In einem kleinen Dorf in Uganda wächst Anfang der Siebzigerjahre der junge Mugezi bei seinem Großvater, dem Dorfältesten, und dessen Schwester, der Hebamme des Dorfes, auf. Für ihn die glücklichste Zeit seines Lebens, denn als Assistent der alten Frau wird er nicht nur mit den Gebräuchen der Geburtshilfe vertraut, sondern lernt bereits eine Menge über die Geheimnisse der körperlichen Liebe. Mugezis Vater Serenity und seine Mutter Nakkazi sind derweil mit den anderen Geschwistern in die Stadt gezogen. Sie führen eine Ehe, die schon von Anfang an unter keinem guten Stern stand - auch weil Nakkazi, eine ehemalige Nonne, die das Kloster wegen ihres Hangs zur Gewalttätigkeit verlassen musste, nur in Ausnahmefällen für Sex zur Verfügung steht und deshalb den Spitznamen Hängeschloss trägt. Irgendwann sind auch für Mugezi die schönen Zeiten vorbei: Er muss zu seinen Eltern in die Stadt. Und das Leben in Kampala ist hart ... In den Wirren des Bürgerkrieges, der Uganda ins Chaos stürzt - und es zu der abyssalen Region, dem Land des Abgrunds, macht, das Serenity gerne Abessinien nennt -, verliert Mugezi schließlich fast alles, was ihm lieb war. Doch er hat gelernt, sich durchzuschlagen - und das kann er noch einmal unter Beweis stellen, als es ihn eines Tages, weg von seiner zerstörten Heimat, nach Amsterdam zieht ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2001Fleischeslust
Prächtig: Moses Isegawa stürzt in einen abessinischen Abgrund
Nicht "abessinische", sondern "abyssische" Chronik müßte dieser Roman eigentlich heißen. Denn Mugezi, der Erzähler, erklärt, sein Vater Serenity habe Uganda für einen "Abyss", einen Abgrund, gehalten, der Menschenleben verschlinge, deswegen sei Uganda das wahre Abyssinien, Abessinien. Der 1963 geborene Isegawa schildert in diesem Debüt die Geschichte Mugezis von der frühesten Kindheit in einem ugandischen Dorf bis zur Auswanderung nach Amsterdam. Ein afrikanischer Bildungsroman, könnte man meinen, wäre da nicht die überaus feine Ironie, mit der Isegawa seine Schilderungen vorträgt und die auch den späten Erfolg Mugezis in ein höchst zweideutiges Licht rückt. Der Ironiker tritt nur in den Hintergrund, wenn Isegawa die Greuel des Bürgerkrieges ausmalt, von dem das ostafrikanische Land heimgesucht wird - oder wenn er das Wüten der Aids-Epidemie beschreibt, der reihenweise Mugezis Onkel und Tanten zum Opfer fallen.
Aus einem anscheinend unerschöpflichen Füllhorn schüttelt Isegawa seine Episoden. Der Roman überzeugt nicht durch komplexe Konstruktion oder durch atemraubende Spannungsbögen, sondern durch seinen Reichtum an Anekdoten, durch die Kaskaden von Miniaturen - und den Willen seines Protagonisten, den tausend Wechselfällen des Lebens zu trotzen. Schon das Dorf im ostafrikanischen Busch als Schauplatz der Kindheit bietet viele Möglichkeiten zu mannigfaltigen Erlebnissen. So wird der junge Mugezi Gehilfe seiner Großmutter, die als Heilkundige und Hebamme in den Weilern unterwegs ist. Seine Bedeutung liegt weniger in praktischen Diensten als in einer Art magischer Präsenz: Die Gegenwart des Jünglings soll, mündlicher Überlieferung zufolge, die Geburt gesunder männlicher Nachkommen begünstigen. Männliche Nachkommen wiederum erhöhen das soziale Prestige der ugandischen Mütter. Straucheln könnte Mugezi auch im katholischen Seminar, in dem Neuankömmlinge einer von den Priestern geduldeten Tyrannei durch die älteren Schüler ausgesetzt sind. Hier mausert er sich zu einem kleinen Terroristen.
Isegawa verfügt über ein beeindruckendes Erzähltalent. Eine Herausforderung für die Lachmuskeln ist die Darstellung der Hochzeit von Serenity und Hängeschloß, der Eltern Mugezis. Wie die weitverzweigte Verwandtschaft sich im Dorf versammelt, wie die Festgemeinde sich einer wüsten Orgie des Fleisches hingibt und die Braut, eine verstoßene katholische Nonne, von Ekel vor all dieser heidnischen Fleischeslust ergriffen wird, wie in der Hochzeitsnacht, in der das Ritual der Entjungferung unter Anwesenheit einer Tante zelebriert werden soll, die Tante dem Bräutigam beispringt, weil dieser im entscheidenden Augenblick unter Potenzproblemen leidet, wie sich der Bräutigam in ebendiese hilfreiche Tante unsterblich verliebt, woraus seine lebenslängliche Beziehung zu einer Zweitfrau entspringt, wie sich die Spuren der nächtlichen Exzesse am folgenden Tag auf dem ganzen Gelände verstreut finden: das alles ist äußerst unterhaltsam erzählt. Aber Isegawa beschönigt auch nichts: Er schildert die ugandischen Verhältnisse, die kaum zu bezwingende Neigung zu Korruption und Nepotismus, die innerafrikanischen ethnischen Vorurteile, die systematischen Plünderungen und Vergewaltigungen ohne postkoloniale Schuldzuweisungen.
Mit bewundernswertem Improvisationstalent schmuggelt sich der Schelm durch die Fährnisse der "abessinischen" Steppe und ist am Ende - ein bißchen reifer, ein bißchen klüger, ein bißchen vermögender - unter allerlei Schwindeleien in Europa angelangt. Dank einer niederländischen Hilfsorganisation, die in Uganda mit ihrem pädophilen Image zu kämpfen hat, während sie in Europa mit zweifelhaften Methoden ihre Spenden eintreibt, dringt er bis nach Amsterdam vor und verabschiedet sich, als er alle Betrügereien durchschaut hat, auf nonchalante Art aus seinen Spendensammelkontrakten - und geht ein Verhältnis zu einer Weißen ein. Und so endet Mugezis Geschichte - leider, muß man sagen, denn der Leser hat unterwegs diesen ugandischen Fabulierer, diesen Märchenprinzen mit seiner blühenden Phantasie und seinem nicht totzukriegenden Humor längst liebgewonnen.
LORENZO RAVAGLI
Moses Isegawa: "Abessinische Chronik". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Heller. Verlag Karl Blessing, München 2000. 604 S., geb., 46,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Prächtig: Moses Isegawa stürzt in einen abessinischen Abgrund
Nicht "abessinische", sondern "abyssische" Chronik müßte dieser Roman eigentlich heißen. Denn Mugezi, der Erzähler, erklärt, sein Vater Serenity habe Uganda für einen "Abyss", einen Abgrund, gehalten, der Menschenleben verschlinge, deswegen sei Uganda das wahre Abyssinien, Abessinien. Der 1963 geborene Isegawa schildert in diesem Debüt die Geschichte Mugezis von der frühesten Kindheit in einem ugandischen Dorf bis zur Auswanderung nach Amsterdam. Ein afrikanischer Bildungsroman, könnte man meinen, wäre da nicht die überaus feine Ironie, mit der Isegawa seine Schilderungen vorträgt und die auch den späten Erfolg Mugezis in ein höchst zweideutiges Licht rückt. Der Ironiker tritt nur in den Hintergrund, wenn Isegawa die Greuel des Bürgerkrieges ausmalt, von dem das ostafrikanische Land heimgesucht wird - oder wenn er das Wüten der Aids-Epidemie beschreibt, der reihenweise Mugezis Onkel und Tanten zum Opfer fallen.
Aus einem anscheinend unerschöpflichen Füllhorn schüttelt Isegawa seine Episoden. Der Roman überzeugt nicht durch komplexe Konstruktion oder durch atemraubende Spannungsbögen, sondern durch seinen Reichtum an Anekdoten, durch die Kaskaden von Miniaturen - und den Willen seines Protagonisten, den tausend Wechselfällen des Lebens zu trotzen. Schon das Dorf im ostafrikanischen Busch als Schauplatz der Kindheit bietet viele Möglichkeiten zu mannigfaltigen Erlebnissen. So wird der junge Mugezi Gehilfe seiner Großmutter, die als Heilkundige und Hebamme in den Weilern unterwegs ist. Seine Bedeutung liegt weniger in praktischen Diensten als in einer Art magischer Präsenz: Die Gegenwart des Jünglings soll, mündlicher Überlieferung zufolge, die Geburt gesunder männlicher Nachkommen begünstigen. Männliche Nachkommen wiederum erhöhen das soziale Prestige der ugandischen Mütter. Straucheln könnte Mugezi auch im katholischen Seminar, in dem Neuankömmlinge einer von den Priestern geduldeten Tyrannei durch die älteren Schüler ausgesetzt sind. Hier mausert er sich zu einem kleinen Terroristen.
Isegawa verfügt über ein beeindruckendes Erzähltalent. Eine Herausforderung für die Lachmuskeln ist die Darstellung der Hochzeit von Serenity und Hängeschloß, der Eltern Mugezis. Wie die weitverzweigte Verwandtschaft sich im Dorf versammelt, wie die Festgemeinde sich einer wüsten Orgie des Fleisches hingibt und die Braut, eine verstoßene katholische Nonne, von Ekel vor all dieser heidnischen Fleischeslust ergriffen wird, wie in der Hochzeitsnacht, in der das Ritual der Entjungferung unter Anwesenheit einer Tante zelebriert werden soll, die Tante dem Bräutigam beispringt, weil dieser im entscheidenden Augenblick unter Potenzproblemen leidet, wie sich der Bräutigam in ebendiese hilfreiche Tante unsterblich verliebt, woraus seine lebenslängliche Beziehung zu einer Zweitfrau entspringt, wie sich die Spuren der nächtlichen Exzesse am folgenden Tag auf dem ganzen Gelände verstreut finden: das alles ist äußerst unterhaltsam erzählt. Aber Isegawa beschönigt auch nichts: Er schildert die ugandischen Verhältnisse, die kaum zu bezwingende Neigung zu Korruption und Nepotismus, die innerafrikanischen ethnischen Vorurteile, die systematischen Plünderungen und Vergewaltigungen ohne postkoloniale Schuldzuweisungen.
Mit bewundernswertem Improvisationstalent schmuggelt sich der Schelm durch die Fährnisse der "abessinischen" Steppe und ist am Ende - ein bißchen reifer, ein bißchen klüger, ein bißchen vermögender - unter allerlei Schwindeleien in Europa angelangt. Dank einer niederländischen Hilfsorganisation, die in Uganda mit ihrem pädophilen Image zu kämpfen hat, während sie in Europa mit zweifelhaften Methoden ihre Spenden eintreibt, dringt er bis nach Amsterdam vor und verabschiedet sich, als er alle Betrügereien durchschaut hat, auf nonchalante Art aus seinen Spendensammelkontrakten - und geht ein Verhältnis zu einer Weißen ein. Und so endet Mugezis Geschichte - leider, muß man sagen, denn der Leser hat unterwegs diesen ugandischen Fabulierer, diesen Märchenprinzen mit seiner blühenden Phantasie und seinem nicht totzukriegenden Humor längst liebgewonnen.
LORENZO RAVAGLI
Moses Isegawa: "Abessinische Chronik". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Heller. Verlag Karl Blessing, München 2000. 604 S., geb., 46,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Irene Binal ist der Ansicht, dass es dem Autor sehr gut gelungen sei, eine Brücke zwischen Europa und Afrika zu schlagen. Denn obwohl der soziale und kulturelle Rahmen dieses Romans - eine Mischung aus Autobiografie und Erfindung - ein afrikanischer sei, so mache doch der Autor deutlich, dass Gefühle und Reaktionen sich von europäischen bisweilen nur recht wenig unterscheiden. Die Stärke dieses Buches sieht die Rezensentin denn auch vor allem darin, dass Isegawa auch stets großen Wert darauf legt, die Ursachen für bestimmte Verhaltensweisen genau aufzuzeigen. Sie bedauert lediglich, dass der Autor die politische Situation in Uganda nicht kritisch hinterfragen mag. Dies ist dezidiert nicht sein Anspruch. Allerdings weist sie darauf hin, dass Isegawa beispielsweise durch die Beschreibung einer Frau, die der Guerilla nahe steht, denn doch - wenn auch indirekt - eine politische Verantwortung andeutet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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