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Auf den ersten Blick scheinen Kirchen und Religionen für Helmut Schmidt kein zentrales Lebensthema darzustellen. Seine Weltanschauung und sein politisches Handeln sind vom 'kritischen Rationalismus' Karl Poppers geprägt, der sich von allen Utopien distanzierte und eine Politik der kleinen Schritte empfahl.Zu keinem Zeitpunkt stilisierte sich Schmidt zum selbstgewissen christlichen Politiker. Und doch stellte sich der vielbeschäftigte Politiker zeitweise als Synodaler der lutherischen mit verschiedenen Repräsentanten und intellektuell führenden Geistlichen beider Konfessionen. Welche Positionen…mehr

Produktbeschreibung
Auf den ersten Blick scheinen Kirchen und Religionen für Helmut Schmidt kein zentrales Lebensthema darzustellen. Seine Weltanschauung und sein politisches Handeln sind vom 'kritischen Rationalismus' Karl Poppers geprägt, der sich von allen Utopien distanzierte und eine Politik der kleinen Schritte empfahl.Zu keinem Zeitpunkt stilisierte sich Schmidt zum selbstgewissen christlichen Politiker. Und doch stellte sich der vielbeschäftigte Politiker zeitweise als Synodaler der lutherischen mit verschiedenen Repräsentanten und intellektuell führenden Geistlichen beider Konfessionen. Welche Positionen und Motive hatte Helmut Schmidt auf dem kirchlich-religiösen Feld? Wie hat sich sein Glaubensverständnis im Laufe der Zeit verändert?Diesen Fragen geht der Historiker und Theologe Rainer Hering im vorliegenden neuen Doppelband der 'Studien der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung' nach. Auf breiter Quellengrundlage arbeitet Hering erstmals Schmidts persönliche Beziehung zum christlichen Glaubensowie die Bedeutung der Kirchen für dessen politisches Wirken heraus. Damit stellt er eine bislang kaum bekannte Seite des früheren Bundeskanzlers vor: Kirchen und Religion waren, wie Hering nachweist, für Helmut Schmidt nicht nur wesentlich als Vermittler von moralischen Wertvorstellungen und ethischen Normen, sondern wurden von ihm auch als wichtiger Faktor für die Politik wahrgenommen. Parallel zur politischen und wirtschaftlichen Globalisierung verlagerte Schmidt im Laufe der Zeit sein Augenmerk vom Christentum zu den Weltreligionen und versucht bis heute aktiv, durch Etablierung eines interreligiösen Wertekonsenses zur Friedenssicherung beizutragen.
Autorenporträt
Der Historiker und Theologe Prof. Dr. Dr. Rainer Hering ist Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein und lehrt Neuere Geschichte und Archivwissenschaft an den Universitäten Hamburg und Kiel.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2013

Marc Aurel der deutschen Religionspolitik
Helmut Schmidt und die Kirchen: Vom Kanzler der Kanzeln zum Mahner der Verantwortung

Ja, ist es denn zu fassen? Da gerät einem der Allerweltslaizismus, der sonst so verlässlichen Dienst leistet bei der Scheidung von Gut und Böse auf dem Globus, ausgerechnet im eigenen Land in Erklärungsnot: Der Bundespräsident ein ordinierter Pastor, die Kanzlerin Tochter eines solchen, der Bundestagspräsident legt eine Übersetzung des Vaterunsers vor, der Vorsitzende der größten Fraktion im Parlament ein Buch über verfolgte Christen. Nun mag die derzeit im Regierungsviertel zusammengeballte Kirchlichkeit auch nach bundesdeutschen Maßstäben ungewöhnlich sein. Die ausgeprägte konfessionelle Prägung zahlreicher Akteure der deutschen Politik gehört jedoch im Journalismus wie in der Geschichtsschreibung zu den chronisch vernachlässigten Aspekten.

Für den früheren Bundeskanzler Schmidt schließt nun Rainer Hering diese Lücke. "Helmut Schmidt, die Kirchen und die Religion" lautet der Untertitel seiner verdienstvollen Arbeit. Der Autor, Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein, ist sich bewusst, dass das Projekt einer religiösen Biographie eines Politikers Probleme birgt. Das persönlichen Bekenntnis eines Politikers überschneidet sich mit seiner öffentlichen Selbstinszenierung sowie dem profanen Gewerbe der Kirchenpolitik auf ebenso vielfältige Weise, wie es sich davon unterscheidet. Im Falle Schmidts scheinen die drei Aspekte ganz besonders eng beieinander zu liegen. Schmidt wächst in hanseatischer Halbdistanz zur Kirche auf. Die Eltern, eifrig am Aufstieg ins gehobenere Bürgertum arbeitend, lassen ihren Sohn trotz Verunsicherung über die Bedeutung der Kirche nach dem Ende der Monarchie und einer großen Austrittswelle taufen und konfirmieren. Schmidt lernt seine spätere Frau Loki in der Lichtwarkschule kennen, einer Reformschule, in der Deutsch, Geschichte und Religion vereint als "Kulturkunde" unterrichtet werden. Das Projekt ist ambitioniert, in der Kulturkunde werden die Gottesfrage anhand von Rilkes Stundenbuch durchgenommen und das Verhältnis von Religion und Großstadt betrachtet. Die religiösen Realien - Bibel, Bekenntnis, Sakramente -, die andernorts den vornehmsten Stoff des konfessionellen Religionsunterrichts bilden, haben an der Lichtwarkschule und in der Folge für den Schüler Schmidt nur geringe Bedeutung.

Einen persönlicheren Zugang zum Glauben findet Schmidt erst im Zweiten Weltkrieg. Hier taucht die in vielen Wendungen variierte Rede von Gott als dem "Herrn der Geschichte" auf. Ob es ein Erlebnis der Bewahrung gibt, auf dem diese Überzeugung lebensgeschichtlich fußen könnte, lässt Schmidt im Dunkeln des Krieges. Jedenfalls ist in der Folge eine Hinwendung zur Kirche zu konstatieren. Helmut und Loki lassen sich im Juli 1942 kirchlich trauen - ein ungewöhnlicher Schritt, denn die Eltern der Braut sind aus der Kirche ausgetreten, Loki muss sich erst taufen lassen. Im Rückblick stellt Schmidt heraus, er habe sich von den Kirchen zuallererst eine Wiederaufrichtung der Menschlichkeit erwartet.

Im Alltag der frühen Bundesrepublik verbleibt die Familie Schmidt bei der gewohnten Halbdistanz zur Kirche; man schüttelt dem Pfarrer zu Weihnachten beim Verlassen der Kirche freundlich die Hand und lässt ihn sonst einen - von den eigenen Kirchensteuern alimentierten - frommen Mann sein. Den Anstoß für Schmidts Eintritt in die SPD gibt Hans Bohnenkamp, ein religiöser Sozialist. Schmidt erkennt, dass die Kirchenfrage eine Kardinalfrage der deutschen Politik im Allgemeinen und der SPD im Besonderen ist. Die Partei, die man, wenn man die Wählerschaft im 19. Jahrhundert ansieht, mit Recht als erste Häresie des Protestantismus bezeichnen kann, versucht nach dem Krieg die Distanz sowohl zur evangelischen Kirchenführung wie zum Katholizismus insgesamt zu überwinden. Das Godesberger Programm von 1959 ist auf diesem Weg der wichtigste Schritt.

Der Politiker Schmidt tut das Seine dazu, noch vorhandene Gräben zuzuschütten. Er gibt sich öffentlich als Christ zu erkennen, hält zahllose Vorträge zum Verhältnis von Politik und Religion, wird von seiner Landeskirche als Synodaler berufen und verteidigt als Bundeskanzler (von 1974 bis 1982) das bestehende Staat-Kirchen-Verhältnis gegen Angriffe des Koalitionspartners FDP. 1976 veröffentlicht er das Buch "Als Christ in der politischen Entscheidung". Er stellt darin auf die Bedeutung des Gewissens in der Politik ab, grenzt sich ab sowohl gegen religiöse Verbrämung von Politik durch Christdemokratie und katholischen Klerus als auch gegen allzu lautstarken Linksprotestantismus. Schmidt lästert in diesem Zusammenhang über den Eifer von "Notstandspastoren, die uns besuchen kommen in Bonn, uns mit ihrer Gesinnung überschütten und von der Sache keine Ahnung haben". Der Kanzler nimmt in der Religionspolitik eine betont bürgerliche Haltung ein. Hinweise darauf, dass er zur Religion ein lediglich instrumentelles Verhältnis pflegte, es ihm also vor allem auf bella figura vor den Wählern ankam, gibt es nicht. Dagegen spricht auch, dass Schmidt enge, teils freundschaftliche Beziehungen zu wichtigen Kirchenführern pflegt, zum Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber etwa, zum Brandenburger Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe sowie, allen voran, zum EKD-Ratsvorsitzenden Eduard Lohse.

Über weite Strecken liest sich Rainer Herings Buch wie ein Beleg für die Vermutung, welch große Bedeutung es für die Kirchen hat, über Repräsentanten zu verfügen, deren Statur auch den Spitzen der Politik Respekt abnötigt. Ein Manko der Arbeit Herings ist indes, dass kirchenpolitische Gemengelagen von ihm theologiehistorisch kaum durchdrungen werden. Gerne hätte man etwa gewusst, ob beim Ausscheiden des Entwicklungsministers und politischen Bannerträgers des Linksprotestantismus Ehrhard Eppler aus Schmidts Kabinett im Jahr 1974 nicht auch die religiös-weltanschaulichen Differenzen zwischen beiden eine manifest politische Bedeutung gewannen. Schmidt bezog in den innerprotestantischen Konflikten jedenfalls gemeinsam mit Lohse Position auf der liberal-konservativen Seite. Genauer gewusst, wie sich das Mischungsverhältnis beider Seiten in den beiden maßgeblichen Agglomerationen des publizistisch-protestantischen Komplexes gestaltete: dem Kirchentag (in dessen Präsidium Eppler mit Richard von Weizsäcker 1981 gegen einen Auftritt Schmidts agitierte) und dem Hamburger Redaktionsgebäude der "Zeit".

Nach dem Ende seiner Kanzlerschaft nutzt Schmidt die kirchlichen Kanäle, um weiter Ostpolitik zu machen. In Abstimmung mit Stolpe, dem Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel oder dem Mecklenburger Landesbischof Heinrich Rathke bereist Schmidt die DDR und bestärkt bei seinen Auftritten kirchennahe Regimeskeptiker und -gegner. Auch hier bleiben jedoch innerkirchliche Richtungskämpfe unterbelichtet: Während die eine Seite - die kirchenpolitischen Codewörter lauten "Barth", "Barmen", "Bonhoeffer" - auf Dialog mit dem Regime setzt, sind andere auf Distanz bedacht. Wenn sich 1988 Joachim Gauck und Manfred Stolpe darüber streiten, ob SED-Vertreter zu einem Essen mit Schmidt geladen werden sollen, ist dies nur schwerlich ein lediglich persönlicher Konflikt.

Mit dem Ende der deutschen Teilung wird auch im Verhältnis Schmidts zur Religion ein neues Kapitel aufgeschlagen. Als elder statesman greift Schmidt weit über deutsche Grenzen hinaus, referiert (und publiziert) nun zu den großen geopolitischen Fragen. Hering listet Schmidts Weltwirken im "InterAction Council" ebenso akribisch auf wie Schmidts nicht von Erfolg gekrönte Versuche, dem Papst Themenvorschläge für künftige Enzykliken zu unterbreiten. Hering, der seine Bewunderung für Schmidt über weite Strecken des Buches auf angenehme Weise im Zaum hält, nimmt das alles sehr ernst, vielleicht etwas zu ernst. Denn mit der Zahl der verkauften Bücher erreicht auch die Selbstgewissheit von Schmidts Urteilen bisweilen schwindelerregende Höhen. Schmidts Ausführungen über Aufklärung oder Konfuzianismus bleiben indes pauschal. Bläst man den Zigarettendunst weg, wird man konstatieren dürfen, dass man es bei den Betrachtungen des Altkanzlers nur selten mit einem Marc Aurel redivivus, und dafür umso öfter mit maxweberndem Verantwortungsgerede zu tun bekommt.

Hering macht in den Schlusskapiteln plausibel, dass mit Schmidts thematischer Wendung weg von den Kirchen und hin zu den Religionen auch eine wachsende Distanz zum christlichen Glauben einhergeht. Die religiöse Skepsis des frühen Schmidt lässt sich ohne weiteres als das Pochen eines Protestanten auf seine subjektive Mündigkeit gegenüber den Ansprüchen der religiösen Institution verstehen. Der späte Schmidt scheint den Boden, dem solche Auseinandersetzungen entstammen, verlassen zu haben. Die religiöse Biographie des Kanzlers spiegelt insofern ein Dilemma, ja vielleicht sogar die Tragödie des liberalen Christentums: Aus einer Halbdistanz zur Kirche wird am Ende Distanz zur Religion.

REINHARD BINGENER

Rainer Hering: "Aber ich brauche die Gebote . . .". Helmut Schmidt, die Kirchen und die Religion. Edition Temmen, Bremen 2012. 280 S., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für den Rezensenten Reinhard Bingener spiegelt sich in der von Rainer Hering verfassten religiösen Biografie Helmut Schmidts ein Dilemma des liberalen Christentums. Wie nämlich aus einer Halbdistanz zur Kirche schließlich Distanz zur Religion wird, kann der Autor dem Rezensenten insgesamt in verdienstvoller Weise zeigen, wenngleich Bingener sich mitunter einen etwas kritischeren Blick auf das zigarettenumnebelte Geraune des Altkanzlers gewünscht hätte. Theologiehistorisch vermag ihn der Autor nicht immer ganz zu überzeugen. So scheint Bingener die Darstellung religiös-weltanschaulicher Differenzen innerhalb von Schmidts Kabinett, aber auch Richtungskämpfe innerhalb der Kirche während Schmidts Kanzlerschaft Zeit stellenweise unterbelichtet.

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