Wer hat sich nicht schon mal gefragt, wie und warum ein Mensch zu dem geworden ist, was er im Hier und Jetzt repräsentiert. Das Lesen von (Auto-)Bio¬grafien bietet einen unschätzbaren Fundus, wo man den Werdegang verschiedenster Menschen studieren kann.
Jeder Mensch entwickelt sich in einem ganz
ureigenen Wechselspiel von persönlichem Charakter, Vorlieben, den Ideen und Werten seines engen…mehrWer hat sich nicht schon mal gefragt, wie und warum ein Mensch zu dem geworden ist, was er im Hier und Jetzt repräsentiert. Das Lesen von (Auto-)Bio¬grafien bietet einen unschätzbaren Fundus, wo man den Werdegang verschiedenster Menschen studieren kann.
Jeder Mensch entwickelt sich in einem ganz ureigenen Wechselspiel von persönlichem Charakter, Vorlieben, den Ideen und Werten seines engen Umfelds (oder auch der Rebellion dagegen) und die Zeit in die er hineingeboren wird.
Besonders spannend zeigt sich in dieser Hin¬sicht der autobiographische Roman "Abirrung" von Raimund Fellner, erschienen 2010 im Raimund Fellner Verlag. Wir begegnen hier dem Kind und Jugendlichen Raimund, der genau in die Ideale und gesellschaftlichen Umbrüche der 1968er Jahre hineinwächst und diese Ideen so sehr verinnerlicht und wertschätzt, dass er nicht, wie die meisten seiner Altersge¬noss*innen, dem konservativen Zwang des anstehenden Berufslebens nachgibt und sich den inneren und äußeren Konventionen beugt. Freiheit im Aussehen, der Liebe und im Denken sind ihm wichtiger als alles andere.
Als Leser*in dieses Werkes hat man die Chan¬ce, tief einzutauchen in die Gefühls- und Gedankenwelt des jungen Raimund. Man begleitet ihn durch die Kinderzeit hinein in die Jugend bis hin zum Abitur. Man findet all die Tücken und Probleme, denen Heranwachsende unweigerlich ausgesetzt sind. Die erste große Liebe, die aufflammende Sexualität, die Freiheiten und Restriktionen, die einem die Gesellschaft vorgeben.
Ein besonderer Aspekt dieses Romans ist Raimunds große Liebe zu Bea. Dieses junge Mädchen wird zu seinem Idol, von dem er jedoch abirrt. Dieses Erlebnis spielt eine große Rolle in seiner weiteren Entwicklung.
Weiterhin bekommt man als Leser*in Einblick in die innere Beschaffenheit und Gedankenwelt eines Menschen, der sich mit diversen Psychosen und Depressionen konfrontiert sieht und diese versucht mithilfe von Psychopharmaka und Klinikaufenthalten in den Griff zu bekommen. Dass weder Medikamente noch die behandelten Ärzte dem inneren Seelenleben und Erleben von Raimund gerecht werden, verwundert nicht, in einer Welt, in der Krankheit als eine Ansammlung von Symptomen betrachtet wird, die mit den entsprechenden Medikamenten entfernt werden können. Man wünscht sich nichts sehnlicher, als dass sich jemand die Mühe macht, die geistige Bedrängnis zu verstehen, anstatt sie nur weg machen zu wollen.
Dieses Werk Raimund Fellners ist alles andere als leichte Kost, es ist nichts, was man mal kurz am Strand lesen kann. Stattdessen erlaubt es einem ein tiefes Eintauchen, Erleben und Verstehen eines Heranwachsenden. Das allerdings kann nur funktionieren, wenn man Zeit und ein offenes Gemüt mitbringt. Das Betrachten der Welt aus einer ganz anderen Perspektive ist enorm lehrreich und als Leser*in kann man hier so einiges für sein eigenes Leben mitnehmen.
Der Autor schreibt in einer ihm eigenen, oftmals philosophisch anmutenden Sprache, die voll von literarischen und wortschöpferischen Bildern ist. Auch wenn sich der Text stellenweise ein wenig zieht und mit etwas mehr Kürze an Stringenz gewinnen würde, lohnt es sich, bis zum Ende dabei zu bleiben.
Dieses Buch erhält von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung.