Friederike Roth setzt mit Ihrem neuen Buch eine Zäsur: Sie setzt neu an. Und zugleich thematisiert "Abendlandnovelle" diesen Neubeginn, denn sie handelt vom Wagnis, einen Anfang zu setzen im klaren Bewußtsein, daß jeder Anfang sein Ende immer schon mit sich führt, daß der erste Satz eines Textes zwangsläufig mit dem letzten Satz endet: "Im endlosen Anfangsgewirbel / dem riesigen Reservat aller Aufbruchsvisionen / aller Optionen auf alles / auf denkbar und undenkbar Mögliches / das bodenlose Entsetzen: / der einmal gemachte Schritt / verdirbt jeden anderen."
Zwischen Anfang und Ende tauchen die ewig alten Fragen auf, "die handeln von Gott und der Welt / und dem Tod und der Liebe / von Leben Kunst Geld." Und was, wenn alle zwischen Anfang und Ende ausgespannten, ausgebreiteten, ausgemärten Geschichten, alle Lebens- und Textgeschichten, sich als Wiederholungen in endlosen Variationen erweisen? Wenn das Wagnis zum Schrecken wird vor den bekannten Zwangsläufigkeiten von Ereignisketten, vor deren Ende man vielleicht doch lieber stumm bliebe? "War immer schon / Zerstörung und Rekonstruktion / und Neukonstruktion und wieder Zerstörung / Menschenhandwerk, warum taugt es dann auch / für üppig nutzlose Schönheit?"Wäre da nicht eben doch "eine Ahnung von Gelungenheit ohne Bedrohung ... etwas wie blauer Himmel", das uns mit unseren Sätzen weitertreibt dorthin, wo aber wieder "alle auf alle treffen", wo Väter schreien, Mütter weinen, jeder jeden kennt und man sich doch ganz und gar fremd ist: "Nie wollte man dahin kommen / nie, und ist eben doch / immer schon mittendrin".
Zwischen Anfang und Ende tauchen die ewig alten Fragen auf, "die handeln von Gott und der Welt / und dem Tod und der Liebe / von Leben Kunst Geld." Und was, wenn alle zwischen Anfang und Ende ausgespannten, ausgebreiteten, ausgemärten Geschichten, alle Lebens- und Textgeschichten, sich als Wiederholungen in endlosen Variationen erweisen? Wenn das Wagnis zum Schrecken wird vor den bekannten Zwangsläufigkeiten von Ereignisketten, vor deren Ende man vielleicht doch lieber stumm bliebe? "War immer schon / Zerstörung und Rekonstruktion / und Neukonstruktion und wieder Zerstörung / Menschenhandwerk, warum taugt es dann auch / für üppig nutzlose Schönheit?"Wäre da nicht eben doch "eine Ahnung von Gelungenheit ohne Bedrohung ... etwas wie blauer Himmel", das uns mit unseren Sätzen weitertreibt dorthin, wo aber wieder "alle auf alle treffen", wo Väter schreien, Mütter weinen, jeder jeden kennt und man sich doch ganz und gar fremd ist: "Nie wollte man dahin kommen / nie, und ist eben doch / immer schon mittendrin".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2011Ausbruch eines Wortvulkans
Lange genug geschwiegen: Friederike Roth ist zurück
Von Walter Hinck
Als Friederike Roth 1983 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie nach Klagenfurt schon mit der Empfehlung eines beachtlichen dichterischen Werks gekommen. Die beim Süddeutschen Rundfunk angestellte Hörspielredakteurin hatte beim Sprachtheoretiker Max Bense in Stuttgart studiert und ihre Lektion über die Eigengesetzlichkeit der Sprache gelernt, ohne ihr die Freiheit der poetischen Eingebung zu opfern; den Durchbruch brachte ihr Gedichtband "Tollkirschenzeit" (1978). Schon hatte sie sich mit Theaterstücken auch die Bühne erobert, mit "Klavierspiele" und vor allem mit "Ritt auf die Wartburg" (1981): Vier Frauen aus der Bundesrepublik reisen in die DDR und erleben ein Waterloo ihrer Erwartungen. Die ganze Kraft der Phantasie wurde sichtbar im Stück "Erben und Sterben" (1992). Aber schon im Gedichtband "Schattige Gärten" (1987) überwog Daseinsskepsis. Um die Mitte der neunziger Jahre tauchte die Schriftstellerin ab ins Schweigen.
Nach anderthalb Jahrzehnten meldet sie sich nun zurück mit dem Band "Abendlandnovelle". Die Gattungsbezeichnung im Titel will nicht wörtlich genommen werden. Was sich hier dokumentiert, gleicht einem Vulkanausbruch. "Abendlandnovelle" ist zum überwiegenden Teil ein Dithyrambus, genauer: ein negativer Dithyrambus auf das Abendland, eine wörtertürmende Absage. Zum Titel des ersten Teils, "Anfangen endlich", setzt sich folgender Gedankengang in Widerspruch. "Lieber kein Anfang. Denn / wo kein Anfang / droht auch kein Ende. / Und Segen / liegt nie auf dem Anfang. / Heil davon / kommt am Ende keiner." Und dann eine Strophe, in der man ein Gleichnis für das lange Schweigen der Autorin zu erkennen meint. "Lang schon / versunken in die Versenkung / die so sehr einsam macht / und fast glücklich. / Wozu diese Trauminsel denn verlassen?" Von Trauminseln ist auch später die Rede, von Utopia, Atlantis und Mörikes Orplid.
Eine Grunderfahrung, "unaufhörlich" in die "Wiederholung getrieben" zu sein, findet im ersten Teil ihre Entsprechung auch in einer rhetorischen Wiederholung, wobei manchmal zweifelhaft bleibt, ob hier nicht die Sprachfigur sich selbst genügt. Denn dieser erste Teil verweist am ehesten auf experimentelle Versuche, mit sprunghaften Assoziationen, Satzabbrüchen, antigrammatischen Fügungen, dem Rückzug des Sinns in ein einziges Wort. Die Entleerung der Wiederholungen wird zum Gegenstand des zweiten Teils, "Unerhörte Begebenheiten? Wiederholungen neu". Man muss sich hier der Novellen-Definition Goethes erinnern: Die Novelle sei "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit". Friederike Roths Fragezeichen schränkt zugleich den Gattungsbegriff im Titel, "Abendlandnovelle", ironisch ein.
Im zweiten Teil folgt der Liebesklage des ersten die Kulturkritik, eine Abrechnung mit dem "abendländischen Gerede". Der Ton wendet sich ins Aggressive. Das Abendland sei zur Fassade, Leben zum Theater geworden. Im Rundumschlag bleibt auch das Politische nicht ausgespart: "man hatte den Sozialismus an die Wand / gefahren mit dem Kapitalismus." Die Satire übernimmt das Wort, packt zu: der in Wiederholungen gefangene "abendländische Mensch" tanze "noch am Abend vor dem Abendlandsuntergang / ahnungslos Ländler"; analog zum Bau der Arche Noah wird ein "Notbootprogramm" entworfen und die "Gründung einer Notboot-Gesellschaft / mit beschränkter Haftung" beschlossen.
Im dritten Teil, "Am Ende. Kein Anfang", hat sich die Perspektive geändert, es spricht ein Ich. Die Sprache beruhigt sich, gibt dem Individuellen, dem "Lyrischen" Raum. Eine Art Schallgeschwindigkeit der Zeit von der Gegenwart in die Zukunft, die schon immer wieder Vergangenheit ist, wird erlebt, die Hinfälligkeit des Daseins: die "gefürchteten Blicke der Mütter" auf den Pflegestationen, die "Blicke, die darum flehen / gestreichelt zu werden". Am Ende behauptet sich das Gesetz, das älter ist als alles abendländische Philosophieren und "abendländische Gerede": "Man muss irgendwie / sich halbwegs zum Ende hinexistieren." Keine Jenseitserwartung und -vertröstung kennt dieses Buch. Beschrieben wird am Ende die Entdeckung eines ungeplünderten Königsgrabes.
Ihr anderthalb Jahrzehnte währendes Schweigen hat Friederike Roth mit einem Neuanfang beendet, mit einem Werk, in dem die Ent-Fesselung der Sprache zum Ereignis wird. Ungehemmt ergießt sich ein angestauter Überschuss in das Buch. Sichtbar macht er das ungewöhnliche Bildrepertoire und die ungebrochene Sprachkraft dieser Dichterin.
Friederike Roth: "Abendlandnovelle".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 102 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lange genug geschwiegen: Friederike Roth ist zurück
Von Walter Hinck
Als Friederike Roth 1983 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie nach Klagenfurt schon mit der Empfehlung eines beachtlichen dichterischen Werks gekommen. Die beim Süddeutschen Rundfunk angestellte Hörspielredakteurin hatte beim Sprachtheoretiker Max Bense in Stuttgart studiert und ihre Lektion über die Eigengesetzlichkeit der Sprache gelernt, ohne ihr die Freiheit der poetischen Eingebung zu opfern; den Durchbruch brachte ihr Gedichtband "Tollkirschenzeit" (1978). Schon hatte sie sich mit Theaterstücken auch die Bühne erobert, mit "Klavierspiele" und vor allem mit "Ritt auf die Wartburg" (1981): Vier Frauen aus der Bundesrepublik reisen in die DDR und erleben ein Waterloo ihrer Erwartungen. Die ganze Kraft der Phantasie wurde sichtbar im Stück "Erben und Sterben" (1992). Aber schon im Gedichtband "Schattige Gärten" (1987) überwog Daseinsskepsis. Um die Mitte der neunziger Jahre tauchte die Schriftstellerin ab ins Schweigen.
Nach anderthalb Jahrzehnten meldet sie sich nun zurück mit dem Band "Abendlandnovelle". Die Gattungsbezeichnung im Titel will nicht wörtlich genommen werden. Was sich hier dokumentiert, gleicht einem Vulkanausbruch. "Abendlandnovelle" ist zum überwiegenden Teil ein Dithyrambus, genauer: ein negativer Dithyrambus auf das Abendland, eine wörtertürmende Absage. Zum Titel des ersten Teils, "Anfangen endlich", setzt sich folgender Gedankengang in Widerspruch. "Lieber kein Anfang. Denn / wo kein Anfang / droht auch kein Ende. / Und Segen / liegt nie auf dem Anfang. / Heil davon / kommt am Ende keiner." Und dann eine Strophe, in der man ein Gleichnis für das lange Schweigen der Autorin zu erkennen meint. "Lang schon / versunken in die Versenkung / die so sehr einsam macht / und fast glücklich. / Wozu diese Trauminsel denn verlassen?" Von Trauminseln ist auch später die Rede, von Utopia, Atlantis und Mörikes Orplid.
Eine Grunderfahrung, "unaufhörlich" in die "Wiederholung getrieben" zu sein, findet im ersten Teil ihre Entsprechung auch in einer rhetorischen Wiederholung, wobei manchmal zweifelhaft bleibt, ob hier nicht die Sprachfigur sich selbst genügt. Denn dieser erste Teil verweist am ehesten auf experimentelle Versuche, mit sprunghaften Assoziationen, Satzabbrüchen, antigrammatischen Fügungen, dem Rückzug des Sinns in ein einziges Wort. Die Entleerung der Wiederholungen wird zum Gegenstand des zweiten Teils, "Unerhörte Begebenheiten? Wiederholungen neu". Man muss sich hier der Novellen-Definition Goethes erinnern: Die Novelle sei "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit". Friederike Roths Fragezeichen schränkt zugleich den Gattungsbegriff im Titel, "Abendlandnovelle", ironisch ein.
Im zweiten Teil folgt der Liebesklage des ersten die Kulturkritik, eine Abrechnung mit dem "abendländischen Gerede". Der Ton wendet sich ins Aggressive. Das Abendland sei zur Fassade, Leben zum Theater geworden. Im Rundumschlag bleibt auch das Politische nicht ausgespart: "man hatte den Sozialismus an die Wand / gefahren mit dem Kapitalismus." Die Satire übernimmt das Wort, packt zu: der in Wiederholungen gefangene "abendländische Mensch" tanze "noch am Abend vor dem Abendlandsuntergang / ahnungslos Ländler"; analog zum Bau der Arche Noah wird ein "Notbootprogramm" entworfen und die "Gründung einer Notboot-Gesellschaft / mit beschränkter Haftung" beschlossen.
Im dritten Teil, "Am Ende. Kein Anfang", hat sich die Perspektive geändert, es spricht ein Ich. Die Sprache beruhigt sich, gibt dem Individuellen, dem "Lyrischen" Raum. Eine Art Schallgeschwindigkeit der Zeit von der Gegenwart in die Zukunft, die schon immer wieder Vergangenheit ist, wird erlebt, die Hinfälligkeit des Daseins: die "gefürchteten Blicke der Mütter" auf den Pflegestationen, die "Blicke, die darum flehen / gestreichelt zu werden". Am Ende behauptet sich das Gesetz, das älter ist als alles abendländische Philosophieren und "abendländische Gerede": "Man muss irgendwie / sich halbwegs zum Ende hinexistieren." Keine Jenseitserwartung und -vertröstung kennt dieses Buch. Beschrieben wird am Ende die Entdeckung eines ungeplünderten Königsgrabes.
Ihr anderthalb Jahrzehnte währendes Schweigen hat Friederike Roth mit einem Neuanfang beendet, mit einem Werk, in dem die Ent-Fesselung der Sprache zum Ereignis wird. Ungehemmt ergießt sich ein angestauter Überschuss in das Buch. Sichtbar macht er das ungewöhnliche Bildrepertoire und die ungebrochene Sprachkraft dieser Dichterin.
Friederike Roth: "Abendlandnovelle".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 102 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Seit fünfzehn Jahren war, wie der Rezensent Walter Hinck berichtet, die Lyrikerin Friederike Roth unerklärlich verstummt. Nun ist sie wieder da, und zwar mit einem Werk, das als Wurf zu betrachten ist. Die Titelangabe "Novelle" sei nicht wörtlich zu verstehen, eher sei das ganze als "Dithyrambus" einzusortieren. Außerordentlich sprachmächtig ist das, ein Ausbruch geradezu, in drei Teile geteilt. Den ersten betrachtet Hinck noch mit der meisten Skepsis, zu gewollt experimentell gerate hier manches. Im zweiten kulturkritischen und im dritten eher ich-lyrischen Teil kommt Roth seiner Ansicht nach jedoch ganz zu sich. Eine einzige Verfallsdiagnose und Endlichkeitsode ist das Buch offenbar, aber unzweifelhaft ist es das auf eine den Rezensenten überzeugende Weise.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein knappes, von leiser Ironie getragenes Befindlichkeitsprotokoll, das seiner Autorin die letzten Illusionen nimmt, den Leser aber nicht mutlos zurücklässt. Blitzt doch immer wieder das Schöne auf, und sei es nur, um uns an die große Vergänglichkeit zu erinnern.« Otto A. Böhmer DIE ZEIT 20110428