Sein mysteriöses Verschwinden hat Football-Star Zeb Williams zu einer Legende gemacht: 1984 schnappte er sich kurz vor Spielende den Ball und rannte damit einfach aus dem Stadion. Seitdem ist er verschollen. Wie Elvis wird er immer mal wieder gesichtet.
Alice Vega, Spezialistin im Auffinden verschwundener und entführter Personen, spürt Zebs letzten Aufenthaltsort auf: Die kleine Gemeinde Ilona, Oregon, wo die radikalen Liberty Boys das eigentliche Sagen haben. Als Vega beginnt, in der Vergangenheit des Ortes zu graben, deckt sie verstörende Geheimnisse auf, die nicht nur sie in Gefahr bringen ...
Alice Vega, Spezialistin im Auffinden verschwundener und entführter Personen, spürt Zebs letzten Aufenthaltsort auf: Die kleine Gemeinde Ilona, Oregon, wo die radikalen Liberty Boys das eigentliche Sagen haben. Als Vega beginnt, in der Vergangenheit des Ortes zu graben, deckt sie verstörende Geheimnisse auf, die nicht nur sie in Gefahr bringen ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2024Notfalls einen Nazi küssen
Louisa Luna stochert im Milieu der Rechtsextremen
Vor drei Jahren gab es hierzulande den ersten Roman von Louisa Luna zu lesen, "Tote ohne Namen" (F.A.Z. vom 7. Juni 2021). Unser Kritiker schrieb damals, der Fall biete wegen seiner Härte wenig "Erlösungspotential", aber die Konstellation "guter Bulle - böser Bulle" habe durchaus Entwicklungsmöglichkeiten. Der Bad Cop ist, ohne tatsächlich in Polizeidiensten zu stehen, die Ermittlerin Alice Vega, eine Frau, die keine moralischen Grenzen zu kennen scheint und deren Gewaltbereitschaft verstörend wirkt. Der Good Cop ist der einige Jahre ältere, wesentlich ausgeglichenere Polizist Caplan, der Gefühle für Vega entwickelt. "Abgetaucht", während der Pandemie entstanden, sei wirklich "hart" für sie gewesen, schreibt die 1977 in San Francisco geborene und in Brooklyn lebende Luna im Nachwort. Anzumerken ist das dem Roman nicht, er liest sich zügig weg, ihr Handwerk beherrscht die Autorin.
Alice Vega ist Expertin für das Aufspüren von Vermissten. Diesmal soll es ein berühmter Football-Spieler namens Zeb Williams sein, berühmt nicht wegen seiner sportlichen Erfolge, sondern weil er etwas völlig Irrationales getan hat. Er ist "der Mann, der in die falsche Richtung lief". Jim Marshall von den Minnesota Vikings passierte das 1964 in der NFL, bei einem Spiel gegen die San Francisco 49ers. Im Roman passiert es zwanzig Jahre später beim Spitzenspiel des College-Footballs, Berkeley gegen Stanford. Doch Williams läuft nicht in die falsche Richtung des Spielfelds, weil er desorientiert ist, sondern weil er in diesem Moment nicht anders kann. Er wirft den Ball über die Schulter zurück und rennt aus dem Stadion in ein anderes Leben. Seither ist er eine Legende.
Man sucht ihn, es gibt ein paar verschwommene Fotos, Gerüchte, Sichtungen, ehemalige Sportskameraden, die vielleicht etwas wissen, und zwei Frauen, die in Zeb Williams verliebt waren. Digitale Spuren - Fehlanzeige. Wenig Material für Alice Vega, die Williams im Auftrag des Gatten einer dieser Frauen aufspüren soll, damit die, eine reiche Erbin, endlich Frieden finden und er seine Ehe retten kann. Ohne zu viel zu verraten, darf man sagen, dass Zeb Williams' rätselhaftes Verhalten am Ende aufgeklärt wird. Doch der eigentliche Fall, in den Vega hineinrauscht, hat mit der Suche nach dem Verschollenen nur am Rande zu tun. Er spielt im ländlichen Oregon, im fiktiven Ilona, dort, wo sich Zeb Williams' Spur verliert. Das Kaff ist die Brutstätte weißer Suprematisten, junger Rechtsextremer, die sich "Liberty Pure" nennen, die Gegend mit Sachbeschädigungen und Internethetze terrorisieren, geduldet von ihren Vätern.
Farmer Klimmer ist sehr wohl verantwortlich, dass sein Sohn Neil, den die Mutter für ein Genie, er selbst aber für einen Loser hält, in Verschwörungstheorien und Hassbotschaften abtaucht. Und die Polizei sieht weg, denn in Ilona gilt das Wort des Großgrundbesitzers Klimmer, eigenständige Frauen passen ebenso wenig in dessen Weltbild wie Demokraten, Farbige, Schwule. Also auch keine wie Alice Vega, die sofort Witterung aufnimmt und ein Verdachtsszenario entwickelt.
Um weiterzukommen, muss sie sich das Vertrauen der äußerst zugeknöpften Einheimischen erschleichen. Sie tut dies in diversen Rollen und mit allen Mitteln, und als die nicht reichen, küsst sie sogar einen Nazi und wird dann gewalttätig. Bis sich die Gewalt gegen sie richtet. Einigermaßen hilflos muss ihr Freund Caplan aus der Ferne zusehen, wie sie sich in Gefahr bringt. Zerrissen zwischen der Liebe zu seiner Tochter Nell und dem Verlangen nach einer Beziehung zu Vega, hat er die Sympathie des Lesers, aber nicht die Gunst des Schicksals auf seiner Seite.
Erst schießen, dann fragen: Louisa Luna lässt Alice Vega einen zunehmend rabiateren Kampf im rechtsfreien Raum kämpfen, der in einen exzessiven Fall von Selbstjustiz mündet, wie er - so die Botschaft - in den Hinterhöfen der USA üblich ist. Immerhin agiert Vega als Rächerin der Schwachen und Abgehängten. Dennoch hätte man sich die Darstellung der Motivation rechtsextremer Jugendlicher analytischer vorstellen können, nicht nur als eine Mischung aus Langeweile und Frust, die der White-Supremacy-Gehirnwäsche durch die Eltern nichts entgegenzusetzen hat. Womöglich hat Louisa Lunas Corona-Frust ihrer Protagonistin die Lizenz zum Töten ausgestellt. HANNES HINTERMEIER
Louisa Luna: "Abgetaucht". Thriller.
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
458 S., br., 18,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Louisa Luna stochert im Milieu der Rechtsextremen
Vor drei Jahren gab es hierzulande den ersten Roman von Louisa Luna zu lesen, "Tote ohne Namen" (F.A.Z. vom 7. Juni 2021). Unser Kritiker schrieb damals, der Fall biete wegen seiner Härte wenig "Erlösungspotential", aber die Konstellation "guter Bulle - böser Bulle" habe durchaus Entwicklungsmöglichkeiten. Der Bad Cop ist, ohne tatsächlich in Polizeidiensten zu stehen, die Ermittlerin Alice Vega, eine Frau, die keine moralischen Grenzen zu kennen scheint und deren Gewaltbereitschaft verstörend wirkt. Der Good Cop ist der einige Jahre ältere, wesentlich ausgeglichenere Polizist Caplan, der Gefühle für Vega entwickelt. "Abgetaucht", während der Pandemie entstanden, sei wirklich "hart" für sie gewesen, schreibt die 1977 in San Francisco geborene und in Brooklyn lebende Luna im Nachwort. Anzumerken ist das dem Roman nicht, er liest sich zügig weg, ihr Handwerk beherrscht die Autorin.
Alice Vega ist Expertin für das Aufspüren von Vermissten. Diesmal soll es ein berühmter Football-Spieler namens Zeb Williams sein, berühmt nicht wegen seiner sportlichen Erfolge, sondern weil er etwas völlig Irrationales getan hat. Er ist "der Mann, der in die falsche Richtung lief". Jim Marshall von den Minnesota Vikings passierte das 1964 in der NFL, bei einem Spiel gegen die San Francisco 49ers. Im Roman passiert es zwanzig Jahre später beim Spitzenspiel des College-Footballs, Berkeley gegen Stanford. Doch Williams läuft nicht in die falsche Richtung des Spielfelds, weil er desorientiert ist, sondern weil er in diesem Moment nicht anders kann. Er wirft den Ball über die Schulter zurück und rennt aus dem Stadion in ein anderes Leben. Seither ist er eine Legende.
Man sucht ihn, es gibt ein paar verschwommene Fotos, Gerüchte, Sichtungen, ehemalige Sportskameraden, die vielleicht etwas wissen, und zwei Frauen, die in Zeb Williams verliebt waren. Digitale Spuren - Fehlanzeige. Wenig Material für Alice Vega, die Williams im Auftrag des Gatten einer dieser Frauen aufspüren soll, damit die, eine reiche Erbin, endlich Frieden finden und er seine Ehe retten kann. Ohne zu viel zu verraten, darf man sagen, dass Zeb Williams' rätselhaftes Verhalten am Ende aufgeklärt wird. Doch der eigentliche Fall, in den Vega hineinrauscht, hat mit der Suche nach dem Verschollenen nur am Rande zu tun. Er spielt im ländlichen Oregon, im fiktiven Ilona, dort, wo sich Zeb Williams' Spur verliert. Das Kaff ist die Brutstätte weißer Suprematisten, junger Rechtsextremer, die sich "Liberty Pure" nennen, die Gegend mit Sachbeschädigungen und Internethetze terrorisieren, geduldet von ihren Vätern.
Farmer Klimmer ist sehr wohl verantwortlich, dass sein Sohn Neil, den die Mutter für ein Genie, er selbst aber für einen Loser hält, in Verschwörungstheorien und Hassbotschaften abtaucht. Und die Polizei sieht weg, denn in Ilona gilt das Wort des Großgrundbesitzers Klimmer, eigenständige Frauen passen ebenso wenig in dessen Weltbild wie Demokraten, Farbige, Schwule. Also auch keine wie Alice Vega, die sofort Witterung aufnimmt und ein Verdachtsszenario entwickelt.
Um weiterzukommen, muss sie sich das Vertrauen der äußerst zugeknöpften Einheimischen erschleichen. Sie tut dies in diversen Rollen und mit allen Mitteln, und als die nicht reichen, küsst sie sogar einen Nazi und wird dann gewalttätig. Bis sich die Gewalt gegen sie richtet. Einigermaßen hilflos muss ihr Freund Caplan aus der Ferne zusehen, wie sie sich in Gefahr bringt. Zerrissen zwischen der Liebe zu seiner Tochter Nell und dem Verlangen nach einer Beziehung zu Vega, hat er die Sympathie des Lesers, aber nicht die Gunst des Schicksals auf seiner Seite.
Erst schießen, dann fragen: Louisa Luna lässt Alice Vega einen zunehmend rabiateren Kampf im rechtsfreien Raum kämpfen, der in einen exzessiven Fall von Selbstjustiz mündet, wie er - so die Botschaft - in den Hinterhöfen der USA üblich ist. Immerhin agiert Vega als Rächerin der Schwachen und Abgehängten. Dennoch hätte man sich die Darstellung der Motivation rechtsextremer Jugendlicher analytischer vorstellen können, nicht nur als eine Mischung aus Langeweile und Frust, die der White-Supremacy-Gehirnwäsche durch die Eltern nichts entgegenzusetzen hat. Womöglich hat Louisa Lunas Corona-Frust ihrer Protagonistin die Lizenz zum Töten ausgestellt. HANNES HINTERMEIER
Louisa Luna: "Abgetaucht". Thriller.
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
458 S., br., 18,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Eine gute Bahnfahrtlektüre ist laut Sylvia Staude Louisa Lunas neuer Krimi. Im dritten Fall der Privatdetektivin Alice Vega geht es nur zu Beginn um einen spurlos verschwundenen Footballspieler, erfahren wir; als Vega dessen Spur nach Oregon verfolgt, stößt sie stattdessen auf ein von rechtsradikalen Jugendlichen terrorisiertes Kaff. Den Proud Boys sind diese Fascho-Jungs offensichtlich nachempfunden, weiß Staude, und Vega räumt recht resolut mit ihnen auf. Neben knallharter, selbstjustiznaher Action gibt es jedoch auch ambivalent gezeichnete Figuren, freut sich Staude, unter anderem Vegas traumatisierten Kollegen Caplan. Ein interessantes Porträt des ländlichen Amerikas und des dort grassierenden rechten Unwesens, so das Fazit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»... zahlreiche Cliffhanger sind gut verteilt, es gibt einen veritablen Showdown - und nach dem Showdown eine pfiffige Auflösung des Falles, mit dem diese Geschichte beginnt.« Sylvia Staude Berliner Zeitung 20240627