich integriert das Team eine "Sieben Todsünden"-Software, um den Computer namens "drbas" mit einem Willen auszustatten. Das Ziel ist die perfekte Illusion, denn für den Positivisten Livorno besteht zwischen Schein und Sein kein Unterschied (womit zugleich die gravitätische Prometheus-Programmatik lässig unterlaufen ist). Neill freilich muss sich mit der Ehe seiner Eltern sowie mit den Depressionen und dem Selbstmord des Vaters auseinandersetzen.
Immer häufiger fragt der Protagonist den Vater-Avatar aber auch in eigenen Angelegenheiten um Rat, denn gerade in Liebesdingen klaffen Schein und Sein denn doch auseinander. Gefühlstechnisch ist Neill zwischen seiner Exfrau Erin, einer selbstbewussten Programmiererin, sowie der blutjungen, für New-Age-Formen der Sinnstiftung empfänglichen Rachel hin und her gerissen. Nicht das Schwanken ist aber Neills Hauptproblem, sondern seine zwanghafte Nähevermeidung. Was bleibt, ist unerfüllbare Sehnsucht und viel Enttäuschung. Rachel flüchtet derweil in eine Freie-Liebe-Sekte, die jede Form von Geräte-Sexualität - vom Dildo bis zum Roboter-Beischlaf - im Namen des "limbischen Klicks", der spirituellen Verbindung, bekämpft. Neill konkurriert zwar mit der Sekte um Rachel, an der ihm mehr liegt, als er sich selbst eingestehen will, aber dieser geistig-körperlichen Sicht der Liebe kann er einiges abgewinnen.
Man verrät nicht zu viel, wenn man andeutet, dass sich die Implementierung dieses starken Gefühls (und seiner Folgen) als entscheidender Schritt auf dem Weg zum Bewusstsein erweist, was wiederum Neill immer affektiver auf die Maschine reagieren lässt. Es treffen zwei vorläufige Theorien der Liebe aufeinander: Dem kühl systemtheoretischen Verständnis - Liebe als Sozialsemantik - steht der alles rekodierende Liebestaumel à la Roland Barthes gegenüber, wobei hier für Letzteren ein sehr schön digitaladäquater Ausdruck gefunden wird: "Im Zweifel eher Ja als Nein."
Die Parallelisierung des privaten Liebesunglücks und der ultimativen KI-Ertüchtigung mag auf den ersten Blick arg konzeptionell wirken, die Vater-Sohn-Beziehung gar vulgärpsychologisch. Beim Lesen des Romans stellt sich diese Wirkung jedoch keineswegs ein, was nicht zuletzt daran liegt, dass Hutchins, der mitten im Silicon Valley an der Stanford-Universität Creative Writing unterrichtet, einen charmant-flotten und in den Dialogen (auch jenen zwischen Neill und "drbas") schlagfertigen Stil pflegt. Mit Ironie führt er uns das entwurzelte Leben eines Hipsters vor Augen, der Geld und Zeit genug hat, an der eigenen Redundanz zu laborieren.
Vor allem aber vertieft sich der Autor voller Lust und Kenntnisreichtum in die produktiven Widersprüche San Franciscos, in jene ganz eigene Mischung von Natur-Stolz und Techno-Esoterik, von Allmacht und Verunsicherung: "Was ist mit uns amerikanischen Männern passiert? Früher haben wird die Welt geplündert wie fröhliche Piraten - und nun, da sie uns praktisch gehört, sitzen wir im Lotossitz in einer paradiesischen Landschaft . . . und meditieren über Verlust und Verbitterung." Doch die erdenthobene San Francisco Bay Area wird nicht denunziert, im Gegenteil: "Eine vorläufige Theorie der Liebe" ist nicht zuletzt ein Stadtroman, der als sonniges Pendant zu Jonathan Lethems intellektuellen Liebeserklärungen an New York gelten kann.
Die Subtilität lässt mitunter zu wünschen übrig: So verüben die Anhänger der wahren Liebe eine Serie von Brandanschlägen auf Sexshops, und Livorno wie ein Konkurrent namens Toler sind zu Karikaturen geraten. Zudem geht dem Autor im letzten Drittel ein wenig die Luft aus, obwohl gerade hier wichtige Enthüllungen abgearbeitet werden und der große Turing-Test endlich stattfindet. Und doch ist dieser intelligente, aber nie philosophisch auftrumpfende Debütroman über einen viele Jahre nach seinem Tod allmählich zum Digitalleben erwachenden und dabei den eigenen Sohn emotional reprogrammierenden Puritaner in seiner Leichtfüßigkeit ein großes Lesevergnügen.
Scott Hutchins: "Eine vorläufige Theorie der Liebe". Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Piper Verlag, München 2014. 416 S., geb., 21,99 [Euro].
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