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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2010

In der Hoffnung, dass das Schicksal sich doch noch einmal wendet

Junge Autorinnen haben in Tschechien die alte Garde abgelöst: "Aarons Sprung" aus der Feder der 1970 geborenen Magdaléna Platzová gehört zum Besten, was das Land in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat.

Man fragt sich gelegentlich, wieso aus einem doch relativ kleinen Land, der Tschechischen Republik, plötzlich so viele interessante Autorinnen kommen. Die "alte" Garde der tschechischen Literatur, die lange von dem Ruhm gezehrt hat, den sie sich als intellektuell-politische Elite des "Prager Frühlings" erworben hatte, ist mehrheitlich abgetreten. Die Erinnerung sowohl an den Kommunismus wie auch an die nun vierzig Jahre zurückliegenden dramatischen Ereignisse von achtundsechzig sind in der Bevölkerung, zumal bei der Jugend, verblasst und auch nicht mehr literaturfähig.

Der thematische Ausweg in die eigene Befindlichkeit und die oft triste Lebenswirklichkeit des nunmehr demokratisch-kapitalistischen Landes hat zwar einige interessante Romane hervorgebracht, zu denen auch die ersten beiden Bücher der 1970 in Prag geborenen Magdaléna Platzová gehören. Aber ein wirklich packendes Thema, das einen Bogen spannt von der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und der Gegenwart, hat die Autorin erst in ihrem neuen Roman gefunden, der zu den herausragenden Büchern der jungen tschechischen Literatur gezählt werden muss. Die Geschichte umspannt drei Generationen und greift auf eine ungewöhnlich sensible Art das verdrängte Thema der von den Nationalsozialisten deportierten jüdischen Mitbürger auf, das in einem biographischen Abschnitt bis nach Israel verlängert wird.

Wie sehr dieser Teil der Geschichte vergessen ist, zeigt die Enkelin der Hauptfigur des Romans. Für die vierundzwanzigjährige Milena hatte es "nie einen Grund gegeben, sich für Theresienstadt zu interessieren". Aber das Konzentrationslager Theresienstadt, "nur einen Katzensprung von Prag" entfernt, ist der ebenso realistische wie symbolische Ort, um den sich die Romanhandlung dreht. Ausgelöst wird sie durch ein israelisches Fernsehteam, das eine Dokumentation über die Malerin Berta Altman dreht und deren Jugendfreundin, Krystina Hladkova, ebenfalls eine Künstlerin und die Großmutter von Milena, interviewt. Schritt für Schritt wird so das Leben von Berta Altmann aufgerollt.

In Wien Ende des neunzehnten Jahrhunderts geboren, besucht sie die berühmte Malklasse von Johannes Itten, dem sie später ans Bauhaus nach Weimar folgt. Die Szenen aus der avantgardistischen Kunstakademie, in denen die berühmten Lehrer in kurzen, aber überaus präzisen Porträts geschildert werden, gehören zu den sprachlichen und psychologischen Höhepunkten des Buches. Das Schicksal von Berta Altmann ist der Biografie der Malerin Friedl Dicker-Brandeis (1898 bis 1944) nachempfunden, die in Auschwitz ermordet wurde. Wer heute in Prag das Jüdische Museum besucht, wird dort anrührende Kinderzeichnungen aus Theresienstadt sehen, die unter Anleitung von Dicker-Brandeis entstanden sind.

Berta hat zunehmend das Gefühl, in ihrem Leben nichts geleistet zu haben. In ihren Tagebüchern zieht sie eine unerbittliche Bilanz: "So ende ich also. Als Malerin habe ich nichts zustande gebracht, und als Frau habe ich völlig versagt." Als sie sich von ihrer ersten großen Liebe trennt, hat sie bis zur letzten Minute noch die Hoffnung, das Schicksal würde sich doch noch wenden. Die letzte Umarmung ist dann nur noch eine "leere Berührung der Körper".

Aber stimmt diese negative Lebensbilanz wirklich? Magdaléna Platzová zeichnet zwar das Bild des äußeren Scheiterns, lässt aber gleichzeitig eine faszinierende innere Biographie aufscheinen, die in einem einzigen Satz kulminiert, der in seiner absurden Monumentalität den Grundton des Buches setzt: "Berta hat sich in Theresienstadt befreit." Den Kindern hat sie mit ihrem Malunterricht ein Stückchen Kindheit zurückgegeben, sich selbst ihre Identität als Künstlerin.

Das alles reflektiert und erzählt Krystina, die die Tagebücher ihrer Freundin hütet - und ein Geheimnis, das sie ein Leben lang selbst vor ihrem eigenen Sohn verbirgt. Krystina hätte der verzweifelten Berta in der Nacht vor der Deportation helfen können, hätte sie nur begriffen, warum ihre Freundin geweint hat. Nicht aus Angst vor ihrem Schicksal, sondern aus Verzweiflung über ihr Leben. Aber Krystina sehnt sich nach Bertas Mann Milan, ebenfalls einen Juden, der nach Auschwitz deportiert wird - und überlebt. Die beiden heiraten, Krystina bekommt einen Sohn, aber Milan verlässt sie und emigriert nach Israel. Die alte Frau kann ihm noch immer weder verzeihen, noch kann sie seinen Schritt verstehen. Fünfzig Jahre lang schreibt er ihr und sein letzter Brief ist ein anrührendes Dokument für die lebenslange psychische Zerstörung, mit der die Überlebenden des Holocaust fertig werden müssen. Erst die Fernsehaufnahmen lösen in Krystina den Knoten, sie vertraut sich kurz vor ihrem Tod einem jungen Priester an und beichtet. Die Tagebücher Bertas und die Briefe Milans vernichtet sie nicht, bringt es aber auch nicht fertig, ihrem Sohn die Wahrheit über seinen Vater zu sagen.

Milena, die Enkelin, hat aus Liebe zur Großmutter Verständnis für deren Schweigen, der Sohn verurteilt seine Mutter. Aber beide sind entschlossen, die israelische Familie des Vaters aufzusuchen, und für Milena, die sich in den Kameramann des Fernsehteams verliebt hat, ihm ihre Gefühle aber nicht gestehen konnte, ist dies der Grund, den Kontakt zu Aaron wiederaufzunehmen. Ein Kreis über drei Generationen und eine komplizierte und fast vergessene Geschichte ihres Landes und ihrer Familie könnte sich schließen. Könnte - wenn Aaron, der selbst in eine zunehmend unglückliche Ehe verstrickt ist - wenn dieser Aaron den Sprung wagt, der dem Buch den Titel gegeben hat. Magdaléna Platzová lässt diese letzte Frage offen, zu viele der zuvor über Jahrzehnte ungelösten Fragen hat sie in ihrem Roman bereits aufgedeckt und beantwortet, die Zukunft wird nicht dazu gehören.

Der Roman beeindruckt nicht nur durch seine Geschichte, sondern auch durch seinen weit gespannten Reflexionsbogen. Sowohl das längst nicht abgeschlossene Kapitel der Juden in der Ersten Tschechischen Republik und der spätere Umgang des kommunistischen Staates mit dieser Vergangenheit wird aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt und reflektiert. Auch das Verhältnis von Kunst und Politik, der Moral der Intellektuellen, die später eine so große Rolle gespielt hat, wird in den Dialogen der Protagonisten aufgerollt und hier aus einer historisch völlig anderen Perspektive beleuchtet, als es in der zeitgenössischen tschechischen Literatur bisher der Fall war.

Dabei spielt Magdalena Platzova souverän mit den verschiedenen Sprachebenen, die sie in Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und dem Erzählstrang variiert. Dass dies auch in der deutschen Übersetzung zum Tragen kommt, ist das Verdienst der Übersetzerin Kathrin Janka. "Aarons Sprung" ist eines der besten Bücher, die uns in der letzten Zeit aus Tschechien erreicht haben, und es ist gleichzeitig ein früher Höhepunkt in der Kunst dieser Autorin.

HANS-PETER RIESE

Magdaléna Platzová: "Aarons Sprung". Roman. Aus dem Tschechischen von Kathrin Janka. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2009. 250 S., geb., 17,90 [Euro].

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