Hitlers Generäle: Was sie wirklich dachten - Was die deutsche Generalität während des Zweiten Weltkriegs über Hitler, die Kriegslage und die deutschen Kriegsverbrechen wusste und dachte, war bisher kaum bekannt.
Eine neue Quelle, die der Historiker Sönke Neitzel jüngst im britischen Nationalarchiv erschlossen hat, gibt nun erstmals einen unmittelbaren, authentischen Einblick in die Gedankenwelt der Wehrmachtführung. Es sind die Abhörprotokolle deutscher Stabsoffiziere in britischer Kriegsgefangenschaft. Ohne zu wissen, daß sie abgehört wurden, tauschten sich die hochrangigen, gut informierten Gefangenen offen über ihre Kriegserlebnisse, die weiteren Aussichten des Krieges, den Nationalsozialismus, die Kriegsverbrechen und den 20. Juli aus. Neitzels sorgfältig kommentierte und eingeleitete Edition macht deutlich, in welch hohem Maße die militärische Elite über die katastrophale Kriegslage und die vor allem an der Ostfront begangenen Kriegsverbrechen im Bilde war.
Eine neue Quelle, die der Historiker Sönke Neitzel jüngst im britischen Nationalarchiv erschlossen hat, gibt nun erstmals einen unmittelbaren, authentischen Einblick in die Gedankenwelt der Wehrmachtführung. Es sind die Abhörprotokolle deutscher Stabsoffiziere in britischer Kriegsgefangenschaft. Ohne zu wissen, daß sie abgehört wurden, tauschten sich die hochrangigen, gut informierten Gefangenen offen über ihre Kriegserlebnisse, die weiteren Aussichten des Krieges, den Nationalsozialismus, die Kriegsverbrechen und den 20. Juli aus. Neitzels sorgfältig kommentierte und eingeleitete Edition macht deutlich, in welch hohem Maße die militärische Elite über die katastrophale Kriegslage und die vor allem an der Ostfront begangenen Kriegsverbrechen im Bilde war.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2007Wiedersehen in Trent Park
Als Wehrmachtsoffiziere sich in der Gefangenschaft über Hitler, Deutschland und den Krieg äußerten, hörte der englische Geheimdienst genau zu. Jetzt geriet die Vorstellung von Sönke Neitzels Buch über die Abhörprotokolle zu einer Art Klassentreffen.
LONDON, 21. November
Nichts auf der Website der Middlesex University weist auf die Geschichte des herrschaftlichen Anwesens Trent Park hin, wo die über verschiedene Gelände verteilte Hochschule nun mit einigen ihrer Fakultäten angesiedelt ist. Dort steht lediglich, das Herrenhaus inmitten eines malerischen Landschaftsparks sei "Teil einer Mischung aus alten und neuen Gebäuden". Kein Wort über die Monarchen, die hier am nördlichen Rand der Hauptstadt dem Jagdvergnügen frönten, oder über den in der Gesellschaft hochangesehenen Arzt Richard Jebb, dem Georg III. ein Stück des königlichen Jagdgebietes übergab aus Dankbarkeit für die Heilung seines jüngeren Bruders. Der war in Trient (Trento) erkrankt, daher der um das "o" beraubte Name des Hauses, das Jebb im späteren achtzehnten Jahrhundert dort errichtete.
Auch die Ära der Sassoons, jener aus Bagdad stammenden jüdischen Kaufmannsfamilie, die als die Rothschilds des Ostens bezeichnet worden sind, findet keine Erwähnung. Dabei erwachte Trent Park in den Zwischenkriegsjahren, als Sir Philip Sassoon, Vetter des Dichters Siegfried Sassoon, hier nach den Worten eines Historikers "ein vergoldetes Scheinbild des englischen Landlebens" schuf. Der konservative Politiker "Chips" Channon beschrieb Trent als "Traumhaus, perfekt, luxuriös, gekennzeichnet von dem exotischen Geschmack, der von jedem Sassoon-Schloss zu erwarten ist". Hier spielte der Herzog von York, später Georg VI., Golf, während seine Frau in Sassoons Privatflugzeug eine Runde über dem Park drehte; hier stritt sich Winston Churchill beim Tee mit George Bernard Shaw; hier schlummerte der greise Tory-Politiker Arthur Balfour in einem Sessel. Selbst wenn die Anekdote erfunden ist, dass der Gastgeber befohlen habe, den Union Jack einzuholen, weil er nicht mit dem Sonnenuntergang harmoniere, zeugt sie von dem aufwendig verfeinerten Lebensstil der neureichen Hautevolee, die in Trent Park verkehrte, bevor der Backsteinbau während des Zweiten Weltkrieges einem ganz anderen Zweck übergeben wurde: als Sonderlager für hochrangige Kriegsgefangene. In dieser angenehmen Umgebung hoffte der britische Geheimdienst den Wehrmachtsoffizieren die Zunge zu lockern und aus ihren abgehörten Gespräche wertvolle Informationen zu gewinnen.
Zwischen 1942 und 1945 wurden knapp neunzig Generäle nach Trent Park verbracht und in den verwanzten Räumen belauscht, wie sie Erfahrungen austauschten, die Lage in Deutschland debattierten, über Schuld und Mittäterschaft reflektierten und erschütternde Bekenntnisse über Verbrechen an Juden und Partisanen abgaben, die belegen, dass die Generalität über das Ausmaß der Unrechtstaten bestens informiert war. Der Mainzer Zeithistoriker Sönke Neitzel, dessen im Jahr 2005 veröffentlichte Edition der derzeit im ZDF laufenden Dokumentationsserie "Die Wehrmacht - Eine Bilanz" als Grundlage diente (F.A.Z. vom 13. November), ging bei seinen Forschungen für eine Arbeit über die Kriegsmarine einem vagen Hinweis nach, als er im britischen Staatsarchiv auf eine bis dahin nie ausgewertete Akte mit den Wortprotokollen stieß. An jenem verregneten Novembertag 2001, an dem seine Spurensuche begann, dürfte Neitzel sich wohl nicht erträumt haben, eines Tages als Redner in dem ehemaligen Salon Sir Philip Sassoons die englische Ausgabe des Buches "Abgehört" vorzustellen, die jetzt mit einem Vorwort des Hitler-Biographen Sir Ian Kershaw unter dem Titel "Tapping Hitler's Generals" erschienen ist.
Der Rahmen hat durch die institutionelle Nutzung freilich etwas von dem Charme verloren, den frühere Besucher rühmten, aber allzu schäbig wirkt das Anwesen dennoch nicht. "Etwas besser als Colditz", wie Kershaw mit ironischem Understatement frotzelte, als er bei der vom Deutschen Historischen Institut in London gemeinsam mit der Universität Middlesex ausgerichteten Veranstaltung ans Pult trat. Er hob hervor, was auch andere bemerkt haben, dass die in Neitzels Buch publizierten Auszüge aus den zehntausend Seiten umfassenden Abschriften der abgehörten Gespräche ein für allemal mit der Legende der "sauberen" Wehrmacht Schluss machten. Mit ihren Rechtfertigungen hätten die Offiziere nach dem Krieg einstimmig an dieser Legende gewoben, wonach die Verbrechen allein auf das Konto Hitlers und der SS gingen, sagte Kershaw. Das seltene Geständnis einer der Generäle in Trent Park, dass Deutschland die Niederlage verdiene, sah der Historiker als treffendes Epitaph für die Rolle der Wehrmacht in der Katastrophe.
Bei der anschließenden Diskussion kam auch die von dem Zeithistoriker Richard Overy, Herausgeber der Verhör-Protokolle der in die Hände der Alliierten geratenen Elite des Hitler-Regimes 1945, in einer Rezension für den "Telegraph" gestellte Frage auf, weshalb die Briten die Informationen nicht benutzt hätten, um die Generäle in den Kriegsverbrecherprozessen zu belasten. Ein älterer Herr aus dem Publikum lieferte die Antwort: Abgehörte Gespräche sind nach dem britischen Gesetz vor Gericht nicht als Beweismaterial zulässig, eine Beschränkung, die im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung des Öfteren zur Debatte gestellt worden ist. Sönke Neitzel wies ferner darauf hin, dass die Geständnisse zu allgemein gewesen seien, um vor Gericht Bestand zu haben, da die Täter weder den genauen Ort noch den Zeitpunkt der Verbrechen preisgegeben hätten.
Zu den interessanteren Interventionen aus dem Publikum gehörte der Auftritt eines inzwischen über neunzig Jahre alten Zeitzeugen, der aufgrund seiner technischen und sprachlichen Kenntnisse vom Geheimdienst eingesetzt worden war, unweit von Trent Park kriegsgefangene Marineoffiziere zu verhören. Er vertrat die Ansicht, dass der General der Panzertruppen, Wilhelm Ritter von Thoma, um den sich in Trent Park die Hitler-Gegner scharten, den Briten als Informant gedient habe, ohne Absprache aber in einer Art inoffiziellen Einvernehmens. Diese Vermutung hegten seinerzeit auch einige der Mitgefangenen, denen Thomas unverblümte Abscheu vor dem Hitler-Regime verdächtig schien, wohingegen die Sympathisanten des Regimes in Ludwig Crüwell ihre Leitfigur fanden. Neitzel hielt diese Möglichkeit jedoch für unwahrscheinlich.
Der Beitrag des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters wie auch die Anwesenheit von Angehörigen der Generäle, darunter der Tochter Hans Cramers, und des Abhörstabes, der zumeist mit deutschen Emigranten besetzt war, darunter der Germanist Peter Ganz, gaben der Buchvorstellung den bewegenden Charakter eines Klassentreffens, zeitbedingt freilich eines der letzten dieser Art.
GINA THOMAS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Wehrmachtsoffiziere sich in der Gefangenschaft über Hitler, Deutschland und den Krieg äußerten, hörte der englische Geheimdienst genau zu. Jetzt geriet die Vorstellung von Sönke Neitzels Buch über die Abhörprotokolle zu einer Art Klassentreffen.
LONDON, 21. November
Nichts auf der Website der Middlesex University weist auf die Geschichte des herrschaftlichen Anwesens Trent Park hin, wo die über verschiedene Gelände verteilte Hochschule nun mit einigen ihrer Fakultäten angesiedelt ist. Dort steht lediglich, das Herrenhaus inmitten eines malerischen Landschaftsparks sei "Teil einer Mischung aus alten und neuen Gebäuden". Kein Wort über die Monarchen, die hier am nördlichen Rand der Hauptstadt dem Jagdvergnügen frönten, oder über den in der Gesellschaft hochangesehenen Arzt Richard Jebb, dem Georg III. ein Stück des königlichen Jagdgebietes übergab aus Dankbarkeit für die Heilung seines jüngeren Bruders. Der war in Trient (Trento) erkrankt, daher der um das "o" beraubte Name des Hauses, das Jebb im späteren achtzehnten Jahrhundert dort errichtete.
Auch die Ära der Sassoons, jener aus Bagdad stammenden jüdischen Kaufmannsfamilie, die als die Rothschilds des Ostens bezeichnet worden sind, findet keine Erwähnung. Dabei erwachte Trent Park in den Zwischenkriegsjahren, als Sir Philip Sassoon, Vetter des Dichters Siegfried Sassoon, hier nach den Worten eines Historikers "ein vergoldetes Scheinbild des englischen Landlebens" schuf. Der konservative Politiker "Chips" Channon beschrieb Trent als "Traumhaus, perfekt, luxuriös, gekennzeichnet von dem exotischen Geschmack, der von jedem Sassoon-Schloss zu erwarten ist". Hier spielte der Herzog von York, später Georg VI., Golf, während seine Frau in Sassoons Privatflugzeug eine Runde über dem Park drehte; hier stritt sich Winston Churchill beim Tee mit George Bernard Shaw; hier schlummerte der greise Tory-Politiker Arthur Balfour in einem Sessel. Selbst wenn die Anekdote erfunden ist, dass der Gastgeber befohlen habe, den Union Jack einzuholen, weil er nicht mit dem Sonnenuntergang harmoniere, zeugt sie von dem aufwendig verfeinerten Lebensstil der neureichen Hautevolee, die in Trent Park verkehrte, bevor der Backsteinbau während des Zweiten Weltkrieges einem ganz anderen Zweck übergeben wurde: als Sonderlager für hochrangige Kriegsgefangene. In dieser angenehmen Umgebung hoffte der britische Geheimdienst den Wehrmachtsoffizieren die Zunge zu lockern und aus ihren abgehörten Gespräche wertvolle Informationen zu gewinnen.
Zwischen 1942 und 1945 wurden knapp neunzig Generäle nach Trent Park verbracht und in den verwanzten Räumen belauscht, wie sie Erfahrungen austauschten, die Lage in Deutschland debattierten, über Schuld und Mittäterschaft reflektierten und erschütternde Bekenntnisse über Verbrechen an Juden und Partisanen abgaben, die belegen, dass die Generalität über das Ausmaß der Unrechtstaten bestens informiert war. Der Mainzer Zeithistoriker Sönke Neitzel, dessen im Jahr 2005 veröffentlichte Edition der derzeit im ZDF laufenden Dokumentationsserie "Die Wehrmacht - Eine Bilanz" als Grundlage diente (F.A.Z. vom 13. November), ging bei seinen Forschungen für eine Arbeit über die Kriegsmarine einem vagen Hinweis nach, als er im britischen Staatsarchiv auf eine bis dahin nie ausgewertete Akte mit den Wortprotokollen stieß. An jenem verregneten Novembertag 2001, an dem seine Spurensuche begann, dürfte Neitzel sich wohl nicht erträumt haben, eines Tages als Redner in dem ehemaligen Salon Sir Philip Sassoons die englische Ausgabe des Buches "Abgehört" vorzustellen, die jetzt mit einem Vorwort des Hitler-Biographen Sir Ian Kershaw unter dem Titel "Tapping Hitler's Generals" erschienen ist.
Der Rahmen hat durch die institutionelle Nutzung freilich etwas von dem Charme verloren, den frühere Besucher rühmten, aber allzu schäbig wirkt das Anwesen dennoch nicht. "Etwas besser als Colditz", wie Kershaw mit ironischem Understatement frotzelte, als er bei der vom Deutschen Historischen Institut in London gemeinsam mit der Universität Middlesex ausgerichteten Veranstaltung ans Pult trat. Er hob hervor, was auch andere bemerkt haben, dass die in Neitzels Buch publizierten Auszüge aus den zehntausend Seiten umfassenden Abschriften der abgehörten Gespräche ein für allemal mit der Legende der "sauberen" Wehrmacht Schluss machten. Mit ihren Rechtfertigungen hätten die Offiziere nach dem Krieg einstimmig an dieser Legende gewoben, wonach die Verbrechen allein auf das Konto Hitlers und der SS gingen, sagte Kershaw. Das seltene Geständnis einer der Generäle in Trent Park, dass Deutschland die Niederlage verdiene, sah der Historiker als treffendes Epitaph für die Rolle der Wehrmacht in der Katastrophe.
Bei der anschließenden Diskussion kam auch die von dem Zeithistoriker Richard Overy, Herausgeber der Verhör-Protokolle der in die Hände der Alliierten geratenen Elite des Hitler-Regimes 1945, in einer Rezension für den "Telegraph" gestellte Frage auf, weshalb die Briten die Informationen nicht benutzt hätten, um die Generäle in den Kriegsverbrecherprozessen zu belasten. Ein älterer Herr aus dem Publikum lieferte die Antwort: Abgehörte Gespräche sind nach dem britischen Gesetz vor Gericht nicht als Beweismaterial zulässig, eine Beschränkung, die im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung des Öfteren zur Debatte gestellt worden ist. Sönke Neitzel wies ferner darauf hin, dass die Geständnisse zu allgemein gewesen seien, um vor Gericht Bestand zu haben, da die Täter weder den genauen Ort noch den Zeitpunkt der Verbrechen preisgegeben hätten.
Zu den interessanteren Interventionen aus dem Publikum gehörte der Auftritt eines inzwischen über neunzig Jahre alten Zeitzeugen, der aufgrund seiner technischen und sprachlichen Kenntnisse vom Geheimdienst eingesetzt worden war, unweit von Trent Park kriegsgefangene Marineoffiziere zu verhören. Er vertrat die Ansicht, dass der General der Panzertruppen, Wilhelm Ritter von Thoma, um den sich in Trent Park die Hitler-Gegner scharten, den Briten als Informant gedient habe, ohne Absprache aber in einer Art inoffiziellen Einvernehmens. Diese Vermutung hegten seinerzeit auch einige der Mitgefangenen, denen Thomas unverblümte Abscheu vor dem Hitler-Regime verdächtig schien, wohingegen die Sympathisanten des Regimes in Ludwig Crüwell ihre Leitfigur fanden. Neitzel hielt diese Möglichkeit jedoch für unwahrscheinlich.
Der Beitrag des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters wie auch die Anwesenheit von Angehörigen der Generäle, darunter der Tochter Hans Cramers, und des Abhörstabes, der zumeist mit deutschen Emigranten besetzt war, darunter der Germanist Peter Ganz, gaben der Buchvorstellung den bewegenden Charakter eines Klassentreffens, zeitbedingt freilich eines der letzten dieser Art.
GINA THOMAS
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2005Solche und auch solche
Abhörprotokolle deutscher kriegsgefangener Offiziere
An sich boten die äußeren Umstände einiges, um sich näher zu kommen: Die Verpflegung war gediegen, die Unterbringung bequem, und auch die sanfte Hügellandschaft hätte sich auf die Gemüter der inhaftierten deutschen Offiziere mäßigend auswirken können. „Große Rasenflächen mit Marmorstatuen, herrliche Baumgruppen von alten Zedern und uralten Eichen. Ein Golfplatz, ein Schwimmbad, ein schöner Teich mit Wildenten”, schwärmte der Generalleutnant Erwin Menny über die Umgebung des Gefangenenlagers Trent Park, nördlich von London gelegen. Aber selbst solche Annehmlichkeiten konnten Auseinandersetzungen zwischen den Soldaten nicht verhindern. Blieben die einen unnachgiebige Anhänger Hitlers, zeigten sich andere zunehmend ablehnend gegenüber dem NS-Regime.
Seit es Kriege gibt, wird versucht, gefangene Soldaten auszuhorchen. Ziel soll es sein, etwas über die Strategie und Taktik der Gegenseite in Erfahrung zu bringen. So versuchte seit dem Sommer 1942 auch der britische Nachrichtendienst, aus den heimlich mitgehörten Gesprächen deutscher kriegsgefangener Offiziere wertvolle Informationen über den Feind zu erhalten. In den Abhörprotokollen dieser Gespräche wird deutlich: Die deutsche Offiziersschicht war sich alles andere als einig über Hitler und den Nationalsozialismus, über den Krieg, den 20. Juli, die Möglichkeiten der Kollaboration sowie die Vernichtung der europäischen Juden. Entlang dieser Bezugspunkte hat der junge Historiker Sönke Neitzel die Protokolle thematisch angeordnet. Dabei wurden aus der unüberschaubaren Masse an Material jene Gespräche ausgewählt, welche einen repräsentativen Einblick gestatten.
Die größte Gruppe der Inhaftierten bildeten 63 Generäle. Darüber hinaus kommen 13 Obristen, fünf Oberstleutnante, drei Majore, zwei Oberleutnante und ein Leutnant zu Wort. Längst nicht jeder von ihnen hatte an der Front gestanden, eine Reihe bis zu ihrer Gefangennahme im Hinterland Dienst geschoben. Dass es im Übrigen ihren Bewachern einfallen könnte, die Gefangenen zu belauschen, darauf wurden Neuankömmlinge zwar mitunter warnend hingewiesen, doch änderte dies nichts an der sorglosen offenen Haltung, die sich in den Protokollen offenbart. Soviel zu den Fakten.
Der Inhalt der Gespräche lässt sich pauschal so zusammenfassen: Egal über welches Thema sich die Offiziere unterhielten, die Differenzen zwischen ihnen, wenn es um die Beurteilung der Kriegslage oder die Haltung zu Nazideutschland ging, sind mehr als offensichtlich. Sprach sich General Wilhelm Ritter von Thoma, der im November 1942 als einer der ersten nach Trent Park kam, zunehmend kritisch gegenüber Hitler und der deutschen Kriegsführung aus, brachte der General der Panzertruppe Ludwig Crüwell für eine solche Einstellung kein Verständnis auf; unverdrossen hoffte er auf den Sieg der Deutschen.
Sozialpsychologisch aufschlußreich zeigen die Protokolle, wie sich um die Antipoden Thoma und Crüwell während der Haftzeit die meisten der später hinzukommenden gefangenen Offiziere gruppierten. „Der einzige Gewinn, den der Krieg uns bringt”, so Thoma, „ist, dass (. . .) die zehnjährige Gangsterregierung zu Ende kommt.” Die Gegenposition Crüwells: Hitler werde in die Geschichte eingehen, „darüber ist kein Zweifel”. Noch 1958, lange nach der Gefangenschaft, wird er als den „Höhepunkt seines Soldatenlebens” jenen Tag ansehen, an dem ihm der „Führer” einen Orden ans Revers geheftet hatte.
Auch wenn Neitzel zu Recht darauf aufmerksam macht, dass die Gruppenbildung einer gewissen Dynamik unterlag, bleibt doch die Frage, wie sich die so unterschiedlichen Meinungen erklären lassen. Ein solches Editionsprojekt kann dies nicht beantworten. Es bleibt die Aufgabe weiterführender Forschung, die in den Gesprächen jedoch genügend Material findet. Und dies, obwohl sich umfassende neue Einsichten aus den Verhörprotokollen nicht herauslesen lassen. Sie zeigen das breite Meinungsspektrum innerhalb der Offizierskaste, das von bedingungsloser Hingabe an Hitler bis zur offensiven Ablehnung reichte. Dass bei der Bewertung die bislang wenig erforschte psychische und physische Erfahrung der Kriegsgefangenschaft nicht ausgeblendet werden darf, versteht sich von selbst. Wie immer man es schließlich auch beurteilen mag: Bei vielen von Hitlers Offizieren setzte in der Haft ein Umdenken ein. Es gab sie - und es gab die weiterhin willigen Befürworter nationalsozialistischer Eroberungs- und Vernichtungspläne. Letztendlich also solche und solche. Was wie eine Binsenwahrheit klingt, scheint mal wieder der Wahrheit am nächsten zu kommen.
OLIVER SCHMIDT
SÖNKE NEITZEL: Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945. Propyläen Verlag, Berlin 2005. 633 Seiten, 26,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Abhörprotokolle deutscher kriegsgefangener Offiziere
An sich boten die äußeren Umstände einiges, um sich näher zu kommen: Die Verpflegung war gediegen, die Unterbringung bequem, und auch die sanfte Hügellandschaft hätte sich auf die Gemüter der inhaftierten deutschen Offiziere mäßigend auswirken können. „Große Rasenflächen mit Marmorstatuen, herrliche Baumgruppen von alten Zedern und uralten Eichen. Ein Golfplatz, ein Schwimmbad, ein schöner Teich mit Wildenten”, schwärmte der Generalleutnant Erwin Menny über die Umgebung des Gefangenenlagers Trent Park, nördlich von London gelegen. Aber selbst solche Annehmlichkeiten konnten Auseinandersetzungen zwischen den Soldaten nicht verhindern. Blieben die einen unnachgiebige Anhänger Hitlers, zeigten sich andere zunehmend ablehnend gegenüber dem NS-Regime.
Seit es Kriege gibt, wird versucht, gefangene Soldaten auszuhorchen. Ziel soll es sein, etwas über die Strategie und Taktik der Gegenseite in Erfahrung zu bringen. So versuchte seit dem Sommer 1942 auch der britische Nachrichtendienst, aus den heimlich mitgehörten Gesprächen deutscher kriegsgefangener Offiziere wertvolle Informationen über den Feind zu erhalten. In den Abhörprotokollen dieser Gespräche wird deutlich: Die deutsche Offiziersschicht war sich alles andere als einig über Hitler und den Nationalsozialismus, über den Krieg, den 20. Juli, die Möglichkeiten der Kollaboration sowie die Vernichtung der europäischen Juden. Entlang dieser Bezugspunkte hat der junge Historiker Sönke Neitzel die Protokolle thematisch angeordnet. Dabei wurden aus der unüberschaubaren Masse an Material jene Gespräche ausgewählt, welche einen repräsentativen Einblick gestatten.
Die größte Gruppe der Inhaftierten bildeten 63 Generäle. Darüber hinaus kommen 13 Obristen, fünf Oberstleutnante, drei Majore, zwei Oberleutnante und ein Leutnant zu Wort. Längst nicht jeder von ihnen hatte an der Front gestanden, eine Reihe bis zu ihrer Gefangennahme im Hinterland Dienst geschoben. Dass es im Übrigen ihren Bewachern einfallen könnte, die Gefangenen zu belauschen, darauf wurden Neuankömmlinge zwar mitunter warnend hingewiesen, doch änderte dies nichts an der sorglosen offenen Haltung, die sich in den Protokollen offenbart. Soviel zu den Fakten.
Der Inhalt der Gespräche lässt sich pauschal so zusammenfassen: Egal über welches Thema sich die Offiziere unterhielten, die Differenzen zwischen ihnen, wenn es um die Beurteilung der Kriegslage oder die Haltung zu Nazideutschland ging, sind mehr als offensichtlich. Sprach sich General Wilhelm Ritter von Thoma, der im November 1942 als einer der ersten nach Trent Park kam, zunehmend kritisch gegenüber Hitler und der deutschen Kriegsführung aus, brachte der General der Panzertruppe Ludwig Crüwell für eine solche Einstellung kein Verständnis auf; unverdrossen hoffte er auf den Sieg der Deutschen.
Sozialpsychologisch aufschlußreich zeigen die Protokolle, wie sich um die Antipoden Thoma und Crüwell während der Haftzeit die meisten der später hinzukommenden gefangenen Offiziere gruppierten. „Der einzige Gewinn, den der Krieg uns bringt”, so Thoma, „ist, dass (. . .) die zehnjährige Gangsterregierung zu Ende kommt.” Die Gegenposition Crüwells: Hitler werde in die Geschichte eingehen, „darüber ist kein Zweifel”. Noch 1958, lange nach der Gefangenschaft, wird er als den „Höhepunkt seines Soldatenlebens” jenen Tag ansehen, an dem ihm der „Führer” einen Orden ans Revers geheftet hatte.
Auch wenn Neitzel zu Recht darauf aufmerksam macht, dass die Gruppenbildung einer gewissen Dynamik unterlag, bleibt doch die Frage, wie sich die so unterschiedlichen Meinungen erklären lassen. Ein solches Editionsprojekt kann dies nicht beantworten. Es bleibt die Aufgabe weiterführender Forschung, die in den Gesprächen jedoch genügend Material findet. Und dies, obwohl sich umfassende neue Einsichten aus den Verhörprotokollen nicht herauslesen lassen. Sie zeigen das breite Meinungsspektrum innerhalb der Offizierskaste, das von bedingungsloser Hingabe an Hitler bis zur offensiven Ablehnung reichte. Dass bei der Bewertung die bislang wenig erforschte psychische und physische Erfahrung der Kriegsgefangenschaft nicht ausgeblendet werden darf, versteht sich von selbst. Wie immer man es schließlich auch beurteilen mag: Bei vielen von Hitlers Offizieren setzte in der Haft ein Umdenken ein. Es gab sie - und es gab die weiterhin willigen Befürworter nationalsozialistischer Eroberungs- und Vernichtungspläne. Letztendlich also solche und solche. Was wie eine Binsenwahrheit klingt, scheint mal wieder der Wahrheit am nächsten zu kommen.
OLIVER SCHMIDT
SÖNKE NEITZEL: Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945. Propyläen Verlag, Berlin 2005. 633 Seiten, 26,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Wolfram Wette findet diesen Band, in dem Söhnke Neitzel erstmals die Abhörprotokolle britischer Spezialisten aus dem Kriegsgefangenenlager für Generäle in Trent Park publiziert, sehr aufschlussreich. Neben vielen Anmerkungen und den Kurzbiografien der 88 abgehörten Generäle enthält das Buch die Abhörprotokolle selbst in deutscher Übersetzung. Darin sind Äußerungen der Inhaftierten zu Verbrechen der Wehrmacht, Reaktionen auf das Hitler-Attentat und Überlegungen der Generäle zu einer Kooperation mit den Briten dokumentiert, konstatiert der Rezensent. Vor allem das gewaltsame, ja "verwilderte Vokabular", das die Generäle bei ihren Unterhaltungen über die Ermordung der Juden, die Erschießung von Zivilisten und den brutalen Umgang mit Kriegsgefangenen verwenden, empfindet der Rezensent als erschreckend. Allerdings, betont Wette, "schert" der Autor die Generäle keineswegs "über einen Kamm", sondern lässt durchaus Unterschiede gelten - etwa zwischen gegenüber dem Nazi-Regime "kritisch eingestellten" Militärs und Generälen, die bis zum Schluss Durchhalte-Parolen verkündeten. "Grundlegend neue Erkenntnisse" sind diesen Abhörprotokollen zwar nicht zu entnehmen, räumt der Rezensent ein. Doch vermitteln die Protokolle einen "aufschlussreichen" Einblick in die "Mentalität" der Wehrmachtführung, so Wette anerkennend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Vielleicht ist es hart an der Grenze des Erlaubten für einen Kritiker; ich tue es trotzdem, ich rufe laut: Leute, lest dieses Buch." Fritz J. Raddatz / Welt am Sonntag "Sönke Neitzel hat eine vorbildliche Edition vorgelegt, die die Einzelaussagen der kriegsgefangenen Offiziere mit den Quellen und Forschungen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges konfrontiert ... Für eine individuell oder gruppenbiographisch angelegte Motivanalyse liefern die Dokumente vielfältige Ansatzpunkte zu einer differenzierten Betrachtung der Vorstellungswelt deutscher Generäle und Stabsoffiziere, wie sie in dieser Unmittelbarkeit der Forschung bisher nicht möglich war." FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG "Durch das brisante Buch des Mainzer Historikers Söhnke Neitzel erfahren wir, dass die Briten auch über das Innenleben der deutschen Wehrmacht bestens informiert waren, weit besser jedenfalls, als man sich das in Deutschland damals vorzustellen vermochte." DIE ZEIT "Führende Offiziere der deutschen Wehrmacht waren offenbar viel früher und präziser über den Holocaust informiert als bislang angenommen - ohne dass sie je öffentlich gegen die Judenvernichtung protestiert hätten. Dies enthüllt der Mainzer Historiker Sönke Neitzel, 37, der erstmals in Gänze eine besondere Quelle erschließen konnte: die Abhörprotokolle von Hitler-Generälen in britischer Gefangenschaft." DER SPIEGEL "Die Abhörprotokolle, die in den National Archives in London verwahrt werden, sind bereits 1996 freigegeben worden. Doch wurden sie bislang von der historischen Forschung kaum genutzt. Nun hat der Mainzer Historiker Sönke Neitzel das viele tausend Blätter umfassende Material in Auszügen veröffentlicht. Hervorzuheben ist die editorische Sorgfalt, mit der er dabei zu Werke gegangen ist. Er konfrontiert die Aussagen der Gefangenen mit den Ergebnissen der Forschung und korrigiert sie, wenn notwendig. Neben einer ausführlichen Einleitung und einem umfangreichen Anmerkungsteil enthält der Band Kurzbiografien aller ranghohen Offiziere, die in den Protokollen zu Wort kommen." Volker Ullrich, DEUTSCHLANDFUNK "Neitzels sorgfältig kommentierte und eingeleitete Edition macht deutlich, in welch hohem Maße die militärische Elite über die katastrophale Kriegslage und die vor allem an der Ostfront begangenen Kriegsverbrechen im Bilde war." Alfelder Zeitung