Was dachte die deutsche Generalität während des Zweiten Weltkriegs über Hitler, die Kriegslage und die Siegesaussichten? Was wusste sie über die Kriegsverbrechen? Sönke Neitzel hat die Abhörprotokolle deutscher Stabsoffiziere in britischer Kriegsgefangenschaft ausgewertet und gewährt erstmals unmittelbaren Einblick in das Wissen und Denken der Wehrmachtführung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2007Wiedersehen in Trent Park
Als Wehrmachtsoffiziere sich in der Gefangenschaft über Hitler, Deutschland und den Krieg äußerten, hörte der englische Geheimdienst genau zu. Jetzt geriet die Vorstellung von Sönke Neitzels Buch über die Abhörprotokolle zu einer Art Klassentreffen.
LONDON, 21. November
Nichts auf der Website der Middlesex University weist auf die Geschichte des herrschaftlichen Anwesens Trent Park hin, wo die über verschiedene Gelände verteilte Hochschule nun mit einigen ihrer Fakultäten angesiedelt ist. Dort steht lediglich, das Herrenhaus inmitten eines malerischen Landschaftsparks sei "Teil einer Mischung aus alten und neuen Gebäuden". Kein Wort über die Monarchen, die hier am nördlichen Rand der Hauptstadt dem Jagdvergnügen frönten, oder über den in der Gesellschaft hochangesehenen Arzt Richard Jebb, dem Georg III. ein Stück des königlichen Jagdgebietes übergab aus Dankbarkeit für die Heilung seines jüngeren Bruders. Der war in Trient (Trento) erkrankt, daher der um das "o" beraubte Name des Hauses, das Jebb im späteren achtzehnten Jahrhundert dort errichtete.
Auch die Ära der Sassoons, jener aus Bagdad stammenden jüdischen Kaufmannsfamilie, die als die Rothschilds des Ostens bezeichnet worden sind, findet keine Erwähnung. Dabei erwachte Trent Park in den Zwischenkriegsjahren, als Sir Philip Sassoon, Vetter des Dichters Siegfried Sassoon, hier nach den Worten eines Historikers "ein vergoldetes Scheinbild des englischen Landlebens" schuf. Der konservative Politiker "Chips" Channon beschrieb Trent als "Traumhaus, perfekt, luxuriös, gekennzeichnet von dem exotischen Geschmack, der von jedem Sassoon-Schloss zu erwarten ist". Hier spielte der Herzog von York, später Georg VI., Golf, während seine Frau in Sassoons Privatflugzeug eine Runde über dem Park drehte; hier stritt sich Winston Churchill beim Tee mit George Bernard Shaw; hier schlummerte der greise Tory-Politiker Arthur Balfour in einem Sessel. Selbst wenn die Anekdote erfunden ist, dass der Gastgeber befohlen habe, den Union Jack einzuholen, weil er nicht mit dem Sonnenuntergang harmoniere, zeugt sie von dem aufwendig verfeinerten Lebensstil der neureichen Hautevolee, die in Trent Park verkehrte, bevor der Backsteinbau während des Zweiten Weltkrieges einem ganz anderen Zweck übergeben wurde: als Sonderlager für hochrangige Kriegsgefangene. In dieser angenehmen Umgebung hoffte der britische Geheimdienst den Wehrmachtsoffizieren die Zunge zu lockern und aus ihren abgehörten Gespräche wertvolle Informationen zu gewinnen.
Zwischen 1942 und 1945 wurden knapp neunzig Generäle nach Trent Park verbracht und in den verwanzten Räumen belauscht, wie sie Erfahrungen austauschten, die Lage in Deutschland debattierten, über Schuld und Mittäterschaft reflektierten und erschütternde Bekenntnisse über Verbrechen an Juden und Partisanen abgaben, die belegen, dass die Generalität über das Ausmaß der Unrechtstaten bestens informiert war. Der Mainzer Zeithistoriker Sönke Neitzel, dessen im Jahr 2005 veröffentlichte Edition der derzeit im ZDF laufenden Dokumentationsserie "Die Wehrmacht - Eine Bilanz" als Grundlage diente (F.A.Z. vom 13. November), ging bei seinen Forschungen für eine Arbeit über die Kriegsmarine einem vagen Hinweis nach, als er im britischen Staatsarchiv auf eine bis dahin nie ausgewertete Akte mit den Wortprotokollen stieß. An jenem verregneten Novembertag 2001, an dem seine Spurensuche begann, dürfte Neitzel sich wohl nicht erträumt haben, eines Tages als Redner in dem ehemaligen Salon Sir Philip Sassoons die englische Ausgabe des Buches "Abgehört" vorzustellen, die jetzt mit einem Vorwort des Hitler-Biographen Sir Ian Kershaw unter dem Titel "Tapping Hitler's Generals" erschienen ist.
Der Rahmen hat durch die institutionelle Nutzung freilich etwas von dem Charme verloren, den frühere Besucher rühmten, aber allzu schäbig wirkt das Anwesen dennoch nicht. "Etwas besser als Colditz", wie Kershaw mit ironischem Understatement frotzelte, als er bei der vom Deutschen Historischen Institut in London gemeinsam mit der Universität Middlesex ausgerichteten Veranstaltung ans Pult trat. Er hob hervor, was auch andere bemerkt haben, dass die in Neitzels Buch publizierten Auszüge aus den zehntausend Seiten umfassenden Abschriften der abgehörten Gespräche ein für allemal mit der Legende der "sauberen" Wehrmacht Schluss machten. Mit ihren Rechtfertigungen hätten die Offiziere nach dem Krieg einstimmig an dieser Legende gewoben, wonach die Verbrechen allein auf das Konto Hitlers und der SS gingen, sagte Kershaw. Das seltene Geständnis einer der Generäle in Trent Park, dass Deutschland die Niederlage verdiene, sah der Historiker als treffendes Epitaph für die Rolle der Wehrmacht in der Katastrophe.
Bei der anschließenden Diskussion kam auch die von dem Zeithistoriker Richard Overy, Herausgeber der Verhör-Protokolle der in die Hände der Alliierten geratenen Elite des Hitler-Regimes 1945, in einer Rezension für den "Telegraph" gestellte Frage auf, weshalb die Briten die Informationen nicht benutzt hätten, um die Generäle in den Kriegsverbrecherprozessen zu belasten. Ein älterer Herr aus dem Publikum lieferte die Antwort: Abgehörte Gespräche sind nach dem britischen Gesetz vor Gericht nicht als Beweismaterial zulässig, eine Beschränkung, die im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung des Öfteren zur Debatte gestellt worden ist. Sönke Neitzel wies ferner darauf hin, dass die Geständnisse zu allgemein gewesen seien, um vor Gericht Bestand zu haben, da die Täter weder den genauen Ort noch den Zeitpunkt der Verbrechen preisgegeben hätten.
Zu den interessanteren Interventionen aus dem Publikum gehörte der Auftritt eines inzwischen über neunzig Jahre alten Zeitzeugen, der aufgrund seiner technischen und sprachlichen Kenntnisse vom Geheimdienst eingesetzt worden war, unweit von Trent Park kriegsgefangene Marineoffiziere zu verhören. Er vertrat die Ansicht, dass der General der Panzertruppen, Wilhelm Ritter von Thoma, um den sich in Trent Park die Hitler-Gegner scharten, den Briten als Informant gedient habe, ohne Absprache aber in einer Art inoffiziellen Einvernehmens. Diese Vermutung hegten seinerzeit auch einige der Mitgefangenen, denen Thomas unverblümte Abscheu vor dem Hitler-Regime verdächtig schien, wohingegen die Sympathisanten des Regimes in Ludwig Crüwell ihre Leitfigur fanden. Neitzel hielt diese Möglichkeit jedoch für unwahrscheinlich.
Der Beitrag des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters wie auch die Anwesenheit von Angehörigen der Generäle, darunter der Tochter Hans Cramers, und des Abhörstabes, der zumeist mit deutschen Emigranten besetzt war, darunter der Germanist Peter Ganz, gaben der Buchvorstellung den bewegenden Charakter eines Klassentreffens, zeitbedingt freilich eines der letzten dieser Art.
GINA THOMAS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Wehrmachtsoffiziere sich in der Gefangenschaft über Hitler, Deutschland und den Krieg äußerten, hörte der englische Geheimdienst genau zu. Jetzt geriet die Vorstellung von Sönke Neitzels Buch über die Abhörprotokolle zu einer Art Klassentreffen.
LONDON, 21. November
Nichts auf der Website der Middlesex University weist auf die Geschichte des herrschaftlichen Anwesens Trent Park hin, wo die über verschiedene Gelände verteilte Hochschule nun mit einigen ihrer Fakultäten angesiedelt ist. Dort steht lediglich, das Herrenhaus inmitten eines malerischen Landschaftsparks sei "Teil einer Mischung aus alten und neuen Gebäuden". Kein Wort über die Monarchen, die hier am nördlichen Rand der Hauptstadt dem Jagdvergnügen frönten, oder über den in der Gesellschaft hochangesehenen Arzt Richard Jebb, dem Georg III. ein Stück des königlichen Jagdgebietes übergab aus Dankbarkeit für die Heilung seines jüngeren Bruders. Der war in Trient (Trento) erkrankt, daher der um das "o" beraubte Name des Hauses, das Jebb im späteren achtzehnten Jahrhundert dort errichtete.
Auch die Ära der Sassoons, jener aus Bagdad stammenden jüdischen Kaufmannsfamilie, die als die Rothschilds des Ostens bezeichnet worden sind, findet keine Erwähnung. Dabei erwachte Trent Park in den Zwischenkriegsjahren, als Sir Philip Sassoon, Vetter des Dichters Siegfried Sassoon, hier nach den Worten eines Historikers "ein vergoldetes Scheinbild des englischen Landlebens" schuf. Der konservative Politiker "Chips" Channon beschrieb Trent als "Traumhaus, perfekt, luxuriös, gekennzeichnet von dem exotischen Geschmack, der von jedem Sassoon-Schloss zu erwarten ist". Hier spielte der Herzog von York, später Georg VI., Golf, während seine Frau in Sassoons Privatflugzeug eine Runde über dem Park drehte; hier stritt sich Winston Churchill beim Tee mit George Bernard Shaw; hier schlummerte der greise Tory-Politiker Arthur Balfour in einem Sessel. Selbst wenn die Anekdote erfunden ist, dass der Gastgeber befohlen habe, den Union Jack einzuholen, weil er nicht mit dem Sonnenuntergang harmoniere, zeugt sie von dem aufwendig verfeinerten Lebensstil der neureichen Hautevolee, die in Trent Park verkehrte, bevor der Backsteinbau während des Zweiten Weltkrieges einem ganz anderen Zweck übergeben wurde: als Sonderlager für hochrangige Kriegsgefangene. In dieser angenehmen Umgebung hoffte der britische Geheimdienst den Wehrmachtsoffizieren die Zunge zu lockern und aus ihren abgehörten Gespräche wertvolle Informationen zu gewinnen.
Zwischen 1942 und 1945 wurden knapp neunzig Generäle nach Trent Park verbracht und in den verwanzten Räumen belauscht, wie sie Erfahrungen austauschten, die Lage in Deutschland debattierten, über Schuld und Mittäterschaft reflektierten und erschütternde Bekenntnisse über Verbrechen an Juden und Partisanen abgaben, die belegen, dass die Generalität über das Ausmaß der Unrechtstaten bestens informiert war. Der Mainzer Zeithistoriker Sönke Neitzel, dessen im Jahr 2005 veröffentlichte Edition der derzeit im ZDF laufenden Dokumentationsserie "Die Wehrmacht - Eine Bilanz" als Grundlage diente (F.A.Z. vom 13. November), ging bei seinen Forschungen für eine Arbeit über die Kriegsmarine einem vagen Hinweis nach, als er im britischen Staatsarchiv auf eine bis dahin nie ausgewertete Akte mit den Wortprotokollen stieß. An jenem verregneten Novembertag 2001, an dem seine Spurensuche begann, dürfte Neitzel sich wohl nicht erträumt haben, eines Tages als Redner in dem ehemaligen Salon Sir Philip Sassoons die englische Ausgabe des Buches "Abgehört" vorzustellen, die jetzt mit einem Vorwort des Hitler-Biographen Sir Ian Kershaw unter dem Titel "Tapping Hitler's Generals" erschienen ist.
Der Rahmen hat durch die institutionelle Nutzung freilich etwas von dem Charme verloren, den frühere Besucher rühmten, aber allzu schäbig wirkt das Anwesen dennoch nicht. "Etwas besser als Colditz", wie Kershaw mit ironischem Understatement frotzelte, als er bei der vom Deutschen Historischen Institut in London gemeinsam mit der Universität Middlesex ausgerichteten Veranstaltung ans Pult trat. Er hob hervor, was auch andere bemerkt haben, dass die in Neitzels Buch publizierten Auszüge aus den zehntausend Seiten umfassenden Abschriften der abgehörten Gespräche ein für allemal mit der Legende der "sauberen" Wehrmacht Schluss machten. Mit ihren Rechtfertigungen hätten die Offiziere nach dem Krieg einstimmig an dieser Legende gewoben, wonach die Verbrechen allein auf das Konto Hitlers und der SS gingen, sagte Kershaw. Das seltene Geständnis einer der Generäle in Trent Park, dass Deutschland die Niederlage verdiene, sah der Historiker als treffendes Epitaph für die Rolle der Wehrmacht in der Katastrophe.
Bei der anschließenden Diskussion kam auch die von dem Zeithistoriker Richard Overy, Herausgeber der Verhör-Protokolle der in die Hände der Alliierten geratenen Elite des Hitler-Regimes 1945, in einer Rezension für den "Telegraph" gestellte Frage auf, weshalb die Briten die Informationen nicht benutzt hätten, um die Generäle in den Kriegsverbrecherprozessen zu belasten. Ein älterer Herr aus dem Publikum lieferte die Antwort: Abgehörte Gespräche sind nach dem britischen Gesetz vor Gericht nicht als Beweismaterial zulässig, eine Beschränkung, die im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung des Öfteren zur Debatte gestellt worden ist. Sönke Neitzel wies ferner darauf hin, dass die Geständnisse zu allgemein gewesen seien, um vor Gericht Bestand zu haben, da die Täter weder den genauen Ort noch den Zeitpunkt der Verbrechen preisgegeben hätten.
Zu den interessanteren Interventionen aus dem Publikum gehörte der Auftritt eines inzwischen über neunzig Jahre alten Zeitzeugen, der aufgrund seiner technischen und sprachlichen Kenntnisse vom Geheimdienst eingesetzt worden war, unweit von Trent Park kriegsgefangene Marineoffiziere zu verhören. Er vertrat die Ansicht, dass der General der Panzertruppen, Wilhelm Ritter von Thoma, um den sich in Trent Park die Hitler-Gegner scharten, den Briten als Informant gedient habe, ohne Absprache aber in einer Art inoffiziellen Einvernehmens. Diese Vermutung hegten seinerzeit auch einige der Mitgefangenen, denen Thomas unverblümte Abscheu vor dem Hitler-Regime verdächtig schien, wohingegen die Sympathisanten des Regimes in Ludwig Crüwell ihre Leitfigur fanden. Neitzel hielt diese Möglichkeit jedoch für unwahrscheinlich.
Der Beitrag des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters wie auch die Anwesenheit von Angehörigen der Generäle, darunter der Tochter Hans Cramers, und des Abhörstabes, der zumeist mit deutschen Emigranten besetzt war, darunter der Germanist Peter Ganz, gaben der Buchvorstellung den bewegenden Charakter eines Klassentreffens, zeitbedingt freilich eines der letzten dieser Art.
GINA THOMAS
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