Ihr Schreiben kommt aus dem Schweigen. Aus der Präsenz der unerzählten Geschichten, die das Kind von Überlebenden des Holocaust umgab. Zsófia Bán, die sich mit Essays über W. G. Sebald, Imre Kertész und Susan Sontag einen Namen gemacht hat, wählt die Form des Schulbuchs, um ihren enzyklopädischen Lebensstoff Fach für Fach, von Geographie und Chemie bis Französisch durchzuarbeiten. In einer subtil ironischen, von Terézia Móra hinreißend vertonten Sprache erzählt sie vom Verschwinden eines Naturforschers im Dschungel von Laos, von der Reise des jungen Flaubert mit seinem Freund Maxime nach Ägypten oder von einem mitteleuropäisches Frauenleben, das vor Gewehrläufen an der Donau endete. Sie schmuggelt aber auch eine der großartigsten lesbischen Liebeszenen in ihre "Abendschule" hinein, die je geschrieben wurden. Alle Texte eint die Lust, Tabuisiertes, auch Abwegiges zu erkunden, um fürs Leben zu lernen - ein eminent kluges, erzählsüchtiges Buch.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hoffen wir, dass der in Budapest lebenden Autorin mehr Worte zur Verfügung stehen als der Rezensentin. Denn dass ein Buch "ungewöhnlich", "überraschend" und "blitzgescheit" ist, ist doch das Mindeste. Wozu es sonst aufschlagen. Ilma Rakusa aber steigert sich zur Lobeshymne auf ein so spätes wie "kühnes" Debüt, das Zsofia Ban enzyklopädisch angelegt und dann fantasievoll variiert hat, wie wir erfahren. So wandelt sich etwa Fidelio zur Blog-Oper. Literarischer Mehrwert und Erkenntnis sind das Resultat. Für Rakusa hat zumindest die ungarische Literatur nichts Vergleichbares zu bieten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.2012Im Nachtzoo
Zsófia Bán feiert die Wiederkehr des Lachens
Eine "Fibel für Erwachsene" nennt Zsófia Bán ihr überraschend reifes und atmosphärisch dichtes Debüt, das von Terezia Mora in funkelndes Deutsch übertragen wurde. Der Stoff dieser listigen, tiefsinnigen und kapriolenreichen "Abendschule" reicht von Chemie bis Leibesübungen, von Französisch bis zur Pause - eine Philosophie der Gefühle und Berührungen, des Begehrens und der Hoffnung. Sie führt uns in "tiefe Vergnügungswälder", aus denen wir nicht mehr herausfinden, wie Péter Nádas in seinem liebevollen Nachwort schreibt.
Die Geschichten gleichen Expeditionsberichten, erzählen von Zwischenreichen und Grenzregionen und erkunden deren melancholischen Eigensinn. Sie spielen in New York und Borneo, auf dem Land und in einem Nachtzoo, im Urwald, im Schwimmbad und in einem Straflager (aus dem ein moderner "Fidelio" Spitzelberichte schickt). In der fulminanten Einstiegsgeschichte sucht ein verstörtes Dorf nach seiner Urmutter ("Wo ist Mama"), dann folgen wir dem liebeskranken Insektenforscher Henri Mouhot in den Urwald und beobachten eine sehr schräge, lesbische Liebesszene ("Nachtzoo"). Wie um ihren eigenen Bauchnabel kreisen die Kapitel um jene vor Spannung vibrierende Sekunde, in der Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen den Körpern ausgeglichen scheinen und das Leben sich nackt zeigt, wie die Erzählerin zufrieden feststellt, die nur in solchen Moment "ich" sagt. Sie gesteht noch, dass sie eine Schwäche für aggressive Sujets hat, die sie immer wieder an der Kehle packen. Dann taucht sie unter und überlässt uns den skurril-bösen Lektionen von Frau Tenkes, die uns im Fach "Werken" immun machen will gegen Tsunamis, unausstehliche Ehemänner und die "Eisenkugel der Verzweiflung".
Mit Schweigen in Wittgensteinscher Manier, so das Credo der Autorin, kommen wir da nicht weiter, außerdem entginge uns das Vergnügen der spielerischen Mimesis. Also erfindet Zsófia Bán, die 1957 in Brasilien geboren, heute in Budapest als Kunstkritikerin und Literaturwissenschaftlerin lebt, nicht nur eine "aleatorische Geographie", sondern erklärt uns auch das Aufwühlende an den nicht stattgefundenen Begegnungen mit Attila József (mit dessen Preis ihr Buch in Ungarn ausgezeichnet wurde), Geza Ottlik und Péter Nádas, taucht in deren Bücher und Leben ein (wie zuvor in die Liebes-Leidensgeschichte von Matisse und der schönen Olympia) und endet mit einer Aufgabe, die von Péter Esterházy gestellt sein könnte: Welchen deiner Lieblingsautoren würdest du gern nicht treffen? Schreibe darüber einen Aufsatz!
Mit der "wunderbaren Wiederkehr des Lachens" entlässt sie uns aus ihrer märchenhaften und radikalen Abendschule, wir sind jetzt gegen alle Widrigkeiten des Lebens gefeit und haben sogar in die "streng geheime Innentasche der Wüstenspringmaus" schauen dürfen.
NICOLE HENNEBERG
Zsófia Bán: "Abendschule". Fibel für Erwachsene.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 240 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zsófia Bán feiert die Wiederkehr des Lachens
Eine "Fibel für Erwachsene" nennt Zsófia Bán ihr überraschend reifes und atmosphärisch dichtes Debüt, das von Terezia Mora in funkelndes Deutsch übertragen wurde. Der Stoff dieser listigen, tiefsinnigen und kapriolenreichen "Abendschule" reicht von Chemie bis Leibesübungen, von Französisch bis zur Pause - eine Philosophie der Gefühle und Berührungen, des Begehrens und der Hoffnung. Sie führt uns in "tiefe Vergnügungswälder", aus denen wir nicht mehr herausfinden, wie Péter Nádas in seinem liebevollen Nachwort schreibt.
Die Geschichten gleichen Expeditionsberichten, erzählen von Zwischenreichen und Grenzregionen und erkunden deren melancholischen Eigensinn. Sie spielen in New York und Borneo, auf dem Land und in einem Nachtzoo, im Urwald, im Schwimmbad und in einem Straflager (aus dem ein moderner "Fidelio" Spitzelberichte schickt). In der fulminanten Einstiegsgeschichte sucht ein verstörtes Dorf nach seiner Urmutter ("Wo ist Mama"), dann folgen wir dem liebeskranken Insektenforscher Henri Mouhot in den Urwald und beobachten eine sehr schräge, lesbische Liebesszene ("Nachtzoo"). Wie um ihren eigenen Bauchnabel kreisen die Kapitel um jene vor Spannung vibrierende Sekunde, in der Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen den Körpern ausgeglichen scheinen und das Leben sich nackt zeigt, wie die Erzählerin zufrieden feststellt, die nur in solchen Moment "ich" sagt. Sie gesteht noch, dass sie eine Schwäche für aggressive Sujets hat, die sie immer wieder an der Kehle packen. Dann taucht sie unter und überlässt uns den skurril-bösen Lektionen von Frau Tenkes, die uns im Fach "Werken" immun machen will gegen Tsunamis, unausstehliche Ehemänner und die "Eisenkugel der Verzweiflung".
Mit Schweigen in Wittgensteinscher Manier, so das Credo der Autorin, kommen wir da nicht weiter, außerdem entginge uns das Vergnügen der spielerischen Mimesis. Also erfindet Zsófia Bán, die 1957 in Brasilien geboren, heute in Budapest als Kunstkritikerin und Literaturwissenschaftlerin lebt, nicht nur eine "aleatorische Geographie", sondern erklärt uns auch das Aufwühlende an den nicht stattgefundenen Begegnungen mit Attila József (mit dessen Preis ihr Buch in Ungarn ausgezeichnet wurde), Geza Ottlik und Péter Nádas, taucht in deren Bücher und Leben ein (wie zuvor in die Liebes-Leidensgeschichte von Matisse und der schönen Olympia) und endet mit einer Aufgabe, die von Péter Esterházy gestellt sein könnte: Welchen deiner Lieblingsautoren würdest du gern nicht treffen? Schreibe darüber einen Aufsatz!
Mit der "wunderbaren Wiederkehr des Lachens" entlässt sie uns aus ihrer märchenhaften und radikalen Abendschule, wir sind jetzt gegen alle Widrigkeiten des Lebens gefeit und haben sogar in die "streng geheime Innentasche der Wüstenspringmaus" schauen dürfen.
NICOLE HENNEBERG
Zsófia Bán: "Abendschule". Fibel für Erwachsene.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 240 S., geb., 22,95 [Euro].
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