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"Die gerade erschienene Studie ist das mit Abstand farbigste, detailreichste Porträt Lincolns auf dem deutschen Markt. Und mit gutem Grund sollte man hinzufügen: Dieses Buch gehört in jeden gut sortierten Bücherschrank."
Bernd Greiner, Die Zeit
Abraham Lincoln gilt als einer der größten Präsidenten in der amerikanischen Geschichte. Er lenkte die Geschicke seines Landes durch die blutige Zeit des Bürgerkrieges und setzte die Einheit der Nation und die Befreiung von über vier Millionen Sklaven erfolgreich gegen die abtrünnigen Südstaaten durch.
Jörg Nagler schildert in seiner Biographie ein amerikanisches Leben, das in ärmlichsten Verhältnissen begann und bis ins Weiße Haus führte. Er zeigt die inneren Brüche und Widersprüchlichkeiten der komplexen Persönlichkeit Lincolns, schildert die tiefgreifenden Wandlungen Amerikas in der Zeit von 1800 bis 1865 und bringt uns so in seinem lebendig geschriebenen Buch den Präsidenten, der wenige Tage nach dem Ende des Bürgerkrieges als erster Präsident der USA einem Attentat zum Opfer fiel und die wohl dramatischste Epoche in der Geschichte der USA nahe.
"Die gerade erschienene Studie ist das mit Abstand farbigste, detailreichste Porträt Lincolns auf dem deutschen Markt. Und mit gutem Grund sollte man hinzufügen: Dieses Buch gehört in jeden gut sortierten Bücherschrank."
Bernd Greiner, Die Zeit
Abraham Lincoln gilt als einer der größten Präsidenten in der amerikanischen Geschichte. Er lenkte die Geschicke seines Landes durch die blutige Zeit des Bürgerkrieges und setzte die Einheit der Nation und die Befreiung von über vier Millionen Sklaven erfolgreich gegen die abtrünnigen Südstaaten durch.
Jörg Nagler schildert in seiner Biographie ein amerikanisches Leben, das in ärmlichsten Verhältnissen begann und bis ins Weiße Haus führte. Er zeigt die inneren Brüche und Widersprüchlichkeiten der komplexen Persönlichkeit Lincolns, schildert die tiefgreifenden Wandlungen Amerikas in der Zeit von 1800 bis 1865 und bringt uns so in seinem lebendig geschriebenen Buch den Präsidenten, der wenige Tage nach dem Ende des Bürgerkrieges als erster Präsident der USA einem Attentat zum Opfer fiel und die wohl dramatischste Epoche in der Geschichte der USA nahe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2009Wenn unsereins studiert, hat das Volk was davon
Nichts wie weg aus der bildungsfernen Zone: Im Jahr des zweihundertsten Geburtstages schreiben zwei deutsche Historiker das Leben Abraham Lincolns.
Von Patrick Bahners
Barack Obama hat viel mit Abraham Lincoln gemein. Im Juni 2005, als er im Nachrichtenmagazin "Time" eine Betrachtung über die Porträtfotografie Lincolns veröffentlichte, die in seinem Arbeitszimmer hängt, hatte er den Senatssitz für den Bundesstaat Illinois inne, um den Lincoln sich 1858 vergeblich beworben hatte. Die Serie von Rededuellen, in denen Lincoln dem Demokraten Stephen Douglas gegenübertrat, werden heute nostalgisch als das Muster aller Fernsehdebatten beschworen. Obama nennt es in seinem Artikel eine Ironie der Geschichte, dass die Argumente im Streit um die Sklaverei, deren Vortrag Lincoln den Sieg über Douglas gekostet haben mag, in der geschichtlichen Verkettung schließlich bewirkten, dass ein Schwarzer anderthalb Jahrhunderte später den Sitz einnehmen konnte, der Lincoln verwehrt blieb. Er spekuliert darüber, dass Lincoln Gefallen an dieser ironischen Wendung der Dinge gehabt hätte.
Ironisch will dieser Ausgang der Geschichte zumal deshalb erscheinen, weil Lincoln nicht an schwarze Abgeordnete und Senatoren dachte, als er die auf Unfreiheit der Schwarzen gegründete Gesellschaftsordnung der Südstaaten zerschlug, und sich selbst das friedliche Nebeneinanderherleben von Weißen und Schwarzen kaum vorstellen konnte. Das Bild von Lincoln als dem Großen Emanzipator wollte Obama sich vor vier Jahren nicht zu eigen machen. Als Rechtsprofessor, Bürgerrechtsanwalt und Afroamerikaner sei er sich der Grenzen von Lincolns Ansichten in Rassenfragen vollauf bewusst.
Mit dieser Aussage demonstrierte Obama, dass er sich im Hauptstrom des schwarzen Geschichtsbewusstseins bewegt. Zu den Ergebnissen der Bürgerrechtsbewegung gehört, dass der Autor der Proklamation über die Sklavenbefreiung vom 1. Januar 1863 kritischer bewertet wird. Zwar hatte Martin Luther King seine "Ich habe einen Traum"-Rede vor der Kulisse des Lincoln-Nationaldenkmals gehalten. Vergeblich hatte er Präsident Kennedy vorgeschlagen, am hundertsten Jahrestag eine zweite Proklamation über die Emanzipation der von Armut und Rassismus Versklavten zu erlassen. Aber schwarze Historiker traten mit der These hervor, die Schwarzen hätten sich selbst befreit. Historische Feststellungen in öffentlichen Äußerungen von Politikern sind politisch gemeint. Der Streit um die Sklaverei, in den Lincoln sich durch Reden einmischte, die ihn auch jenseits seines Heimatstaates bekannt machten, wurde ausgetragen als ein Streit um die Gründungsdokumente der Vereinigten Staaten, die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung, und um die Serie der gesetzgeberischen Akte, die über die Jahrzehnte den Kompromiss der Verfassungsväter, die stillschweigende Bestandsgarantie für die Sklaverei in den Südstaaten, fortschrieben und modifizierten.
Als Gemeinsames ihrer beider Karrieren macht Obama die Unwahrscheinlichkeit aus. Lincolns Lebenslauf verbürgt das demokratische Versprechen der egalitären Auslese: Wie unstet und diffus auch immer die Herkunftswelt, in Amerika kann jeder für den Senat kandidieren und Präsident werden. Lincoln ist das Urbild des selbstgemachten Mannes. Die Holzhütte in Kentucky, in der er geboren sein soll, wird von einem Tempel umschlossen wie in Assisi die Porziuncola von der Marienbasilika. Obama erzählt noch einmal, in elementarer Kürze, weil ja jeder Amerikaner die Geschichte kennt, den Mythos von Lincoln als dem Mann der frontier, der durch harte Arbeit fortwährend hinausgeschobenen Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. "Er hat nicht nur geschrieben oder geredet oder theoretisiert. Er spaltete Zaunpfähle, schoss mit Gewehren, brachte Fälle vor Gericht und setzte sich ein für neue Brücken und Straßen und Kanäle."
An dieser Stelle liegt ein ironisches Moment darin, dass der Lobredner des Mannes der Tat, der nicht nur, aber mit ungeheurer Resonanz geschrieben hat, ebenfalls außerordentlich gewandt schreibt. Obama bietet die Essenz des Mythos, eine schmucklose Erzählung, die nicht im Widerspruch zu den Ergebnissen der Forschung steht. Hier bestätigt sich das Ergebnis der großen Untersuchung des Historikers Merrill D. Peterson über "Lincoln in American Memory" (1994), dass die gelehrte Lincolnologie den Mythos eher untermauert als untergraben hat.
Auf der Grundlage der neueren Forschung haben im Jahr des zweihundertsten Geburtstages am 12. Februar auch zwei deutsche Amerikahistoriker Lincoln-Biographien verfasst, Jörg Nagler aus Jena und Georg Schild aus Tübingen. Beide Biographen sehen die Fertigkeiten des Politikers Lincoln entscheidend geprägt durch seine Erfahrungen im Milieu der frontier. In kleinen Städten, die aus dem Nichts dort entstanden, wo ein paar Farmer ein paar Häuser zusammenzimmerten, bevor sie sich zerstreuten und weiter westlich bessere Böden suchten, mussten alle sozialen Beziehungen hergestellt werden. Bevor Lincoln nach dem Selbststudium seine Anwaltsprüfung ablegte, erledigte er Arbeiten, die in solchen Siedlungen anfallen. Er versuchte sein Glück mit einem Gemischtwaren und sortierte die Post. Was lernte er? Mit unterschiedlichen Menschen und vor unterschiedlichen Menschen zu reden, Beziehungen zu knüpfen und Verabredungen zu treffen, wo es keine Sicherheit gab.
Diese Herkunftsgeschichte hat in beiden Biographien dieselbe Pointe: Die Lektion des Grenzlandes war Lincolns unbedingter Wille, es hinter sich zu lassen. Er lehnte, so Schild, Bildungsfeindlichkeit und übermäßigen Alkoholkonsum ab, die Mentalitätsmuster von Mitbürgern, die ihre Chancen nicht nutzten. Seine Vision der amerikanischen Gesellschaft, so Nagler, war eine städtische. In diesem Sinne lässt Obama Lincolns Tätigkeiten auf das Engagement für Infrastrukturprojekte zulaufen. Sie waren das Programm der Whig-Partei, in der Lincolns Karriere begann, das modernisierende Gegenprogramm zur Autarkie der Demokraten Thomas Jeffersons und Andrew Jacksons, der regierungskritischen Partei des klassischen Freibauerntums. Schild weist darauf hin, dass Lincoln von dem für die Ära Jackson typischen Misstrauen gegenüber Bildungseliten profitierte, als er ohne akademische Ausbildung oder professionelle Einweisung seine Anwaltslizenz erwarb.
Über Lincolns Anwaltstätigkeit berichtet Schild ausnahmsweise ausführlicher als Nagler, in dessen Buch die eingehende Schilderung der lebensweltlichen Umstände überzeugt, der Machenschaften und Inszenierungen auf dem Nominierungsparteitag in Chicago wie des Alltags im Weißen Haus. Die Stärke von Schilds schlanker "politischer Biographie" ist der politische Kontext. Im Gegensatz zu Nagler macht Schild auch die Motive und Ziele von Lincolns Gegnern verständlich. Das gilt für Douglas und dessen von Lincoln bekämpfte Idee, die Entscheidung zwischen Erlaubnis und Verbot der Sklaverei in den neu zur Union hinzutretenden Staaten dem jeweiligen souveränen Staatsvolk zu überlassen, ebenso wie für Clement Vallandigham, den Sprecher der Bürgerkriegsgegner unter den Demokraten, dessen Verhaftung und Ausweisung einen Präzedenzfall der Einschränkung der Meinungsfreiheit im Krieg schufen. Vor allem stellt Nagler die politischen und sozialen Ideen der Südstaaten in ihrem funktionalen Zusammenhang dar. Die Sklavenstaaten konnten sich eben auch auf die republikanische Tradition berufen: Nach antiker Lehre waren nur freie Männer, die über freie Zeit verfügten, weil andere Männer für sie arbeiteten, zur Selbstregierung fähig.
Zu einfach macht es sich Nagler, wenn er den gesamten Komplex des Rechtsverhältnisses von Gliedstaaten und Zentralregierung mit der Bemerkung abtut, die Frage nach der Souveränität der Einzelstaaten sei eine eher sophistische. Ähnlich nachlässig ist die Wertung Schilds, zwar habe Lincoln als Kriegspräsident verfassungswidrig in Grundrechte eingegriffen, vor dem Hintergrund der Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts erscheine diese Überschreitung jedoch unbedeutend. Man wird es doch als Lincolns Vermächtnis ansehen, dass eine Demokratie nur an sich selbst Maß nehmen kann, an den eigenen Idealen. In diesem Sinne mussten die von Lincoln im Krieg angeordneten Einschränkungen des Rechtsschutzes gerade erst wieder im Licht jüngster Erfahrungen überprüft werden.
Lincolns Entschluss, dem Krieg nicht auszuweichen, und seine Entschlossenheit, auf der bedingungslosen Kapitulation zu bestehen, führen beide Biographen überzeugend auf seinen Glauben zurück, dass das Überleben der Demokratie auf dem Spiel stand. Demokratie heißt hier Mehrheitsherrschaft. Wenn die Sezession eine legale Möglichkeit ist, so Lincolns Logik, besteht für die Minderheit kein Unterwerfungsdruck. Eine Homogenität des Gesamtstaates nahm Lincoln als gegeben an, deren lebensweltliche Voraussetzungen Brücken- und Straßenbaumaßnahmen doch erst hervorbringen sollten. Die Sklavenbefreiung war zunächst kein Kriegsziel und wurde es eigentlich auch nach der Proklamation nicht: Die Emanzipation war eine Waffe, das entscheidende Mittel zur Erzwingung der Kapitulation.
Von den radikalen Abolitionisten unterschied sich Lincoln, wie Nagler hervorhebt, durch eine Vorstellung von der Bedingtheit und Relativität auch der sichersten moralischen Urteile. Eine Maxime des englischen Verfassungsdenkens quasi marxistisch zuspitzend wollte Lincoln in einer Rede in Neuengland 1860 die öffentliche Meinung aus den Besitzverhältnissen ableiten: Man verteidige im Süden die Sklaverei, weil man Sklaven besitze; Nordstaatler würden würden nicht anders reden, wenn sie Sklaven geerbt hätten. Wenn Obama betont, dass "Ambiguität, Komplexität und Mitgefühl" zu Lincolns Charakter gehörten, nimmt er ein Motiv auf, aus dem der Theologe Reinhold Niebuhr im Kalten Krieg eine politische Ethik des Tragischen entwickelt hat.
Von einer Lincoln-Biographie nach den Regeln der Kunst muss man heute erwarten, dass sie ausdrücklich die Wirkungsgeschichte erörtert, in die hinein sich die Zweideutigkeiten dieses schon den Mitlebenden rätselhaft erscheinenen Charakters gleichsam verlängert haben. Denn gemäß Lincolns melancholischer Einsicht wird unser Urteil über den Schöpfer der imperialen Präsidentschaft von unseren Interessen und Lebenseinstellungen abhängig sein. Indem sie die Erinnerungsgeschichte ignorieren, fallen beide Autoren weit hinter ihre amerikanischen Kollegen zurück. Schild bezieht sich immerhin gelegentlich auf einzelne namentlich genannte Historiker, bleibt aber deren Einordnung ins ideologische Spektrum schuldig.
Die Lektüre des Buches von Nagler ist wegen sprachlicher Unbeholfenheiten äußerst mühselig. Überall falsche Präpositionen, Fehlübersetzungen, kuriose Doppelungen und schiefe Bezüge: Sektenbildungen streiten, die Amerikanische Revolution generiert die Schaffung einer Republik, ein Ziel verläuft positiv, und der psychologische Effekt verfehlt seine Wirkung nicht. Auch bei Schild stolpert man über Druckfehler, falsche Konjunktive und das Blechwort der öffentlichen Rede unserer Tage: "positionieren". Was verspricht man sich von Sprachkursen für Einwanderer, wenn man noch nicht einmal von einem Professor verlangen kann, dass er die indirekte Rede korrekt bildet? "Dank seiner ausgefeilten Rhetorik und dem geradezu literarischen Niveau seiner Reden sprach er treffsicher menschliche Emotionen an", wird Lincoln in treuherzigstem Gutachtenstil von Nagler bescheinigt. Dass Lincoln, dessen "Beherrschung des Rechts und der Sprache" Obama rühmt, ein begnadeter Stilist war, gehört gewiss zu den Unwahrscheinlichkeiten in der Geschichte des demokratischen Experiments. Aber von diesem Autodidakten, der keine Rede ohne Manuskript hielt und noch im Zug und in der Kutsche auf die Zettel kritzelte, die er sich in den Zylinderhut steckte, kann man lernen, dass man sich Mühe gibt.
Jörg Nagler: "Abraham Lincoln". Amerikas großer Präsident. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2009. 464 S., geb., Abb., 26,90 [Euro].
Georg Schild: "Abraham Lincoln". Eine politische Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2009. 272 S., geb., Abb., Karten, 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nichts wie weg aus der bildungsfernen Zone: Im Jahr des zweihundertsten Geburtstages schreiben zwei deutsche Historiker das Leben Abraham Lincolns.
Von Patrick Bahners
Barack Obama hat viel mit Abraham Lincoln gemein. Im Juni 2005, als er im Nachrichtenmagazin "Time" eine Betrachtung über die Porträtfotografie Lincolns veröffentlichte, die in seinem Arbeitszimmer hängt, hatte er den Senatssitz für den Bundesstaat Illinois inne, um den Lincoln sich 1858 vergeblich beworben hatte. Die Serie von Rededuellen, in denen Lincoln dem Demokraten Stephen Douglas gegenübertrat, werden heute nostalgisch als das Muster aller Fernsehdebatten beschworen. Obama nennt es in seinem Artikel eine Ironie der Geschichte, dass die Argumente im Streit um die Sklaverei, deren Vortrag Lincoln den Sieg über Douglas gekostet haben mag, in der geschichtlichen Verkettung schließlich bewirkten, dass ein Schwarzer anderthalb Jahrhunderte später den Sitz einnehmen konnte, der Lincoln verwehrt blieb. Er spekuliert darüber, dass Lincoln Gefallen an dieser ironischen Wendung der Dinge gehabt hätte.
Ironisch will dieser Ausgang der Geschichte zumal deshalb erscheinen, weil Lincoln nicht an schwarze Abgeordnete und Senatoren dachte, als er die auf Unfreiheit der Schwarzen gegründete Gesellschaftsordnung der Südstaaten zerschlug, und sich selbst das friedliche Nebeneinanderherleben von Weißen und Schwarzen kaum vorstellen konnte. Das Bild von Lincoln als dem Großen Emanzipator wollte Obama sich vor vier Jahren nicht zu eigen machen. Als Rechtsprofessor, Bürgerrechtsanwalt und Afroamerikaner sei er sich der Grenzen von Lincolns Ansichten in Rassenfragen vollauf bewusst.
Mit dieser Aussage demonstrierte Obama, dass er sich im Hauptstrom des schwarzen Geschichtsbewusstseins bewegt. Zu den Ergebnissen der Bürgerrechtsbewegung gehört, dass der Autor der Proklamation über die Sklavenbefreiung vom 1. Januar 1863 kritischer bewertet wird. Zwar hatte Martin Luther King seine "Ich habe einen Traum"-Rede vor der Kulisse des Lincoln-Nationaldenkmals gehalten. Vergeblich hatte er Präsident Kennedy vorgeschlagen, am hundertsten Jahrestag eine zweite Proklamation über die Emanzipation der von Armut und Rassismus Versklavten zu erlassen. Aber schwarze Historiker traten mit der These hervor, die Schwarzen hätten sich selbst befreit. Historische Feststellungen in öffentlichen Äußerungen von Politikern sind politisch gemeint. Der Streit um die Sklaverei, in den Lincoln sich durch Reden einmischte, die ihn auch jenseits seines Heimatstaates bekannt machten, wurde ausgetragen als ein Streit um die Gründungsdokumente der Vereinigten Staaten, die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung, und um die Serie der gesetzgeberischen Akte, die über die Jahrzehnte den Kompromiss der Verfassungsväter, die stillschweigende Bestandsgarantie für die Sklaverei in den Südstaaten, fortschrieben und modifizierten.
Als Gemeinsames ihrer beider Karrieren macht Obama die Unwahrscheinlichkeit aus. Lincolns Lebenslauf verbürgt das demokratische Versprechen der egalitären Auslese: Wie unstet und diffus auch immer die Herkunftswelt, in Amerika kann jeder für den Senat kandidieren und Präsident werden. Lincoln ist das Urbild des selbstgemachten Mannes. Die Holzhütte in Kentucky, in der er geboren sein soll, wird von einem Tempel umschlossen wie in Assisi die Porziuncola von der Marienbasilika. Obama erzählt noch einmal, in elementarer Kürze, weil ja jeder Amerikaner die Geschichte kennt, den Mythos von Lincoln als dem Mann der frontier, der durch harte Arbeit fortwährend hinausgeschobenen Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. "Er hat nicht nur geschrieben oder geredet oder theoretisiert. Er spaltete Zaunpfähle, schoss mit Gewehren, brachte Fälle vor Gericht und setzte sich ein für neue Brücken und Straßen und Kanäle."
An dieser Stelle liegt ein ironisches Moment darin, dass der Lobredner des Mannes der Tat, der nicht nur, aber mit ungeheurer Resonanz geschrieben hat, ebenfalls außerordentlich gewandt schreibt. Obama bietet die Essenz des Mythos, eine schmucklose Erzählung, die nicht im Widerspruch zu den Ergebnissen der Forschung steht. Hier bestätigt sich das Ergebnis der großen Untersuchung des Historikers Merrill D. Peterson über "Lincoln in American Memory" (1994), dass die gelehrte Lincolnologie den Mythos eher untermauert als untergraben hat.
Auf der Grundlage der neueren Forschung haben im Jahr des zweihundertsten Geburtstages am 12. Februar auch zwei deutsche Amerikahistoriker Lincoln-Biographien verfasst, Jörg Nagler aus Jena und Georg Schild aus Tübingen. Beide Biographen sehen die Fertigkeiten des Politikers Lincoln entscheidend geprägt durch seine Erfahrungen im Milieu der frontier. In kleinen Städten, die aus dem Nichts dort entstanden, wo ein paar Farmer ein paar Häuser zusammenzimmerten, bevor sie sich zerstreuten und weiter westlich bessere Böden suchten, mussten alle sozialen Beziehungen hergestellt werden. Bevor Lincoln nach dem Selbststudium seine Anwaltsprüfung ablegte, erledigte er Arbeiten, die in solchen Siedlungen anfallen. Er versuchte sein Glück mit einem Gemischtwaren und sortierte die Post. Was lernte er? Mit unterschiedlichen Menschen und vor unterschiedlichen Menschen zu reden, Beziehungen zu knüpfen und Verabredungen zu treffen, wo es keine Sicherheit gab.
Diese Herkunftsgeschichte hat in beiden Biographien dieselbe Pointe: Die Lektion des Grenzlandes war Lincolns unbedingter Wille, es hinter sich zu lassen. Er lehnte, so Schild, Bildungsfeindlichkeit und übermäßigen Alkoholkonsum ab, die Mentalitätsmuster von Mitbürgern, die ihre Chancen nicht nutzten. Seine Vision der amerikanischen Gesellschaft, so Nagler, war eine städtische. In diesem Sinne lässt Obama Lincolns Tätigkeiten auf das Engagement für Infrastrukturprojekte zulaufen. Sie waren das Programm der Whig-Partei, in der Lincolns Karriere begann, das modernisierende Gegenprogramm zur Autarkie der Demokraten Thomas Jeffersons und Andrew Jacksons, der regierungskritischen Partei des klassischen Freibauerntums. Schild weist darauf hin, dass Lincoln von dem für die Ära Jackson typischen Misstrauen gegenüber Bildungseliten profitierte, als er ohne akademische Ausbildung oder professionelle Einweisung seine Anwaltslizenz erwarb.
Über Lincolns Anwaltstätigkeit berichtet Schild ausnahmsweise ausführlicher als Nagler, in dessen Buch die eingehende Schilderung der lebensweltlichen Umstände überzeugt, der Machenschaften und Inszenierungen auf dem Nominierungsparteitag in Chicago wie des Alltags im Weißen Haus. Die Stärke von Schilds schlanker "politischer Biographie" ist der politische Kontext. Im Gegensatz zu Nagler macht Schild auch die Motive und Ziele von Lincolns Gegnern verständlich. Das gilt für Douglas und dessen von Lincoln bekämpfte Idee, die Entscheidung zwischen Erlaubnis und Verbot der Sklaverei in den neu zur Union hinzutretenden Staaten dem jeweiligen souveränen Staatsvolk zu überlassen, ebenso wie für Clement Vallandigham, den Sprecher der Bürgerkriegsgegner unter den Demokraten, dessen Verhaftung und Ausweisung einen Präzedenzfall der Einschränkung der Meinungsfreiheit im Krieg schufen. Vor allem stellt Nagler die politischen und sozialen Ideen der Südstaaten in ihrem funktionalen Zusammenhang dar. Die Sklavenstaaten konnten sich eben auch auf die republikanische Tradition berufen: Nach antiker Lehre waren nur freie Männer, die über freie Zeit verfügten, weil andere Männer für sie arbeiteten, zur Selbstregierung fähig.
Zu einfach macht es sich Nagler, wenn er den gesamten Komplex des Rechtsverhältnisses von Gliedstaaten und Zentralregierung mit der Bemerkung abtut, die Frage nach der Souveränität der Einzelstaaten sei eine eher sophistische. Ähnlich nachlässig ist die Wertung Schilds, zwar habe Lincoln als Kriegspräsident verfassungswidrig in Grundrechte eingegriffen, vor dem Hintergrund der Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts erscheine diese Überschreitung jedoch unbedeutend. Man wird es doch als Lincolns Vermächtnis ansehen, dass eine Demokratie nur an sich selbst Maß nehmen kann, an den eigenen Idealen. In diesem Sinne mussten die von Lincoln im Krieg angeordneten Einschränkungen des Rechtsschutzes gerade erst wieder im Licht jüngster Erfahrungen überprüft werden.
Lincolns Entschluss, dem Krieg nicht auszuweichen, und seine Entschlossenheit, auf der bedingungslosen Kapitulation zu bestehen, führen beide Biographen überzeugend auf seinen Glauben zurück, dass das Überleben der Demokratie auf dem Spiel stand. Demokratie heißt hier Mehrheitsherrschaft. Wenn die Sezession eine legale Möglichkeit ist, so Lincolns Logik, besteht für die Minderheit kein Unterwerfungsdruck. Eine Homogenität des Gesamtstaates nahm Lincoln als gegeben an, deren lebensweltliche Voraussetzungen Brücken- und Straßenbaumaßnahmen doch erst hervorbringen sollten. Die Sklavenbefreiung war zunächst kein Kriegsziel und wurde es eigentlich auch nach der Proklamation nicht: Die Emanzipation war eine Waffe, das entscheidende Mittel zur Erzwingung der Kapitulation.
Von den radikalen Abolitionisten unterschied sich Lincoln, wie Nagler hervorhebt, durch eine Vorstellung von der Bedingtheit und Relativität auch der sichersten moralischen Urteile. Eine Maxime des englischen Verfassungsdenkens quasi marxistisch zuspitzend wollte Lincoln in einer Rede in Neuengland 1860 die öffentliche Meinung aus den Besitzverhältnissen ableiten: Man verteidige im Süden die Sklaverei, weil man Sklaven besitze; Nordstaatler würden würden nicht anders reden, wenn sie Sklaven geerbt hätten. Wenn Obama betont, dass "Ambiguität, Komplexität und Mitgefühl" zu Lincolns Charakter gehörten, nimmt er ein Motiv auf, aus dem der Theologe Reinhold Niebuhr im Kalten Krieg eine politische Ethik des Tragischen entwickelt hat.
Von einer Lincoln-Biographie nach den Regeln der Kunst muss man heute erwarten, dass sie ausdrücklich die Wirkungsgeschichte erörtert, in die hinein sich die Zweideutigkeiten dieses schon den Mitlebenden rätselhaft erscheinenen Charakters gleichsam verlängert haben. Denn gemäß Lincolns melancholischer Einsicht wird unser Urteil über den Schöpfer der imperialen Präsidentschaft von unseren Interessen und Lebenseinstellungen abhängig sein. Indem sie die Erinnerungsgeschichte ignorieren, fallen beide Autoren weit hinter ihre amerikanischen Kollegen zurück. Schild bezieht sich immerhin gelegentlich auf einzelne namentlich genannte Historiker, bleibt aber deren Einordnung ins ideologische Spektrum schuldig.
Die Lektüre des Buches von Nagler ist wegen sprachlicher Unbeholfenheiten äußerst mühselig. Überall falsche Präpositionen, Fehlübersetzungen, kuriose Doppelungen und schiefe Bezüge: Sektenbildungen streiten, die Amerikanische Revolution generiert die Schaffung einer Republik, ein Ziel verläuft positiv, und der psychologische Effekt verfehlt seine Wirkung nicht. Auch bei Schild stolpert man über Druckfehler, falsche Konjunktive und das Blechwort der öffentlichen Rede unserer Tage: "positionieren". Was verspricht man sich von Sprachkursen für Einwanderer, wenn man noch nicht einmal von einem Professor verlangen kann, dass er die indirekte Rede korrekt bildet? "Dank seiner ausgefeilten Rhetorik und dem geradezu literarischen Niveau seiner Reden sprach er treffsicher menschliche Emotionen an", wird Lincoln in treuherzigstem Gutachtenstil von Nagler bescheinigt. Dass Lincoln, dessen "Beherrschung des Rechts und der Sprache" Obama rühmt, ein begnadeter Stilist war, gehört gewiss zu den Unwahrscheinlichkeiten in der Geschichte des demokratischen Experiments. Aber von diesem Autodidakten, der keine Rede ohne Manuskript hielt und noch im Zug und in der Kutsche auf die Zettel kritzelte, die er sich in den Zylinderhut steckte, kann man lernen, dass man sich Mühe gibt.
Jörg Nagler: "Abraham Lincoln". Amerikas großer Präsident. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2009. 464 S., geb., Abb., 26,90 [Euro].
Georg Schild: "Abraham Lincoln". Eine politische Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2009. 272 S., geb., Abb., Karten, 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Dieses Buch gehört in jeden gut sortierten Bücherschrank, befindet Rezensent Bernd Greiner. Denn aus seiner Sicht handelt es sich bei dieser Studie um das "mit Abstand farbigste, detailreichste Lincoln-Porträt" auf dem deutschen Markt, und das will bei diesem populären und viel behandelten Thema etwas heißen. In einfühlsamer Weise und "bester angelsächsischer Erzähltradition fand der Rezensent hier Abraham Lincoln beschrieben und seine Epoche dem heutigen Leser nahegebracht. Immer wieder stoße Jörg Nagler dabei zum Glutkern der Aktualität dieses Stoffes vor, nämlich dem von Lincoln vertretenen bedingungslosen Respekt vor der Gleichberechtigung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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