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Als ganz und gar menschliche Verhaltensweise beschreibt Todorov unseren Wunsch nach Anerkennung durch die Anderen. Dieser Wunsch ist der Ausgangspunkt aller sozialen Handlungen. Auch scheinbar auf Selbständigkeit gegründete Weltanschauungen wie die Ideologie vom "Herrenmenschen" bedürfen des Anderen, und sogar die bis ans Äußerste gedachten Entwürfe von Sade und Bataille kommen nicht ohne ihn aus. Todorov schlägt eine Brücke zwischen philosophischen Gedanken und Beobachtungen der kindlichen Entwicklung, in der sich Gefühle und Fähigkeiten aus dem Kontakt mit einem Gegenüber ausbilden. Er zeigt…mehr

Produktbeschreibung
Als ganz und gar menschliche Verhaltensweise beschreibt Todorov unseren Wunsch nach Anerkennung durch die Anderen. Dieser Wunsch ist der Ausgangspunkt aller sozialen Handlungen. Auch scheinbar auf Selbständigkeit gegründete Weltanschauungen wie die Ideologie vom "Herrenmenschen" bedürfen des Anderen, und sogar die bis ans Äußerste gedachten Entwürfe von Sade und Bataille kommen nicht ohne ihn aus. Todorov schlägt eine Brücke zwischen philosophischen Gedanken und Beobachtungen der kindlichen Entwicklung, in der sich Gefühle und Fähigkeiten aus dem Kontakt mit einem Gegenüber ausbilden. Er zeigt die Gefahren, die in fehlgeleitetem Selbstverwirklichungsdrang liegen. Und er setzt an die Stelle der Klage über den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft den Entwurf eines gemeinsamen Lebens, in dem sich um die Anderen zu kümmern keineswegs bedeutet, sich seiner selbst zu berauben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1996

Mutter ist der philosophische Fall
Alle reden von Gewalt, Tzvetan Todorov sucht nach einer Ethik des Zusammenlebens

Vor gut zwanzig Jahren gehörte der bulgarische Literatur- und Sprachtheoretiker Tzvetan Todorov zu den Stars der Pariser Intellektuellen-Szene. Allmählich aber müssen ihm seine strukturalistisch-semiologischen Exerzitien zu sehr in Richtung Glasperlenspiel gegangen sein. Jedenfalls suchte er schon in seinem Buch über die Eroberung Amerikas in den Gestalten der Kolonisatoren die Physiognomie der abendländischen Kultur zu erfassen und verglich in aufregenden Analysen den Todestrieb der Inkas mit dem der Spanier.

Schon dabei richtete sich das Erkenntnisinteresse auf die traumatisierenden Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts, die im Vergleich mit den spanischen Greueln des sechzehnten immer wieder aufgerufen wurden. Mit seinem vorletzten Buch "Angesichts des Äußersten" geht er über sein sophistisches Pariser Avantgarde-Wissen hinweg und wendet sich mit betont einfachen Mitteln der Wiederbelebung eines Humanismus zu, der gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts totgesagt wird.

Das Problem aller Holocaust-Debatten besteht darin, daß die Macht des Bösen - theologisierend gesagt - nicht der Unmoral bedarf, um sich durchzusetzen. Daß die Fragen nach Schuld und Moral bei der Transmission der Macht des Bösen eine untergeordnete Rolle spielen, ist die entsetzliche Provokation dieses Jahrhunderts: eine Ethik, die dem Rechnung trüge, steht noch aus. Nichts Geringeres nun will Todorov mit "La Vie Commune", ein Titel, den Übersetzer und Verlag mit Recht nicht wörtlich übersetzt haben. Er ist unübersetzbar, will man nicht beim Gemeinschaftsleben landen, und selbstverständlich will Todorov nicht als Apostel einer Ethik der Aufopferung für die Gemeinschaft mißverstanden werden.

Ein neue Ethik? Das nun vielleicht doch nicht, denn es gehört ja gerade zu Todorovs Tricks, Begriffe zurückzunehmen oder umzufunktionieren, sich lieber naiv als vollmundig zu geben. Würde, Sorge, Hinwendung zum anderen, all die Dinge, die er favorisiert, sind ja in der Philosophie in einer Weise kategorialisiert worden, daß sie das Gegenteil ihrer realen humanen Aktivitäten bedeuten. Deshalb ist die Weise, wie Todorov in "Angesichts des Äußersten" die Sorge eingeführt hat, so etwas wie ein mächtiger und sehr wohltuender Gegenschlag gegen die Sorgestruktur des Daseins, die Heidegger definiert als das "sich vorweg im schon sein in als sein bei".

Solchen Schabernack braucht Todorov nicht. Er zeigt in den "Abenteuern" wieder, daß man auch Worte retten muß, um Tugenden bewahren zu können. So existiert hier ein Wort wie "Anerkennung". Todorov rettet etwas, das da ist, etwas, das durch begriffliche Kategorialisierungen sprachlos gemacht worden ist. Er bringt etwas, worüber man philosophisch eigentlich nicht mehr sprechen konnte, wieder zum Sprechen. Genau an jener Stelle, wo die Worte nach der Logik der "vie commune" verwendet werden, glaubt er eine reale Tugendlehre, eine aktuelle Rede über Moral ansetzen zu können, nicht dort, wo ihre Inhalte existentialisiert, kategorialisiert, ontologisiert sind. Zugegeben, Hegel kommt ein bißchen zu schlecht weg, da selbst bei Hegel Anerkennung nicht ausschließlich das Paradigma für den Kampf auf Leben und Tod ist, aber Verkürzungen sind in einem essayistischen Entwurf unvermeidlich.

Es geht Todorov um die Anerkennung, es geht um den Anderen, aber beide werden anders als bei Hegel vermittelt. Der Andere wird auch nicht als eine Art von Spiegelphänomen vorgeführt, wie es in den heutigen Theorien über den Anderen entscheidend ist, das wäre immer noch die Hegelsche Konstitutionsproblematik, sondern, um ein unendlich verbrauchtes Wort zu verwenden, der Andere tritt unter dem Vorzeichen der Mitmenschlichkeit auf. Wenn Todorov meint, die Anerkennung des Anderen bereite innere Genugtuung, so richtet sich das auch implizit gegen die Kantische Morallehre, die vorsieht, daß die Pflichterfüllung die innere Genugtuung scheuen muß wie der Teufel das Weihwasser.

Todorov zeigt uns, daß man ohne Zynismus und Nihilismus, ohne die postmoderne Beliebigkeit der Wertsetzungen, ganz real, wertend und genau von der gräßlichsten Realität dieses Jahrhunderts reden kann: sie hat die Menschensphäre nicht verlassen. Man muß keinen begrifflichen oder pathographischen Extremismus kultivieren, um die Gewalt zu beschreiben. Der Archipel GULAG und die Lager der Nazis sind weder Orte, an denen Satan persönlich zugeschlagen hat, noch etwas für Spezialisten. Die Schreckensphänomene bleiben human, eine Ausgliederung aus der Menschenwelt und Humanwissenschaft ist unmöglich.

Höchst originell lenkt Todorov den Blick von der klinisch arbeitenden Psychoanalyse und ihren empirischen Feldern auf die Anthropologie: Die Ergebnisse der Säuglingsforschung werden nicht gründlich referiert, sind jedoch vorausgesetzt. Von daher entwickelt Todorov seinen Bündnisgedanken und kann nun wie Hegel, nur nicht unter dem Herr-Knecht-Vorzeichen, Anerkennung als Konstituens der Existenz sehen. "La vie commune" ist die "Maklerin der Anerkennung": die Mutter. Wenn das "der philosophische Fall" ist, muß man Anerkennung nicht mehr mit dem "anderen müden Dauerbrenner der westlichen Philosophie, dem unaufhörlichen Krieg aller gegen alle", in eins setzen.

Mag sein, daß Todorovs Skizze von der elastischen Bindung der allerfrühesten Vergesellschaftung mit Nabelschnur bis zum Ersatz der Nabelschnur im Mutter-Kind-Verhältnis bis dahin, daß man lernt, viele Nabelschnüre zu haben - das ist dann Gesellschaft -, das Moment der Bindung überbetont und die Notwendigkeit des immer neuen Zerreißens aller Bänder herunterspielt. Er liebt eben die Dialektik nicht und teilt diese Abneigung mit seinem Idol Rousseau.

"Wir leben in einer ständigen Verhandlung mit anderen, und der menschliche Umgang verlangt die Einberufung und Zusammenarbeit der verschiedenen Instanzen des Selbst. Instanzen, die allesamt intersubjektiv sind, das heißt durch die Interaktionen mit anderen produziert werden." Mit diesen und vielen ähnlichen Sätzen seiner Anthropologie unterläuft Todorov ganz nebenbei auch die Marxsche Formulierung, wonach der Mensch ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse sei. Nicht erst durch die Verinnerlichung von Über-Ich und Es werden wir ein "Kollektivsingular". Wir sind es primär. Wir sind immer schon die anderen.

Das ist das Pathos, mit dem Todorovs antimonadologischer Appell auftritt. Unser Naturverhältnis ist ein gesellschaftliches, wir bleiben in allem Natur, sind jedoch ebenso in allem Gesellschaft. Aus dieser doppelten Gebrochenheit wäre ein neues Gesellschaftsmodell zu entwickeln, ohne daß Todorov freilich die proklamatorische Konsequenz daraus zöge. Seine Gegner scheinen ihm nicht satisfaktionsfähig, und seine Gewährsleute, die Dichter, haben es immer schon gewußt, daß "ich" ein anderer ist, daß die Membran "nicht dicht" ist, daß "die menschliche Geselligkeit kein Gegenteil" hat.

So wie er den Gesellschaftsvertrag nicht systematisch thematisiert hat, die Dialektik der Anerkennung nicht der naturwissenschaftlichen Seite von Anthropologie zugeschlagen und diese Seite dann auf die Gesellschaft übertragen hat, so wenig reflektiert Todorov, wie die Moralphilosophen das religiöse Problem von Schuld und Sühne erben. Das Corpus mysticum Christianum bedeutete die eigentliche Forderung nach Anthropologie. Deshalb auch waren die erfolgreichsten Soziallehren über Jahrhunderte hinweg die christlichen. Hat die Anima naturaliter Christiana Todorov das vergessen? CAROLINE NEUBAUR

Tzvetan Todorov: "Abenteuer des Zusammenlebens". Versuch einer allgemeinen Anthropologie. Aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser. Wagenbach Verlag, Berlin 1996. 188 S., geb., 36,- DM.

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