Hauptsache gestört - müssen wir alle zur Therapie?
In einer immer komplexer werdenden Gesellschaft mit hohem Leistungsdruck nehmen psychische Probleme zwangsläufig zu. Die drei Behandlungsmethoden, die in Deutschland von den Krankenkassen anerkannt werden - Tiefenpsychologische Psychotherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie - reagieren darauf, indem sie jeder psychischen Störung Krankheitswert zuweisen. Arbeitssucht, Internetsucht, Burn-out, Depression usw. - jedes Problem erscheint plötzlich therapiewürdig. Gleichzeitig steigt die Einnahme etwa von Antidepressiva beinahe um das Fünffache: Ein Volk wird für psychisch pathologisiert und psychopharmakologisch angefüttert.
Michael Mary wirft einen kritischen Blick auf die Entwicklung der Psychotherapie. Denn seit sie unter staatliche Aufsicht gestellt ist, geht es mit ihr bergab. Um Menschen mit normalen Problemen oder durch Krisen begleiten zu können, müssen sie für psychisch krank erklärt und in ein fragwürdiges Diagnose- und Behandlungssystem gezwängt werden. Dabei wird so getan, als könnte Psychotherapie wissenschaftlich sein, als wären Gutachten und Diagnosen objektiv und als könnte Effizienz garantiert werden.
Der Autor zeigt aber, dass die meisten psychischen Probleme keinen Krankheitswert haben, sondern in Wahrheit schon den Keim zu ihrer Lösung in sich bergen. Daher kann nur ein Therapeut, der sich nicht an Vorgaben und Ziffern orientiert, sondern der sich auf sein Gegenüber einlässt, nicht in Form einer Behandlung, sondern nur in Form einer Beletigung gemeinsam mit dem Klienten einen Weg aus einer Krise finden. Zudem entwirft der Autor im Buch den Grundriss einer "Psychotherapie des Graubereichs". Damit ist eine Psychotherapie gemeint, die in psychischen Problemen ganz normale Phänomene sieht - die unvermeidbar in einer Gesellschaft entstehen, in der man nicht mehr mit einer einzigen Identität auskommt, in der man nicht mehr nur eine Person sein kann, in der man nicht über eine klar definierte Persönlichkeit verfügt, sondern in der man gezwungen ist, 'viele' Personen zu sein.
In einer immer komplexer werdenden Gesellschaft mit hohem Leistungsdruck nehmen psychische Probleme zwangsläufig zu. Die drei Behandlungsmethoden, die in Deutschland von den Krankenkassen anerkannt werden - Tiefenpsychologische Psychotherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie - reagieren darauf, indem sie jeder psychischen Störung Krankheitswert zuweisen. Arbeitssucht, Internetsucht, Burn-out, Depression usw. - jedes Problem erscheint plötzlich therapiewürdig. Gleichzeitig steigt die Einnahme etwa von Antidepressiva beinahe um das Fünffache: Ein Volk wird für psychisch pathologisiert und psychopharmakologisch angefüttert.
Michael Mary wirft einen kritischen Blick auf die Entwicklung der Psychotherapie. Denn seit sie unter staatliche Aufsicht gestellt ist, geht es mit ihr bergab. Um Menschen mit normalen Problemen oder durch Krisen begleiten zu können, müssen sie für psychisch krank erklärt und in ein fragwürdiges Diagnose- und Behandlungssystem gezwängt werden. Dabei wird so getan, als könnte Psychotherapie wissenschaftlich sein, als wären Gutachten und Diagnosen objektiv und als könnte Effizienz garantiert werden.
Der Autor zeigt aber, dass die meisten psychischen Probleme keinen Krankheitswert haben, sondern in Wahrheit schon den Keim zu ihrer Lösung in sich bergen. Daher kann nur ein Therapeut, der sich nicht an Vorgaben und Ziffern orientiert, sondern der sich auf sein Gegenüber einlässt, nicht in Form einer Behandlung, sondern nur in Form einer Beletigung gemeinsam mit dem Klienten einen Weg aus einer Krise finden. Zudem entwirft der Autor im Buch den Grundriss einer "Psychotherapie des Graubereichs". Damit ist eine Psychotherapie gemeint, die in psychischen Problemen ganz normale Phänomene sieht - die unvermeidbar in einer Gesellschaft entstehen, in der man nicht mehr mit einer einzigen Identität auskommt, in der man nicht mehr nur eine Person sein kann, in der man nicht über eine klar definierte Persönlichkeit verfügt, sondern in der man gezwungen ist, 'viele' Personen zu sein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2013Alles so unübersichtlich hier
Geschäfte machen in einer Grauzone: Der Psychotherapeut Michael Mary geißelt seine Branche
Dem Hamburger Paarberater Michael Mary gelingt es, seine Kollegen aus der Psychotherapeuten-Zunft über Dinge aus dem Nähkästchen plaudern zu lassen, die dem Betrieb nicht zur Ehre gereichen. Da ist zum Beispiel die Therapeutin, die im Seminar offen zugibt, dass sie die Nöte ihres Patienten und dessen Behandlung der Abrechnung wegen nicht wahrheitsgemäß dokumentiert. Oder die Oberärztin einer psychotherapeutischen Fachklinik, deren Verwaltung die Betten gern gefüllt sähe, wenn auch nicht notgedrungen mit "echten" Patienten, aber man "macht" ihnen schon eine passende Diagnose. Notfalls "verschärft" sie der Arzt, wenn der Aufenthalt länger dauern soll. Ob solche Beispiele aber genügen, um die Psychotherapielandschaft einer fundierten Kritik zu unterziehen, wie der Autor es in seinem Buch "Ab auf die Couch" versucht, muss bezweifelt werden. Allzu leicht sind seine Argumente auszuhebeln.
Dass man es im Bereich der psychologischen Diagnostik mit Grauzonen zu tun hat, desavouiert noch nicht das Bemühen, überhaupt psycho-diagnostische Kategorien zu bilden. Dass man Menschen zu Kranken umdefiniert, die nur Probleme haben, die sie nach Marys Ansicht haben dürfen, ist ebenfalls kein Trend, mit dem die Psychotherapie allein zu kämpfen hat. Auch andere Fachrichtungen tendieren dazu, das ungesicherte Terrain zwischen krank und gesund zu erobern - schon die Senkung eines Laborwertes kann hierfür genügen.
Schließlich ist die Behauptung schwer nachzuvollziehen, dass das Übel begonnen haben soll, als Psychotherapien von den Krankenkassen bezahlt wurden, diese dafür aber möglichst nur wirksame Verfahren erstatten wollten. So erhalten immerhin jene Bedürftigen die Chance auf eine professionelle Psychotherapie, die sich die Preise, die Mary auf seiner Homepage anbietet, trotz Staffelung nicht lange leisten könnten. Selbst wenn es im Einzelfall noch so umstritten sein mag, mit Hilfe der Erstattungsfähigkeit Qualitätskontrolle betreiben zu wollen: Dass sich nicht jeder Beliebige, der an der Psyche herumdoktert, Psychotherapeut nennen darf, um sich am Budget der Kassenärzte gütlich zu tun, ist letztlich zu begrüßen.
Vielleicht kann der Leser dem frustrierten Rundumschlag aber nur nicht folgen, weil, so Mary, die Zusammenhänge unüberschaubar geworden sind? Aber auch die Bedingungen sind für ihn unüberschaubar, das Leben ist inzwischen unüberschaubar, nicht zu vergessen ist die Gesellschaft heutzutage unüberschaubar. Überschaubarer war dagegen die Urgesellschaft, seinerzeit genügten zur Psycho-Regulation noch Schamanen, auch wenn diese "einfach gestrickt" waren und nicht mit "vielfältigen Identitäten" umzugehen wussten. Urgesellschafts-Historiker lesen das besser nicht, sonst müssen sie absehbar ab auf die Couch.
MARTINA LENZEN-SCHULTE
Michael Mary: "Ab auf die Couch!" Wie Psychotherapeuten immer neue Krankheiten erfinden und immer weniger Hilfe leisten.
Karl Blessing Verlag, München 2013. 272 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschäfte machen in einer Grauzone: Der Psychotherapeut Michael Mary geißelt seine Branche
Dem Hamburger Paarberater Michael Mary gelingt es, seine Kollegen aus der Psychotherapeuten-Zunft über Dinge aus dem Nähkästchen plaudern zu lassen, die dem Betrieb nicht zur Ehre gereichen. Da ist zum Beispiel die Therapeutin, die im Seminar offen zugibt, dass sie die Nöte ihres Patienten und dessen Behandlung der Abrechnung wegen nicht wahrheitsgemäß dokumentiert. Oder die Oberärztin einer psychotherapeutischen Fachklinik, deren Verwaltung die Betten gern gefüllt sähe, wenn auch nicht notgedrungen mit "echten" Patienten, aber man "macht" ihnen schon eine passende Diagnose. Notfalls "verschärft" sie der Arzt, wenn der Aufenthalt länger dauern soll. Ob solche Beispiele aber genügen, um die Psychotherapielandschaft einer fundierten Kritik zu unterziehen, wie der Autor es in seinem Buch "Ab auf die Couch" versucht, muss bezweifelt werden. Allzu leicht sind seine Argumente auszuhebeln.
Dass man es im Bereich der psychologischen Diagnostik mit Grauzonen zu tun hat, desavouiert noch nicht das Bemühen, überhaupt psycho-diagnostische Kategorien zu bilden. Dass man Menschen zu Kranken umdefiniert, die nur Probleme haben, die sie nach Marys Ansicht haben dürfen, ist ebenfalls kein Trend, mit dem die Psychotherapie allein zu kämpfen hat. Auch andere Fachrichtungen tendieren dazu, das ungesicherte Terrain zwischen krank und gesund zu erobern - schon die Senkung eines Laborwertes kann hierfür genügen.
Schließlich ist die Behauptung schwer nachzuvollziehen, dass das Übel begonnen haben soll, als Psychotherapien von den Krankenkassen bezahlt wurden, diese dafür aber möglichst nur wirksame Verfahren erstatten wollten. So erhalten immerhin jene Bedürftigen die Chance auf eine professionelle Psychotherapie, die sich die Preise, die Mary auf seiner Homepage anbietet, trotz Staffelung nicht lange leisten könnten. Selbst wenn es im Einzelfall noch so umstritten sein mag, mit Hilfe der Erstattungsfähigkeit Qualitätskontrolle betreiben zu wollen: Dass sich nicht jeder Beliebige, der an der Psyche herumdoktert, Psychotherapeut nennen darf, um sich am Budget der Kassenärzte gütlich zu tun, ist letztlich zu begrüßen.
Vielleicht kann der Leser dem frustrierten Rundumschlag aber nur nicht folgen, weil, so Mary, die Zusammenhänge unüberschaubar geworden sind? Aber auch die Bedingungen sind für ihn unüberschaubar, das Leben ist inzwischen unüberschaubar, nicht zu vergessen ist die Gesellschaft heutzutage unüberschaubar. Überschaubarer war dagegen die Urgesellschaft, seinerzeit genügten zur Psycho-Regulation noch Schamanen, auch wenn diese "einfach gestrickt" waren und nicht mit "vielfältigen Identitäten" umzugehen wussten. Urgesellschafts-Historiker lesen das besser nicht, sonst müssen sie absehbar ab auf die Couch.
MARTINA LENZEN-SCHULTE
Michael Mary: "Ab auf die Couch!" Wie Psychotherapeuten immer neue Krankheiten erfinden und immer weniger Hilfe leisten.
Karl Blessing Verlag, München 2013. 272 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wenig hilfreich findet Volker Breidecker das Buch des Paarberaters Michael Mary. Was als Eigenwerbung gut taugt, meint Breidecker, wirkt als Versuch, das Behandlungsmonopol von kassenkonformer Psychoanalyse und Verhaltenstherapie zugunsten eines freien Therapiemarktes in Frage zu stellen, leicht und billig, da der Autor bedürftige Patienten damit Quacksalbern und einer ungelösten Finanzierungsfrage ausliefert, wie der Rezensent kritisiert. Den vom Autor für sein Buch herangezogenen theoretischen Teil der Luhmann-Schule entlarvt der Rezensent zudem als versatzstückartig. Aufklärung sieht für Breidecker anders aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH