Ein Wissenschaftskritiker rechnet ab
Erwin Chargaff, Biochemiker von Weltrang, starb 2002 im Alter von 96 Jahren. Er gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet der Erforschung der Struktur der DNS und wurde in späteren Jahren zu einem der kompetentesten Kritiker der naturwissenschaftlichen
Forschung. Bezeichnend für ihn war, neben seinem enormen Fachwissen, sein hohes Maß an klassischer…mehrEin Wissenschaftskritiker rechnet ab
Erwin Chargaff, Biochemiker von Weltrang, starb 2002 im Alter von 96 Jahren. Er gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet der Erforschung der Struktur der DNS und wurde in späteren Jahren zu einem der kompetentesten Kritiker der naturwissenschaftlichen Forschung. Bezeichnend für ihn war, neben seinem enormen Fachwissen, sein hohes Maß an klassischer Bildung.
Was ist Wahrheit? Der eine sucht die Wahrheit mit dem Kopf und der andere mit dem Herzen. Nach Erwin Chargaffs Interpretation strebt die Naturwissenschaft zwar nach Wahrheit, kann aber nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Was Leben ist, kann die Naturwissenschaft nicht erklären. Dass sie für viele zu einer Art Religionsersatz geworden ist, schränkt sie eher ein. Wie sieht es dagegen mit der Wahrheit in der Literatur und der Kunst aus? Große Werke der Literatur und der Kunst zeichnen sich durch Schönheit aus, nicht durch Wahrheit. Chargaff zitiert Nietzsche, um seine Ansicht zu untermauern: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“
Chargaff untersucht die Verhältnisse in seiner Wahlheimat Amerika und entdeckt an vielen Stellen chronischen Hass. Ein T-Shirt mit der Aufschrift „Kill a Commie for Mommy“, das manche Kinder tragen, ist für ihn Einstieg in das Thema. Harmlose Graffiti? Der Hass ist nicht immer eindeutig erkennbar, aber er ist vorhanden. Chargaff dehnt seine Überlegungen auf Europa aus und findet auch hier zahlreiche negative Beispiele. Die Ursachen sieht er im Patriotismus, der sich schnell zum Nationalismus entwickeln kann.
Die Völker haben ihre Traditionen verloren. Es gibt nach Chargaff zu viele Spezialisten und zu wenige Generalisten. Ist damit das Bildungsniveau gestiegen? Bildung, so wie Chargaff sie versteht, setzt Wissen quer durch die Literatur und die Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften voraus. Hieran mangelt es in unserer modernen Zeit. Traditionsbewusstsein, entstanden aus dem Vermächtnis unzähliger Menschen, gibt es heute nicht mehr.
Historiker schreiben Bücher, die zum Erbe ihrer Sprache und der Kultur ihres Landes gehören. Was ist, wenn diese Vergangenheit voller Schande ist? Der Abscheu vor der Weltgeschichte wird am Holocaust besonders deutlich. Was ist, wenn dunkle Phasen der Geschichte verdrängt werden? Das Gedächtnis des Volkes hat nur einen beschränkten Lagerraum für nationale Schande. Folglich werden Verdrängungsmechanismen in Gang gesetzt. Geschichte wird gefälscht, nach dem Motto: Glücklich ist, wer vergisst.
Chargaff setzt sich kritisch mit den Naturwissenschaften auseinander. Die Geschwindigkeit, mit der technische Neuerungen in die Wirtschaft einfließen und auch das Gemütsleben Einzelner beeinflussen, ist ein besonderes Merkmal dieser Zeit. Warum sind die Früchte vom Baum des Wissens tödliche Früchte? Hiroshima, Tschernobyl, Bhopal und Seveso sind Beispiele dafür, dass die Menschheit in ihrem Wissensdurst schon viel zu weit gegangen ist. Chargaff zitiert Kierkegaard: „Alles Verderben wird zuletzt von den Wissenschaften ausgehen“. Dass die Erde den Menschen nur geliehen wurde, scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
Erwin Chargaff thematisiert Grenzüberschreitungen der Menschheit und führt einen Kampf gegen das Vergessen. Seine Analysen sind messerscharf und seine Gesamtschau rüttelt an Grundfesten. Sein extremer Pessimismus lässt keinen Spielraum für eine positive Zukunft. Trotzdem – oder gerade deshalb – sollte man sich mit Chargaff auseinandersetzen. Seine Thesen sind hoch aktuell.