Holt, eine Kleinstadt im Herzen Colorados. Zwei alte Viehzüchter müssen den Wegzug ihrer Ziehtochter verkraften. Ein Ehepaar kämpft in seinem Trailer um ein Stückchen Würde. Ein elfjähriger Junge kümmert sich rührend um seinen kranken Großvater. So hart das Schicksal auch zuschlägt - die Menschen in Holt sind entschlossen, dem Leben einen Sinn abzutrotzen. Und begegnen einander dabei neu.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2019Jedes Lebewesen wird irgendwann entwöhnt
Durch ein Wurmloch im Raum-Zeit-Kontinuum geschlüpft: Mit Kent Haruf ist einer der großen amerikanischen Realisten zu entdecken
Es sagt sich leicht, dass Schriftsteller eine Welt erschaffen. Und oft bleibt es stolze Behauptung. Was es aber heißt, mit Worten tatsächlich eine Stadt zu errichten, bewohnbare Literatur zu erschaffen, das wird einem schlagartig und dann auch sehr schnell sogartig bewusst, wenn man den durch und durch fabelhaften Kent Haruf zur Hand nimmt, einen der großen Erzähler-Realisten aus Amerikas endlosen Weiten, dessen leider nur schmales, abgeschlossenes Werk - Haruf starb vor fünf Jahren - hierzulande jenseits des (verfilmten) Bestsellers "Unsere Seelen bei Nacht" immer noch kaum bekannt ist, aber vom Diogenes Verlag gegenwärtig in prachtvoller Übersetzung neu aufgelegt wird.
Die fiktive Kleinstadt Holt, die im Nirgendwo der Great Plains von Colorado liegt und Schauplatz aller sechs Romane des Autors ist, hat etwas Zauberisches an sich. Holt könnte ebenso gut Hope heißen, weil es wie ein Zufluchtsort für alle heimatlosen Sehnsüchte nach Geborgenheit wirkt. Dabei haben wir die Konturen der von staubigen Feldern der Rinderzüchter umgebenen Stadt messerscharf vor Augen. Haus für Haus, Ranch für Ranch, Trailer für Trailer, all das sehen wir dank der dichten, exakten und doch immer eleganten Beschreibungen Harufs in beinahe fotografisch genauer Auflösung. Und doch gibt es einen kaum erklärbaren Rest, der erst in den Beziehungen der meist einfachen, durchaus mit manchen Härten des Lebens ringenden, aber generell mit dem Dasein zufriedenen Bewohner zum Ausdruck kommt. Harufs Protagonisten nämlich gehen so sorgsam und liebevoll miteinander um, dass man fasziniert und gerührt davor steht, als wäre man mitten im Dreck auf den Kern des Humanen gestoßen. Wir erkennen, dass es jene Müden und Armen sind, die Abgelehnten und vom Sturm Getriebenen, von denen die Plakette der Freiheitsstatue spricht. Sie haben in Holt frei zu atmen gelernt: das gute, still heroische, heute längst für einen frommen Traum gehaltene Amerika.
Das heißt nicht, dass es hier das Dunkle nicht gäbe. Es bricht diesmal etwa in Gestalt des Cholerikers Hoyt Raines in die Gemeinschaft ein, aber selbst ihm, der die ohnehin leidenden Kinder seiner geistig etwas zurückgebliebenen, mit dem übergewichtigen und (meist) gutmütigen Luther im Wohnmobil lebenden Nichte Betty aus purem Frust übel zurichtet und sich dafür vor Gericht verantworten muss, gönnt der gütige Autor eine kurze Spanne als glücklicher Mensch an der Seite einer Frau, bis die ziellose Wut Hoyt wieder im Griff hat. Auch Unglücke geschehen, ein tödlicher Unfall etwa, eine Verkettung von falschen Entscheidungen, die dazu führt, dass Kinder ihren Eltern weggenommen werden müssen, ohne dass es jemand wirklich möchte. Stets aber wächst den Leidenden hier auch das Rettende entgegen, so dass die Trauer auszuhalten ist. Einsame finden auf fast traumwandlerische Weise zusammen, und nichts daran ist auch nur eine Spur kitschig.
"Abendrot" schließt an das "Lied der Weite" an, das davon erzählt, wie die siebzehnjährige, ungewollt schwangere Victoria Roubideaux von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt und von zwei wortkargen alten Viehzüchtern, den McPheron-Brüdern Harold und Raymond, aufgenommen wird: eine Rettung all dieser Personen zugleich. Obwohl kaum etwas passiert, entfaltet diese Nahaufnahme einer unwahrscheinlichen, aber dann allernatürlichsten Lebensgemeinschaft über die Generationen hinweg eine Spannung, die manchen Krimi in den Schatten stellt. Das hat allein mit dem sensiblen Stil des seine Mitmenschen genau beobachtenden Autors zu tun, dem kein Detail zu unbedeutend zu sein scheint, um ihm, zugewandt, seine Aufwartung zu machen.
Victoria, die Ziehtochter, verlässt nun schweren Herzens das Haus der McPherons ("jedes Lebewesen auf dieser Welt wird irgendwann entwöhnt"), um in einer nahe gelegenen Stadt das College zu besuchen, aber bald wird sie aus traurigem Anlass wieder nach Hause zurückkehren. Ein zweiter Erzählstrang befasst sich empathisch, aber nie mitleidsheischend, mit der auf Sozialhilfe angewiesenen Wallace-Familie, bestehend aus Betty, Luther und ihren Kindern, um die sich die Sozialarbeiterin Rose Tyler kümmert. Der dritte Strang handelt von dem einsamen, bei seinem Großvater aufwachsenden Jungen DJ, der gemeinsam mit der Nachbarstochter Dena, in die der schüchterne Protagonist, bevor er selbst es merkt, längst jugendlich verliebt ist, einen verlassenen Schuppen in einen paradiesischen Glücksort verwandelt. Dort lässt sich gemeinsam liegen und lesen.
Auf unspektakuläre, glaubhafte Weise kreuzen sich diese Stränge immer wieder, bilden sich neue Allianzen aus. Es ist ein zärtliches, leises Erzählen, das sich diese Zärtlichkeit nur leisten kann, weil es zugleich auf festen Fundamenten ruht, Unvermeidliches nicht zu vermeiden sucht, aber auch Alltägliches nicht überdramatisiert. Dieser erfahrungsgesättigte Stil hat wohl auch damit zu tun, dass Haruf erst jenseits der vierzig, als er wirklich etwas zu sagen hatte, mit dem Romanschreiben begonnen hat. Zugleich scheint man hier auf ein zeitenthobenes, zeitgemäß unzeitgemäßes Erzählen zu stoßen, das auf einer langen Tradition - mindestens bis zu Mark Twain, Faulkner und Hemingway - ruht. Harufs Werke, deren konzentriertem Stil man anzumerken meint, dass sie noch auf der Schreibmaschine, einer uralten "Royal", entstanden sind, könnten denn auch in den fünfziger Jahren spielen, mit nur leichten Veränderungen (Wagen zu Kutschen) sogar im neunzehnten Jahrhundert.
Dass dieser dezente Autor weit mehr ist als nur Stichwortgeber für Jane Fonda und Robert Redford, die in "Unsere Seelen bei Nacht" jene Gespräche über das Leben, die Liebe und den Tod nachspielen, die Haruf mit seiner Frau führte, ein virtuoser Baumeister lebensnaher Utopien nämlich, dürfen wir also nun selbst erfahren. Und gebannt auf die nächste Übersetzung warten.
OLIVER JUNGEN
Kent Haruf: "Abendrot".
Roman.
Aus dem Amerikanischen von pociao.
Diogenes Verlag, Zürich 2019. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Durch ein Wurmloch im Raum-Zeit-Kontinuum geschlüpft: Mit Kent Haruf ist einer der großen amerikanischen Realisten zu entdecken
Es sagt sich leicht, dass Schriftsteller eine Welt erschaffen. Und oft bleibt es stolze Behauptung. Was es aber heißt, mit Worten tatsächlich eine Stadt zu errichten, bewohnbare Literatur zu erschaffen, das wird einem schlagartig und dann auch sehr schnell sogartig bewusst, wenn man den durch und durch fabelhaften Kent Haruf zur Hand nimmt, einen der großen Erzähler-Realisten aus Amerikas endlosen Weiten, dessen leider nur schmales, abgeschlossenes Werk - Haruf starb vor fünf Jahren - hierzulande jenseits des (verfilmten) Bestsellers "Unsere Seelen bei Nacht" immer noch kaum bekannt ist, aber vom Diogenes Verlag gegenwärtig in prachtvoller Übersetzung neu aufgelegt wird.
Die fiktive Kleinstadt Holt, die im Nirgendwo der Great Plains von Colorado liegt und Schauplatz aller sechs Romane des Autors ist, hat etwas Zauberisches an sich. Holt könnte ebenso gut Hope heißen, weil es wie ein Zufluchtsort für alle heimatlosen Sehnsüchte nach Geborgenheit wirkt. Dabei haben wir die Konturen der von staubigen Feldern der Rinderzüchter umgebenen Stadt messerscharf vor Augen. Haus für Haus, Ranch für Ranch, Trailer für Trailer, all das sehen wir dank der dichten, exakten und doch immer eleganten Beschreibungen Harufs in beinahe fotografisch genauer Auflösung. Und doch gibt es einen kaum erklärbaren Rest, der erst in den Beziehungen der meist einfachen, durchaus mit manchen Härten des Lebens ringenden, aber generell mit dem Dasein zufriedenen Bewohner zum Ausdruck kommt. Harufs Protagonisten nämlich gehen so sorgsam und liebevoll miteinander um, dass man fasziniert und gerührt davor steht, als wäre man mitten im Dreck auf den Kern des Humanen gestoßen. Wir erkennen, dass es jene Müden und Armen sind, die Abgelehnten und vom Sturm Getriebenen, von denen die Plakette der Freiheitsstatue spricht. Sie haben in Holt frei zu atmen gelernt: das gute, still heroische, heute längst für einen frommen Traum gehaltene Amerika.
Das heißt nicht, dass es hier das Dunkle nicht gäbe. Es bricht diesmal etwa in Gestalt des Cholerikers Hoyt Raines in die Gemeinschaft ein, aber selbst ihm, der die ohnehin leidenden Kinder seiner geistig etwas zurückgebliebenen, mit dem übergewichtigen und (meist) gutmütigen Luther im Wohnmobil lebenden Nichte Betty aus purem Frust übel zurichtet und sich dafür vor Gericht verantworten muss, gönnt der gütige Autor eine kurze Spanne als glücklicher Mensch an der Seite einer Frau, bis die ziellose Wut Hoyt wieder im Griff hat. Auch Unglücke geschehen, ein tödlicher Unfall etwa, eine Verkettung von falschen Entscheidungen, die dazu führt, dass Kinder ihren Eltern weggenommen werden müssen, ohne dass es jemand wirklich möchte. Stets aber wächst den Leidenden hier auch das Rettende entgegen, so dass die Trauer auszuhalten ist. Einsame finden auf fast traumwandlerische Weise zusammen, und nichts daran ist auch nur eine Spur kitschig.
"Abendrot" schließt an das "Lied der Weite" an, das davon erzählt, wie die siebzehnjährige, ungewollt schwangere Victoria Roubideaux von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt und von zwei wortkargen alten Viehzüchtern, den McPheron-Brüdern Harold und Raymond, aufgenommen wird: eine Rettung all dieser Personen zugleich. Obwohl kaum etwas passiert, entfaltet diese Nahaufnahme einer unwahrscheinlichen, aber dann allernatürlichsten Lebensgemeinschaft über die Generationen hinweg eine Spannung, die manchen Krimi in den Schatten stellt. Das hat allein mit dem sensiblen Stil des seine Mitmenschen genau beobachtenden Autors zu tun, dem kein Detail zu unbedeutend zu sein scheint, um ihm, zugewandt, seine Aufwartung zu machen.
Victoria, die Ziehtochter, verlässt nun schweren Herzens das Haus der McPherons ("jedes Lebewesen auf dieser Welt wird irgendwann entwöhnt"), um in einer nahe gelegenen Stadt das College zu besuchen, aber bald wird sie aus traurigem Anlass wieder nach Hause zurückkehren. Ein zweiter Erzählstrang befasst sich empathisch, aber nie mitleidsheischend, mit der auf Sozialhilfe angewiesenen Wallace-Familie, bestehend aus Betty, Luther und ihren Kindern, um die sich die Sozialarbeiterin Rose Tyler kümmert. Der dritte Strang handelt von dem einsamen, bei seinem Großvater aufwachsenden Jungen DJ, der gemeinsam mit der Nachbarstochter Dena, in die der schüchterne Protagonist, bevor er selbst es merkt, längst jugendlich verliebt ist, einen verlassenen Schuppen in einen paradiesischen Glücksort verwandelt. Dort lässt sich gemeinsam liegen und lesen.
Auf unspektakuläre, glaubhafte Weise kreuzen sich diese Stränge immer wieder, bilden sich neue Allianzen aus. Es ist ein zärtliches, leises Erzählen, das sich diese Zärtlichkeit nur leisten kann, weil es zugleich auf festen Fundamenten ruht, Unvermeidliches nicht zu vermeiden sucht, aber auch Alltägliches nicht überdramatisiert. Dieser erfahrungsgesättigte Stil hat wohl auch damit zu tun, dass Haruf erst jenseits der vierzig, als er wirklich etwas zu sagen hatte, mit dem Romanschreiben begonnen hat. Zugleich scheint man hier auf ein zeitenthobenes, zeitgemäß unzeitgemäßes Erzählen zu stoßen, das auf einer langen Tradition - mindestens bis zu Mark Twain, Faulkner und Hemingway - ruht. Harufs Werke, deren konzentriertem Stil man anzumerken meint, dass sie noch auf der Schreibmaschine, einer uralten "Royal", entstanden sind, könnten denn auch in den fünfziger Jahren spielen, mit nur leichten Veränderungen (Wagen zu Kutschen) sogar im neunzehnten Jahrhundert.
Dass dieser dezente Autor weit mehr ist als nur Stichwortgeber für Jane Fonda und Robert Redford, die in "Unsere Seelen bei Nacht" jene Gespräche über das Leben, die Liebe und den Tod nachspielen, die Haruf mit seiner Frau führte, ein virtuoser Baumeister lebensnaher Utopien nämlich, dürfen wir also nun selbst erfahren. Und gebannt auf die nächste Übersetzung warten.
OLIVER JUNGEN
Kent Haruf: "Abendrot".
Roman.
Aus dem Amerikanischen von pociao.
Diogenes Verlag, Zürich 2019. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Einer der großen Erzähler-Realisten aus Amerikas endlosen Weiten.« Oliver Jungen / Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung