Kinder sind so ungefähr das letzte, was sich Will Freeman, 36 Jahre alt und überzeugter Single, wünscht. Er lebt gut und faul von den Tantiemen eines Weihnachtslieds, das sein Vater 1938 komponiert hat. Seine Tage verbringt er mit Nichtstun, und für die Abende bemüht er sich zur Abwechslung mal um junge, alleinerziehende und gutaussehende Mütter. Marcus mit seinen zwölf Jahren hat ganz andere Probleme. Seine Eltern haben sich getrennt, und seine Mutter hat die beängstigende Neigung, beim Frühstück zu weinen. Ausserdem hasst sie Turnschuhe an Kinderfüssen. Die falsche Kleidung, der falsche Haarschnitt und eine von der Mutter geerbte musikalische Neigung für Joni Mitchell machen Marcus in der Schule zum Aussenseiter. Zum Glück bringt ihn das Schicksal mit Will zusammen, der Experte in Mode und Popmusik und Fussball ist. Marcus merkt bald, wie nützlich ihm Will beim Aufbau einer neuen Persönlichkeit sein kann. Fast gegen seinen Willen gerät Will so in den Sog von Kindern und Müttern...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.1998Warum man ein Kind erfindet
Nick Hornby erzählt eine Geschichte "About a Boy"
Was tun, wenn ein Vegetarierhaushalt mit einer Salami-Pizza beliefert wird? Fiona Brewer fällt dazu nur ein: wegschmeißen. Der Vorschlag ihres zwölfjährigen Sohnes lautet: "Wir könnten auch die Salami abmachen." Marcus ist ein heller Junge. Die Anlieferung der nicht-vegetarischen Pizza verdankt sich der Tatsache, daß Roger eine haben wollte, und Roger, als er sie bestellte, mehr oder weniger zum Haushalt gehörte, weil er da gerade der Liebhaber der achtunddreißigjährigen Kunsttherapeutin Fiona war.
Marcus' vor der Pizza-Frage bewiesene Intelligenz erstreckt sich nicht auf alle Lebensbereiche. In der Schule im Londoner Stadtteil Holloway ist er als Neuling aus Cambridge gleich der exemplarische Underdog, weil er alles falsch macht; so sehen es seine Mitschüler. Er hat einen uncoolen Haarschnitt, trägt die falschen Schuhe, unmögliche Klamotten und bricht unbewußt in Gesang aus, wobei er mit geschlossenen Augen vor allem Lieder aus dem Repertoire von Joni Mitchell vorträgt. Er folgt den Argumenten seiner Mutter, deren musikalische Säulenheilige Joni Mitchell ist und die das Rattenrennen nach Kleidung mit Emblemen als Konsumterror kritisiert. Marcus "hatte ihr in allem zugestimmt, aber nicht wirklich zugestimmt; ihm waren nur die Argumente ausgegangen". Er leidet wie ein Hund.
Ganz anders Will Freeman, der im englischen Text ebenfalls bedeutungsschwanger auf den Namen Lightman hört. Als sechsunddreißigjährigem Erbe der Rechte an einem Weihnachtsschlager seines Vaters aus dem Jahre 1938, der bis in unsere Tage von rund der Hälfte aller Pop-Größen neu interpretiert wird, ist ihm ein Jahreseinkommen von über hunderttausend Mark sicher. Will ist erfahren genug, diese materielle Basis für ein nach seiner Einschätzung dezidiert oberflächliches, aber optimal sorgenfreies Leben zu nutzen. Er ist ein egozentrischer Hedonist, der die Begegnung mit anderen Menschen nur zuläßt, wenn sie in sein Spaßkalkül paßt. Denn "er war ein Besucher im Leben anderer; auf Gegenbesuche legte er keinen Wert".
Einen Gegenbesuch bekommt Will schließlich von Marcus, der sich resolut Zutritt mit einer Erpressung verschafft. Nach der zutreffenden Anfangsvermutung: "Du hast kein Kind, oder?" versichert er dem Ertappten: "Ich sage meiner Mum nichts, wenn du mit ihr ausgehst." Nun sind Kinderlose nicht per se mit ihrer Kinderlosigkeit zu erpressen. Will aber hatte nach für ihn erfreulichen Erfahrungen mit einer alleinstehenden Mutter sich selbst einen fiktiven Sohn namens Ned und eine fiktive Ex-Frau Paula zugelegt, um - als vermeintlich Alleinerziehender - im Revier der weiblichen Mitglieder einer Alleinerziehenden-Selbsthilfegruppe zu wildern. Er hatte sogar, um die Existenz eines Ned glaubhaft zu machen, einen Kindersitz für sein Auto gekauft und mit Schokolade kindgemäß eingesaut.
Durch diese Lücke sickert nach Marcus' Vorstoß und trotz aller Abschottungsversuche genau die Art von Leben, die er sich vom Hals halten wollte und konnte und die man mit Begriffen wie Verantwortlichkeit und Engagement umschreibt. Wills Bereitschaft, sich darauf einzulassen, ist begrenzt. Doch im Fall von Marcus und Fiona "könnte er sich vorstellen, ein onkelhaftes Interesse an ihnen zu entwickeln, ein wenig Halt und Heiterkeit in ihr Leben zu bringen". Daß auch bei Fiona ein Bedarf besteht, hatte Will vor Augen geführt bekommen, als er Marcus nach einem Alleinerziehenden-Picknick zu Hause ablieferte, und sie beide dort Fiona mit einer in Selbstmordabsicht herbeigeführten Tablettenvergiftung fanden.
Will hatte den Rettungswagen begleitet und Fionas physische Wiederherstellung vom Krankenhausflur verfolgt. Das waren Stunden von unverhoffter Dramatik; "es war alles sehr interessant gewesen, aber jede Nacht brauchte er das nicht". Dafür braucht ihn Marcus; zum einen als Anlaufstelle zwischen Schule und zu Hause, einem Ort, der mit der Angst vor einem neuen Selbstmordversuch der Mutter kontaminiert ist. Zum anderen als Tipgeber für einen erfolgreichen Überlebenskampf, denn "nur Will weiß, was ich brauche. Er weiß, was Kinder tragen", beteuert er Fiona.
Will spendiert ihm die standesgemäßen Schuhe, Basketballboots von Adidas. Der Haken dabei ist, daß die Kinder, die ihn dafür verspotten, daß er die falschen Schuhe trägt, ihm die richtigen wegnehmen. Eine andere Lebenshilfe erweist sich als weniger janusköpfig. Will klärt Marcus darüber auf, daß es sich bei dem Mann auf dem T-Shirt von Ellie, der schlimmsten Krawallnudel an Marcus' Schule, nicht, wie Ellie angibt, um einen Fußballer mit dem Namen Kirk O'Baine handelt, sondern um den Nirvana-Sänger Kurt Cobain. Dieses Wissen ist in den Augen der drei Jahre älteren Ellie ein Beweis dafür, daß Marcus zu den Eingeweihten gehört. Von nun an steht er unter ihrem verbalen und handgreiflichen Schutz und ist vor seinen Verfolgern sicher. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber der Riesensprung für Marcus.
Will braucht für seinen entscheidenden Schritt länger. Nach einem Jahr der Mühen und Wirren mit Fiona und anderen alleinerziehenden Müttern erscheint ihm eine Heirat mit einer gewissen Rachel nicht ausgeschlossen. Marcus, der inzwischen einen Satz wie "Ich hasse diese blöde Joni Mitchell" aussprechen kann, und zwar in Anwesenheit seiner Mutter, meint dazu nur: "Ich glaube nicht, daß Paare eine Zukunft haben." Der Junge hat gelernt.
"About a Boy" ist die asynchrone Entwicklungs- und Reifungsgeschichte ungleicher Personen. Nick Hornby resümiert: "Sie hatten etwas verlieren müssen, um etwas Neues zu gewinnen. Will seinen Panzer, aber er war mit Rachel zusammen. Marcus hatte sich selbst verloren, aber er kam mit den Schuhen an den Füßen nach Hause." Das ist, nicht nur im Rückblick, eine simple Geschichte. Auch in ihrem Verlauf wird ihre Gerichtetheit manchmal deutlich ausgestellt, etwa im auktorialen Drängen auf Wills überfälliger Saulus-Paulus-Wandlung.
Man folgt ihr dennoch mit Vergnügen bis zum Ende. Das liegt an verschiedenen Qualitäten Hornbys. So gibt er seinen Protagonisten soviel Farbe und Präsenz, daß man wissen möchte, wie es ihnen ergeht. Sie durchleben dabei Momente von Situationskomik, wobei eine Distanz zum Klamauk gewahrt bleibt. Exemplarisch ist dafür Wills Not, auf Nachfrage neue Details aus Neds virtuellem Leben zu extemporieren; eine Gratwanderung für einen Mann, der sich nur mit Mühe an einen Sohn und dessen Namen und erst recht an den Namen der dazugehörenden Mutter erinnert. Auch ist Hornby ein Meister des inneren Monologs: Die Handelnden prüfen und verwerfen Interpretationen ihrer Situation und diskutieren mit sich über Handlungsalternativen. "About a Boy" ist Hornbys drittes Buch und sein dritter Griff ins skurril-normale Leben seiner Generation - er ist Jahrgang 1957. Er spielt dabei milde auf die Vorgänger durch die Nähe zu und die Identifikation mit Popmusik und Fußball an. Wenn das so weitergeht, wird man sein Werk bald als muntere Sozialgeschichte unserer Jahre lesen können. BURKHARD SCHERER
Nick Hornby: "About a Boy". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 310 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nick Hornby erzählt eine Geschichte "About a Boy"
Was tun, wenn ein Vegetarierhaushalt mit einer Salami-Pizza beliefert wird? Fiona Brewer fällt dazu nur ein: wegschmeißen. Der Vorschlag ihres zwölfjährigen Sohnes lautet: "Wir könnten auch die Salami abmachen." Marcus ist ein heller Junge. Die Anlieferung der nicht-vegetarischen Pizza verdankt sich der Tatsache, daß Roger eine haben wollte, und Roger, als er sie bestellte, mehr oder weniger zum Haushalt gehörte, weil er da gerade der Liebhaber der achtunddreißigjährigen Kunsttherapeutin Fiona war.
Marcus' vor der Pizza-Frage bewiesene Intelligenz erstreckt sich nicht auf alle Lebensbereiche. In der Schule im Londoner Stadtteil Holloway ist er als Neuling aus Cambridge gleich der exemplarische Underdog, weil er alles falsch macht; so sehen es seine Mitschüler. Er hat einen uncoolen Haarschnitt, trägt die falschen Schuhe, unmögliche Klamotten und bricht unbewußt in Gesang aus, wobei er mit geschlossenen Augen vor allem Lieder aus dem Repertoire von Joni Mitchell vorträgt. Er folgt den Argumenten seiner Mutter, deren musikalische Säulenheilige Joni Mitchell ist und die das Rattenrennen nach Kleidung mit Emblemen als Konsumterror kritisiert. Marcus "hatte ihr in allem zugestimmt, aber nicht wirklich zugestimmt; ihm waren nur die Argumente ausgegangen". Er leidet wie ein Hund.
Ganz anders Will Freeman, der im englischen Text ebenfalls bedeutungsschwanger auf den Namen Lightman hört. Als sechsunddreißigjährigem Erbe der Rechte an einem Weihnachtsschlager seines Vaters aus dem Jahre 1938, der bis in unsere Tage von rund der Hälfte aller Pop-Größen neu interpretiert wird, ist ihm ein Jahreseinkommen von über hunderttausend Mark sicher. Will ist erfahren genug, diese materielle Basis für ein nach seiner Einschätzung dezidiert oberflächliches, aber optimal sorgenfreies Leben zu nutzen. Er ist ein egozentrischer Hedonist, der die Begegnung mit anderen Menschen nur zuläßt, wenn sie in sein Spaßkalkül paßt. Denn "er war ein Besucher im Leben anderer; auf Gegenbesuche legte er keinen Wert".
Einen Gegenbesuch bekommt Will schließlich von Marcus, der sich resolut Zutritt mit einer Erpressung verschafft. Nach der zutreffenden Anfangsvermutung: "Du hast kein Kind, oder?" versichert er dem Ertappten: "Ich sage meiner Mum nichts, wenn du mit ihr ausgehst." Nun sind Kinderlose nicht per se mit ihrer Kinderlosigkeit zu erpressen. Will aber hatte nach für ihn erfreulichen Erfahrungen mit einer alleinstehenden Mutter sich selbst einen fiktiven Sohn namens Ned und eine fiktive Ex-Frau Paula zugelegt, um - als vermeintlich Alleinerziehender - im Revier der weiblichen Mitglieder einer Alleinerziehenden-Selbsthilfegruppe zu wildern. Er hatte sogar, um die Existenz eines Ned glaubhaft zu machen, einen Kindersitz für sein Auto gekauft und mit Schokolade kindgemäß eingesaut.
Durch diese Lücke sickert nach Marcus' Vorstoß und trotz aller Abschottungsversuche genau die Art von Leben, die er sich vom Hals halten wollte und konnte und die man mit Begriffen wie Verantwortlichkeit und Engagement umschreibt. Wills Bereitschaft, sich darauf einzulassen, ist begrenzt. Doch im Fall von Marcus und Fiona "könnte er sich vorstellen, ein onkelhaftes Interesse an ihnen zu entwickeln, ein wenig Halt und Heiterkeit in ihr Leben zu bringen". Daß auch bei Fiona ein Bedarf besteht, hatte Will vor Augen geführt bekommen, als er Marcus nach einem Alleinerziehenden-Picknick zu Hause ablieferte, und sie beide dort Fiona mit einer in Selbstmordabsicht herbeigeführten Tablettenvergiftung fanden.
Will hatte den Rettungswagen begleitet und Fionas physische Wiederherstellung vom Krankenhausflur verfolgt. Das waren Stunden von unverhoffter Dramatik; "es war alles sehr interessant gewesen, aber jede Nacht brauchte er das nicht". Dafür braucht ihn Marcus; zum einen als Anlaufstelle zwischen Schule und zu Hause, einem Ort, der mit der Angst vor einem neuen Selbstmordversuch der Mutter kontaminiert ist. Zum anderen als Tipgeber für einen erfolgreichen Überlebenskampf, denn "nur Will weiß, was ich brauche. Er weiß, was Kinder tragen", beteuert er Fiona.
Will spendiert ihm die standesgemäßen Schuhe, Basketballboots von Adidas. Der Haken dabei ist, daß die Kinder, die ihn dafür verspotten, daß er die falschen Schuhe trägt, ihm die richtigen wegnehmen. Eine andere Lebenshilfe erweist sich als weniger janusköpfig. Will klärt Marcus darüber auf, daß es sich bei dem Mann auf dem T-Shirt von Ellie, der schlimmsten Krawallnudel an Marcus' Schule, nicht, wie Ellie angibt, um einen Fußballer mit dem Namen Kirk O'Baine handelt, sondern um den Nirvana-Sänger Kurt Cobain. Dieses Wissen ist in den Augen der drei Jahre älteren Ellie ein Beweis dafür, daß Marcus zu den Eingeweihten gehört. Von nun an steht er unter ihrem verbalen und handgreiflichen Schutz und ist vor seinen Verfolgern sicher. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber der Riesensprung für Marcus.
Will braucht für seinen entscheidenden Schritt länger. Nach einem Jahr der Mühen und Wirren mit Fiona und anderen alleinerziehenden Müttern erscheint ihm eine Heirat mit einer gewissen Rachel nicht ausgeschlossen. Marcus, der inzwischen einen Satz wie "Ich hasse diese blöde Joni Mitchell" aussprechen kann, und zwar in Anwesenheit seiner Mutter, meint dazu nur: "Ich glaube nicht, daß Paare eine Zukunft haben." Der Junge hat gelernt.
"About a Boy" ist die asynchrone Entwicklungs- und Reifungsgeschichte ungleicher Personen. Nick Hornby resümiert: "Sie hatten etwas verlieren müssen, um etwas Neues zu gewinnen. Will seinen Panzer, aber er war mit Rachel zusammen. Marcus hatte sich selbst verloren, aber er kam mit den Schuhen an den Füßen nach Hause." Das ist, nicht nur im Rückblick, eine simple Geschichte. Auch in ihrem Verlauf wird ihre Gerichtetheit manchmal deutlich ausgestellt, etwa im auktorialen Drängen auf Wills überfälliger Saulus-Paulus-Wandlung.
Man folgt ihr dennoch mit Vergnügen bis zum Ende. Das liegt an verschiedenen Qualitäten Hornbys. So gibt er seinen Protagonisten soviel Farbe und Präsenz, daß man wissen möchte, wie es ihnen ergeht. Sie durchleben dabei Momente von Situationskomik, wobei eine Distanz zum Klamauk gewahrt bleibt. Exemplarisch ist dafür Wills Not, auf Nachfrage neue Details aus Neds virtuellem Leben zu extemporieren; eine Gratwanderung für einen Mann, der sich nur mit Mühe an einen Sohn und dessen Namen und erst recht an den Namen der dazugehörenden Mutter erinnert. Auch ist Hornby ein Meister des inneren Monologs: Die Handelnden prüfen und verwerfen Interpretationen ihrer Situation und diskutieren mit sich über Handlungsalternativen. "About a Boy" ist Hornbys drittes Buch und sein dritter Griff ins skurril-normale Leben seiner Generation - er ist Jahrgang 1957. Er spielt dabei milde auf die Vorgänger durch die Nähe zu und die Identifikation mit Popmusik und Fußball an. Wenn das so weitergeht, wird man sein Werk bald als muntere Sozialgeschichte unserer Jahre lesen können. BURKHARD SCHERER
Nick Hornby: "About a Boy". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 310 S., geb., 39,80 DM.
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»Hornby hat zwei Begabungen: Er ist ein gnadenloser, lebenskluger Beobachter und ein charmanter Plauderer zugleich.« Vogue