In »Abendspaziergang mit dem Kater« erzählt Thomas Hürlimann ebenso unterhaltsam wie philosophisch hintergründig von seiner Herkunft und den Wegen zum eigenen Schreiben und Denken. Er zeigt sich als kritischer Verteidiger der Schweiz und begeisterter Anhänger ihres größten Dichters Gottfried Keller, als leidenschaftlicher Polemiker und empfindsamer Beobachter.
Höchst vielfältig sind diese Texte aus vier Jahrzehnten: Sie reichen vom phantasievollen literarischen Kabinettstück bis zum aufsehenerregenden Bericht seiner Krankenhauserfahrungen. Aber selbst wenn Thomas Hürlimann über Krankheit und Tod nachdenkt, tut er es mit Eleganz, Leichtigkeit und tröstender Heiterkeit. Denn durch seine Texte spaziert ein zugelaufener Kater, und ein »Abendspaziergang mit dem Kater« endet immer mit dem neuen Morgen ...
»Wichtig ist, dass man aus jenem Bereich schreibt, aus dem man auch träumt.« Thomas Hürlimann
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Höchst vielfältig sind diese Texte aus vier Jahrzehnten: Sie reichen vom phantasievollen literarischen Kabinettstück bis zum aufsehenerregenden Bericht seiner Krankenhauserfahrungen. Aber selbst wenn Thomas Hürlimann über Krankheit und Tod nachdenkt, tut er es mit Eleganz, Leichtigkeit und tröstender Heiterkeit. Denn durch seine Texte spaziert ein zugelaufener Kater, und ein »Abendspaziergang mit dem Kater« endet immer mit dem neuen Morgen ...
»Wichtig ist, dass man aus jenem Bereich schreibt, aus dem man auch träumt.« Thomas Hürlimann
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Wer den so eleganten wie präzisen, denkfreudigen wie unterhaltsamen Sprachvirtuosen Thomas Hürlimann erst noch entdecken muss, für den ist 'Abendspaziergang mit dem Kater' perfekt. Magnus Reitinger Weilheimer Tagblatt 20210819
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Ulrich Rüdenauer folgt der Passionsgeschichte Thomas Hürlimanns mit Anerkennung. Hürlimanns Fähigkeit, Autobiografisches mit Literarischem und Historischem zu verbinden, persönliche Bildungsgeschichte, Agonie und Trauer mit Betrachtungen zum Kliniksystem in der Schweiz etwa, findet Rüdenauer erstaunlich. Wenn Hürlimann dabei auch noch witzig ist, ohne aber die "biografische Dringlichkeit" zu kassieren, dankt es ihm Rüdenauer, weil er beim Lesen keine Scham verspüren muss. Ernstes, Parodistisches und ein Gottfried-Keller-Porträt unterhalten Rüdenauer auf kluge wie mitreißende Weise.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2020Seine vierzehn Leben
Ein Geschenk an die Leser zum siebzigsten Geburtstag von Thomas Hürlimann: Der Geschichten- und Essayband "Abendspaziergang mit dem Kater".
Gäbe es eine verlässliche Balance zwischen der Qualität eines Buchs und dessen Verkaufsrang, stünde an der Spitze der aktuellen Bestsellerliste nicht, wie gerade einmal wieder, ein Thriller von Sebastian Fitzek, sondern der wunderbare Geschichten- und Aufsatzband "Abendspaziergang mit dem Kater" des Schweizer Erzählers und Dramatikers Thomas Hürlimann. Nichts gegen Fitzek, das wäre kleinlich und neidvoll. Aber alles für Hürlimann, diesen stupenden Geistesentzünder und Gefühlskartographen. Sein neues Buch greift auf eine stilistisch prägnante wie zurückhaltend-noble Weise bei den Themen weit aus. Es kommt vom Innerschweizer Klosterinternat auf eine streitbereite Elite-Theorie der Demokratie - je weniger Leute wählen, ideal sind zwanzig Prozent, desto vernünftiger fallen die Resultate aus. Zu lesen sind luzide Meditationen über Stein und Holz und eine famose Phänomenologie der Treppe. Hightech-Medizin wird bestaunt und ihrerseits durchleuchtet.
24 Prosastücke, hin und her schwingend zwischen Narration und Reflexion, versammelt der Band, wobei er klug ganz neue Texte mit über die Jahrzehnte hinweg bereits veröffentlichten mischt: Im Kontext der Bergwege und Stadtpflaster des "Abendspaziergangs" wirken auch sie wieder neu, erweisen sich mit wenigen Ausnahmen - etwa der Schnurre zu Goethes Schweizer Reise - als unverbraucht, damit haltbar. Hinzu kommen acht Impromptus über Katze und Kater, des Autors Wappentiere, über die überirdisch schöne Inderin Majandra und über Gottfried Keller, den Zürcher Erzählmeister des neunzehnten Jahrhunderts, der für Hürlimann zum verehrten, gelegentlich aber auch lastenden Vorbild geworden ist, physiognomische Angleichungen inklusive.
Wie tückisch das Keller-Bewundern sein kann, macht Hürlimanns bisher vorletztes Buch deutlich, der ambitionierte Roman "Heimkehr" von 2018. Heinrich Übel heißt dessen Held. Nicht nur der Name der Hauptfigur nimmt den Vergleich zum "Grünen Heinrich" des Ahnherrn auf, auch das ungestüme Erzähltemperament Kellers, das sich in der ersten Romanfassung von 1854/55 Bahn brach, färbt mächtig auf Hürlimann ab: Das Überbordende der "Heimkehr" zielt (zu) ehrgeizig auf das Erreichen, gar Übertreffen des "Grünen Heinrichs". "Die Literatur", hat Hürlimann einmal treffend gesagt, "erzählt anhand eines Einzelschicksals, was uns alle betrifft". In der "Heimkehr" betrifft vieles Heinrich Übel allein.
In Hürlimanns Kurznovelle "Dämmerschoppen", 2009 publiziert, kommt uns ein anderer Keller nahe. Es ist der 18. Juli 1889, der Vorabend seines siebzigsten Geburtstags. Um den Feiern zu entgehen, hat sich der Dichter inkognito im Grand Hotel am Seelisberg einquartiert. Es nutzt nichts, er wird rasch erkannt. Hürlimann macht sich und uns das melancholische Vergnügen einer Gesellschaftsparade, die nun doch über den widerwilligen Jubilar hereinbricht und hinwegrollt. Der Berner Bundesrat, Regierungen des Auslands, Vereine, Verbindungen und Verehrer(innen) schicken Depeschen und Telegramme, auf den Bergen ringsum werden Höhenfeuer entfacht und Freudenchöre angestimmt, Glocken erschallen, im Hotel gibt es Ovationen für den "berühmten Nationaldichter". Was stimmt daran melancholisch? Kellers Katerstimmung natürlich, aber auch die fast verblasste Erinnerung daran, dass Poeten wie Poesie einmal im Mittelpunkt einer märchenhaft anmutenden Aufmerksamkeit stehen konnten.
Im Zentrum des "Abendspaziergangs" steht freilich eine gerade mal fünfzehn Seiten umfassende Erzählphilosophie über ein Thema, das fürs Erste abseitiger kaum sein könnte. Es geht um Offenbarung, Epiphanie und ewiges Sein. Wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt, nimmt man doch teil an einem Erfahrungs- und Erkenntnisweg von lakonisch erhabener Denk- und Sprachschönheit. Als Zögling des katholischen Internats von Einsiedeln hatte Hürlimann, Sohn eines christdemokratischen Spitzenpolitikers, Mitte der sechziger Jahre den "Club der Atheisten" mitbegründet - über dessen Umtriebe unterrichtet der "Abendspaziergang" in einem amüsanten autobiographischen Feuilleton. Daran schließt die Erzählphilosophie unter dem Titel "Wer könnte das Eine nicht lieben?" an. Sie memoriert, was man aufgibt, wenn man Gott aufgibt. Der Text ist keineswegs fromm und ein Widerruf des Atheismus nur insofern, als Hürlimann die eigene metaphysische Suche nicht verschweigt.
Das ganz und gar Merkwürdige: Gerade wenn man den Autor bei dieser Suche nicht begleiten kann und will, fesseln, ja, ergreifen die dem Kreuzweg nachgebildeten "14 Stationen" seiner Argumentation ungemein. Von Parmenides über Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin bis zu Hegel, Bloch und Mircea Eliade: Es ist ein wilder, trotzdem kontrollierter Ritt durchs literaturtheologische Gelände. Der Meistersprung ist eine knappestmögliche, in sich völlig schlüssige Analyse - sagen wir besser: Auslegung - des Krimiklassikers "The Getaway" von Jim Thompson (1959) und dessen Verfilmung durch Sam Peckinpah mit Steve McQueen und Ali MacGraw aus dem Jahr 1972. Der Kreuzweg, schließt Hürlimann, sei beides in einem: als "Gang durch die Finsternis" zugleich "das vollendete Kunstwerk". Sein Kreuzweg-Essay ist zuallermindest hohe Prosa.
Vor zehn Jahren, zu Hürlimanns Sechzigstem, lagen neben einer stattlichen Reihe von Theaterstücken und Essaysammlungen mit der Erzählung "Die Tessinerin" (1981), den Novellen "Das Gartenhaus" (1989) und "Fräulein Stark" (2001) sowie den Romanen "Der große Kater" (1998) und "Vierzig Rosen" (2006) fünf Hauptwerke vor, die für ein ganzes Schreibleben stehen können. Das vergangene Jahrzehnt war dann eine einzige Hiobiade. 2010 das Ende des Zürcher Ammann Verlags, der sein inzwischen legendäres Programm einst mit der "Tessinerin" begonnen hatte: ein Heimatverlust, den S. Fischer, seither das Schreibdomizil, noch kompensieren konnte. 2012 die Krebsdiagnose. Bis heute beherrschen deren Folgen Hürlimanns Alltag. Staunenswert, was er ihm an Arbeit abgerungen, abgewonnen hat. Um das Wichtigste zu nennen: neben dem Roman "Die Heimkehr" die Schweizer Wirtschafts- und Fortschrittskomödie "Das Luftschiff", den irrwitzigen Dialektschwank "De Casanova im Chloster", das Gedanken-Capriccio "Nietzsches Regenschirm", die Poetikvorlesungen "Das Kreuz in der Literatur" an der Wiener Universität.
Hürlimanns Krankheit aber findet, oft atemraubend, ihren eigentlichen Ausdruck im zweiten Zentralstück des "Abendspaziergangs". Es heißt: "Meine Reise ins eigene Innere" und ist, im komödiantischen Gewand einer "Spitalkritik", das Überlebensepos eines vielfach Todgeweihten. Aufs Neue ist der Text in Stationen gegliedert, im Gegensatz zur Erzählphilosophie über die Offenbarung aber nicht numeriert: Im "Universitätsspital Zürich, Urologie" beginnt, was 25 Seiten und sieben Jahre später auf der "Intensivstation Kantonsspital Nidwalden, Stans" endet - vorläufig endet, um genau zu sein. Nichts ist fiktional, Ärzte, Schwestern, Pfleger, das Verwaltungs- und Reinigungspersonal der diversen Kliniken werden bei ihren wirklichen Namen genannt, Apparate und Maschinen detailgenau beschrieben, Operationsverfahren minutiös festgehalten. Hürlimanns Hyperrealismus bewirkt ein Erzählwunder - aus der Globalfabrik Krankenhaus wird, ohne dass je Verklärung im Spiel wäre, ein ubiquitärer Gnadenort für beide: den Schriftsteller-Patienten und seine Leser. Wozu Literatur? Kaum je war die Frage so obsolet. Zählt man am Ende nach, wie viele Spitalstationen durchmessen wurden, kommt man, dem Autor wohl selbst nicht bewusst, auf - vierzehn.
Der jüngere Bruder Matthias zwanzig, als er starb, im Februar 1980 nach vierjährigem Kampf mit der Krankheit an Knochenkrebs. Sein Tod hat Thomas Hürlimann zum Schriftsteller gemacht. Abrupt und unvermittelt steht mitten in der Debüterzählung "Die Tessinerin" von 1981 ein Teilsatz in Klammern: "(worüber ich schreiben wollte und nicht schreiben kann)". Gemeint sind Sterben und Tod des Bruders. Im "Abendspaziergang mit dem Kater" veröffentlicht Hürlimann nun erstmals den tatsächlichen Beginn seiner Autorschaft. Es ist der Nachruf auf Matthias - als Rollenprosa verfasst für den Stadtpfarrer von Zug, der ihn beim Begräbnis vortrug. Am kommenden Montag wird Thomas Hürlimann siebzig. Keineswegs nur aus Corona-Gründen wird es am Geburtstag so unfeierlich zugehen, wie es sich Gottfried Keller gewünscht hatte. Wir allerdings, Hürlimanns Leser, ließen gern die Glocken erschallen.
JOCHEN HIEBER.
Thomas Hürlimann: "Abendspaziergang mit dem Kater".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 304 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Geschenk an die Leser zum siebzigsten Geburtstag von Thomas Hürlimann: Der Geschichten- und Essayband "Abendspaziergang mit dem Kater".
Gäbe es eine verlässliche Balance zwischen der Qualität eines Buchs und dessen Verkaufsrang, stünde an der Spitze der aktuellen Bestsellerliste nicht, wie gerade einmal wieder, ein Thriller von Sebastian Fitzek, sondern der wunderbare Geschichten- und Aufsatzband "Abendspaziergang mit dem Kater" des Schweizer Erzählers und Dramatikers Thomas Hürlimann. Nichts gegen Fitzek, das wäre kleinlich und neidvoll. Aber alles für Hürlimann, diesen stupenden Geistesentzünder und Gefühlskartographen. Sein neues Buch greift auf eine stilistisch prägnante wie zurückhaltend-noble Weise bei den Themen weit aus. Es kommt vom Innerschweizer Klosterinternat auf eine streitbereite Elite-Theorie der Demokratie - je weniger Leute wählen, ideal sind zwanzig Prozent, desto vernünftiger fallen die Resultate aus. Zu lesen sind luzide Meditationen über Stein und Holz und eine famose Phänomenologie der Treppe. Hightech-Medizin wird bestaunt und ihrerseits durchleuchtet.
24 Prosastücke, hin und her schwingend zwischen Narration und Reflexion, versammelt der Band, wobei er klug ganz neue Texte mit über die Jahrzehnte hinweg bereits veröffentlichten mischt: Im Kontext der Bergwege und Stadtpflaster des "Abendspaziergangs" wirken auch sie wieder neu, erweisen sich mit wenigen Ausnahmen - etwa der Schnurre zu Goethes Schweizer Reise - als unverbraucht, damit haltbar. Hinzu kommen acht Impromptus über Katze und Kater, des Autors Wappentiere, über die überirdisch schöne Inderin Majandra und über Gottfried Keller, den Zürcher Erzählmeister des neunzehnten Jahrhunderts, der für Hürlimann zum verehrten, gelegentlich aber auch lastenden Vorbild geworden ist, physiognomische Angleichungen inklusive.
Wie tückisch das Keller-Bewundern sein kann, macht Hürlimanns bisher vorletztes Buch deutlich, der ambitionierte Roman "Heimkehr" von 2018. Heinrich Übel heißt dessen Held. Nicht nur der Name der Hauptfigur nimmt den Vergleich zum "Grünen Heinrich" des Ahnherrn auf, auch das ungestüme Erzähltemperament Kellers, das sich in der ersten Romanfassung von 1854/55 Bahn brach, färbt mächtig auf Hürlimann ab: Das Überbordende der "Heimkehr" zielt (zu) ehrgeizig auf das Erreichen, gar Übertreffen des "Grünen Heinrichs". "Die Literatur", hat Hürlimann einmal treffend gesagt, "erzählt anhand eines Einzelschicksals, was uns alle betrifft". In der "Heimkehr" betrifft vieles Heinrich Übel allein.
In Hürlimanns Kurznovelle "Dämmerschoppen", 2009 publiziert, kommt uns ein anderer Keller nahe. Es ist der 18. Juli 1889, der Vorabend seines siebzigsten Geburtstags. Um den Feiern zu entgehen, hat sich der Dichter inkognito im Grand Hotel am Seelisberg einquartiert. Es nutzt nichts, er wird rasch erkannt. Hürlimann macht sich und uns das melancholische Vergnügen einer Gesellschaftsparade, die nun doch über den widerwilligen Jubilar hereinbricht und hinwegrollt. Der Berner Bundesrat, Regierungen des Auslands, Vereine, Verbindungen und Verehrer(innen) schicken Depeschen und Telegramme, auf den Bergen ringsum werden Höhenfeuer entfacht und Freudenchöre angestimmt, Glocken erschallen, im Hotel gibt es Ovationen für den "berühmten Nationaldichter". Was stimmt daran melancholisch? Kellers Katerstimmung natürlich, aber auch die fast verblasste Erinnerung daran, dass Poeten wie Poesie einmal im Mittelpunkt einer märchenhaft anmutenden Aufmerksamkeit stehen konnten.
Im Zentrum des "Abendspaziergangs" steht freilich eine gerade mal fünfzehn Seiten umfassende Erzählphilosophie über ein Thema, das fürs Erste abseitiger kaum sein könnte. Es geht um Offenbarung, Epiphanie und ewiges Sein. Wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt, nimmt man doch teil an einem Erfahrungs- und Erkenntnisweg von lakonisch erhabener Denk- und Sprachschönheit. Als Zögling des katholischen Internats von Einsiedeln hatte Hürlimann, Sohn eines christdemokratischen Spitzenpolitikers, Mitte der sechziger Jahre den "Club der Atheisten" mitbegründet - über dessen Umtriebe unterrichtet der "Abendspaziergang" in einem amüsanten autobiographischen Feuilleton. Daran schließt die Erzählphilosophie unter dem Titel "Wer könnte das Eine nicht lieben?" an. Sie memoriert, was man aufgibt, wenn man Gott aufgibt. Der Text ist keineswegs fromm und ein Widerruf des Atheismus nur insofern, als Hürlimann die eigene metaphysische Suche nicht verschweigt.
Das ganz und gar Merkwürdige: Gerade wenn man den Autor bei dieser Suche nicht begleiten kann und will, fesseln, ja, ergreifen die dem Kreuzweg nachgebildeten "14 Stationen" seiner Argumentation ungemein. Von Parmenides über Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin bis zu Hegel, Bloch und Mircea Eliade: Es ist ein wilder, trotzdem kontrollierter Ritt durchs literaturtheologische Gelände. Der Meistersprung ist eine knappestmögliche, in sich völlig schlüssige Analyse - sagen wir besser: Auslegung - des Krimiklassikers "The Getaway" von Jim Thompson (1959) und dessen Verfilmung durch Sam Peckinpah mit Steve McQueen und Ali MacGraw aus dem Jahr 1972. Der Kreuzweg, schließt Hürlimann, sei beides in einem: als "Gang durch die Finsternis" zugleich "das vollendete Kunstwerk". Sein Kreuzweg-Essay ist zuallermindest hohe Prosa.
Vor zehn Jahren, zu Hürlimanns Sechzigstem, lagen neben einer stattlichen Reihe von Theaterstücken und Essaysammlungen mit der Erzählung "Die Tessinerin" (1981), den Novellen "Das Gartenhaus" (1989) und "Fräulein Stark" (2001) sowie den Romanen "Der große Kater" (1998) und "Vierzig Rosen" (2006) fünf Hauptwerke vor, die für ein ganzes Schreibleben stehen können. Das vergangene Jahrzehnt war dann eine einzige Hiobiade. 2010 das Ende des Zürcher Ammann Verlags, der sein inzwischen legendäres Programm einst mit der "Tessinerin" begonnen hatte: ein Heimatverlust, den S. Fischer, seither das Schreibdomizil, noch kompensieren konnte. 2012 die Krebsdiagnose. Bis heute beherrschen deren Folgen Hürlimanns Alltag. Staunenswert, was er ihm an Arbeit abgerungen, abgewonnen hat. Um das Wichtigste zu nennen: neben dem Roman "Die Heimkehr" die Schweizer Wirtschafts- und Fortschrittskomödie "Das Luftschiff", den irrwitzigen Dialektschwank "De Casanova im Chloster", das Gedanken-Capriccio "Nietzsches Regenschirm", die Poetikvorlesungen "Das Kreuz in der Literatur" an der Wiener Universität.
Hürlimanns Krankheit aber findet, oft atemraubend, ihren eigentlichen Ausdruck im zweiten Zentralstück des "Abendspaziergangs". Es heißt: "Meine Reise ins eigene Innere" und ist, im komödiantischen Gewand einer "Spitalkritik", das Überlebensepos eines vielfach Todgeweihten. Aufs Neue ist der Text in Stationen gegliedert, im Gegensatz zur Erzählphilosophie über die Offenbarung aber nicht numeriert: Im "Universitätsspital Zürich, Urologie" beginnt, was 25 Seiten und sieben Jahre später auf der "Intensivstation Kantonsspital Nidwalden, Stans" endet - vorläufig endet, um genau zu sein. Nichts ist fiktional, Ärzte, Schwestern, Pfleger, das Verwaltungs- und Reinigungspersonal der diversen Kliniken werden bei ihren wirklichen Namen genannt, Apparate und Maschinen detailgenau beschrieben, Operationsverfahren minutiös festgehalten. Hürlimanns Hyperrealismus bewirkt ein Erzählwunder - aus der Globalfabrik Krankenhaus wird, ohne dass je Verklärung im Spiel wäre, ein ubiquitärer Gnadenort für beide: den Schriftsteller-Patienten und seine Leser. Wozu Literatur? Kaum je war die Frage so obsolet. Zählt man am Ende nach, wie viele Spitalstationen durchmessen wurden, kommt man, dem Autor wohl selbst nicht bewusst, auf - vierzehn.
Der jüngere Bruder Matthias zwanzig, als er starb, im Februar 1980 nach vierjährigem Kampf mit der Krankheit an Knochenkrebs. Sein Tod hat Thomas Hürlimann zum Schriftsteller gemacht. Abrupt und unvermittelt steht mitten in der Debüterzählung "Die Tessinerin" von 1981 ein Teilsatz in Klammern: "(worüber ich schreiben wollte und nicht schreiben kann)". Gemeint sind Sterben und Tod des Bruders. Im "Abendspaziergang mit dem Kater" veröffentlicht Hürlimann nun erstmals den tatsächlichen Beginn seiner Autorschaft. Es ist der Nachruf auf Matthias - als Rollenprosa verfasst für den Stadtpfarrer von Zug, der ihn beim Begräbnis vortrug. Am kommenden Montag wird Thomas Hürlimann siebzig. Keineswegs nur aus Corona-Gründen wird es am Geburtstag so unfeierlich zugehen, wie es sich Gottfried Keller gewünscht hatte. Wir allerdings, Hürlimanns Leser, ließen gern die Glocken erschallen.
JOCHEN HIEBER.
Thomas Hürlimann: "Abendspaziergang mit dem Kater".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 304 S., geb., 24,- [Euro].
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