Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst des Abstiegs. Immer mehr Untergangsszenarien sind im Umlauf oder werden sogar bewusst geschürt. Wenn es um die Zukunft geht, gilt es als ausgemacht, dass es unseren Kindern einmal schlechter gehen wird als uns. Doch diese Aussage ist ebenso grundlos wie gefährlich. Herfried und Marina Münkler zeigen eindrucksvoll, warum solche diffusen Ängste den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährden und allen Populisten, aus welcher Richtung sie auch kommen, Angriffspunkte bieten. Mehr noch: Das Abstiegsgerede hindert die Politik daran, über die wirklichen Schwachstellen der Gesellschaft zu sprechen und sie anzugehen. Bildung, Demokratie, europäische Integration: Das sind die Felder, auf denen jahrzehntelang nichts geschah und auf denen jetzt die Probleme heranwachsen, die auf mittlere Sicht unseren Wohlstand und, schlimmer, die Architektur unserer Gesellschaft gefährden können.
«Dieses Buch leistet, was eigentlich Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre», schrieb der «Spiegel» über das Vorgängerbuch «Die neuen Deutschen» - und das gilt genauso für dieses: Es bekämpft falsche, gefährliche Ängste und zeigt, was Deutschland jetzt braucht und wie wir die Zukunft zurückgewinnen können.
«Dieses Buch leistet, was eigentlich Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre», schrieb der «Spiegel» über das Vorgängerbuch «Die neuen Deutschen» - und das gilt genauso für dieses: Es bekämpft falsche, gefährliche Ängste und zeigt, was Deutschland jetzt braucht und wie wir die Zukunft zurückgewinnen können.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2019„Das Hauptproblem
ist die Mitte“
Ein Gespräch über die Krise der liberalen Demokratie
und den wahren Bildungsskandal
INTERVIEW: JENS BISKY,
LOTHAR MÜLLER
Die neuen Deutschen“ hieß das Buch, in dem Marina und Herfried Münkler 2016 Gefahren und Möglichkeiten der Integration analysierten. In dieser Woche erscheint ihr neues Buch, das „Eine Agenda für Deutschland“ verspricht. Sie widersprechen darin linken Abstiegs- wie rechten Niedergangsszenarien.
SZ: Überall ist von Untergang, Katastrophen, Krisen die Rede. Zu Recht?
Herfried Münkler: Abstiegs- und Niedergangsnarrative spiegeln nicht unbedingt wieder, was der Fall ist. Oft dramatisieren sie Einzelbeobachtungen und verselbständigen sich. Unter ästhetischen Gesichtspunkten haben sie ihren Reiz, aber politisch wirken sie paralysierend, indem sie entweder in Apathie versetzen oder in hektische Aufgeregtheit.
Marina Münkler: Abstiegs- und Niedergangserzählungen sind natürlich nicht ohne Basis in der Realität, aber sie verdichten die Wahrnehmung von Realität, lösen sich leicht von faktischen Beobachtungen ab.
Inwiefern?
Herfried Münkler: Es gibt in dieser Gesellschaft soziale Abstiege, aber wir sind keine Abstiegsgesellschaft; es gibt Niedergänge, etwa den der Volksparteien oder der Gewerkschaften, aber keinen grundsätzlichen Niedergang des politischen Systems und des demokratischen Rechtsstaats. Narrative sind Wahrnehmungs- und Erzählmuster, die einzelne Beobachtungen zu generellen Entwicklungen machen. Im Kampf um Aufmerksamkeit haben sie eine größere Wirkung als eine differenzierte Betrachtung.
Ihre Kritik der Narrative klingt nach Entwarnung. Zugleich strahlt Ihr Buch den Eindruck aus, Produkt einer Krise zu sein, vor allem einer Krise der liberalen Demokratie.
Marina Münkler: Wir spielen nicht grundsätzlich die Welt des Faktischen gegen die Narrative aus. Dass Letztere so stark geworden sind, hat mit realen Krisenphänomenen zu tun. Aber diese lassen sich nur bearbeiten, wenn man erkennt, in welcher Weise bestimmte Erzählmuster die Lösungsperspektiven einschränken. Und Lösungsperspektiven sind zentral, deshalb konzentrieren wir uns auf die Felder liberale Demokratie und Rechtsstaat, Bildung und Europa.
Herfried Münkler: Die globale Dimension, den Klimawandel und den globalen Kapitalismus begreifen wir als Hintergrundvoraussetzungen, aber wir wollten uns auf das konzentrieren, was nationalstaatlich bearbeitbar, was agendafähig ist. Je globaler ein Problem ist, desto geringer wird der Einfluss der deutschen Politik, auch wenn viele das nicht so wahrnehmen, sondern glauben, mit demonstrative Akten die Welt verändern und retten zu können.
Und worin sehen Sie die Krise der liberalen Demokratie?
Herfried Münkler: Was wir bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg beobachtet haben und länger schon beobachten, könnte man als die Bildung von immer größeren Gruppen missmutiger Eckensteher beschreiben. Demokratie lebt aber davon, dass sie die Bildung solcher Gruppen verhindert und sie einbindet in das, was Max Weber „das starke langsame Bohren harter Bretter“ nennt. Stattdessen herrscht jetzt ein Politikstil, in dem die Bürger als Kunden apostrophiert werden, und die Politiker sind die Lieferanten und Produzenten. Die Formeln lauten dementsprechend: „die Politik hat geliefert“, „die Politik muss liefern“. Das ist eine verhängnisvolle Beschreibung, weil sie suggeriert, man könne sich hinstellen und warten, dass das, was man bestellt hat, bei der Wahl oder mit einem Internetkommentar, auch angeliefert wird.
Zur Bildung politischer Urteilskraft schlagen Sie lokale Bürgerkomitees vor. Ist das als Gegenmodell zu Volksabstimmungen gedacht?
Marina Münkler: Ja, als Gegenmodell zur plebiszitären Demokratie, der wir an den Stellen, wo man entscheiden kann, eine Mitwirkungsdemokratie entgegensetzen. Ausgangspunkt ist dabei der Raum des Kommunalen. Von ihm aus ist eine Mitwirkungsdemokratie zu denken. Die plebiszitäre Demokratie ist oft mit überzogenen, dramatischen Narrativen verknüpft.
Herfried Münkler: Der Vorschlag der Bürgerkomitees reagiert auch auf die Erosion der Parteien von den Wurzeln her. Die Frage ist ja, wo bekommt man die Leute her, um partizipative Politik zu machen? Die Bürgerkomitees sollen Befähigungsmaschinen sein, in denen Kompetenz aufgebaut werden kann.
Zur Besetzung der Bürgerkomitees schlagen Sie das Losverfahren vor. Wie soll das gehen?
Herfried Münkler: Wenn das Los entscheidet, können auch Leute zum Zuge kommen, die sich eine Kandidatur nicht zutrauen würden. Das Losverfahren knüpft ja durchaus an die klassische antike Tradition an, die durch das Los mit der staatsbürgerlichen Gleichheit Ernst machte.
Aber ist die aktuelle Lage dafür günstig? Sie kritisieren Abstiegs- und Niedergangserzählungen, gehen aber implizit selber von einer gespaltenen Gesellschaft aus.
Marina Münkler: Wir würden eher von einer polarisierten Gesellschaft sprechen. Spaltung hat eine etwas andere Konnotation als Polarisierung. Spaltung beziehen wir eher auf soziale Befunde, Polarisierung auf die politische Sphäre.
Herfried Münkler: Unsere Frage ist: Was sind die wirklich gefährlichen Spaltungen, und was ist der Hebel, gesellschaftliche Kohäsion, Zusammenhalt wieder zu organisieren? Wir sagen ausdrücklich nicht, das Problem sind die oberen fünf Prozent, die sich in einen ungeheuren Reichtum verabschiedet haben, oder die unteren fünfzehn Prozent, die sich aus der politischen Partizipation und von der Hoffnung, aufsteigen zu können, verabschiedet haben. Das Hauptproblem ist die Mitte, die Verwandlung der berühmten Zwiebel in eine Sanduhr, in der die Mitte der Mitte ganz schmal wird. Bei den Landtagswahlen wurde die hohe Wahlbeteiligung gerühmt, aber es waren ja nur 65 Prozent. Was ist mit denen, die gar nicht gewählt haben?
Marina Münkler: Ich kenne in Dresden ziemlich viele Leute, die fast noch nie wählen waren, die sagen, es ist nicht so schlecht, aber es ist jetzt auch nicht so, dass ich mich für irgendetwas entscheiden muss, es läuft irgendwie auch ohne mich.
Gegen das Lieferando-Modell der Demokratie setzen Sie das Gemeinwohl. Was verstehen Sie darunter?
Herfried Münkler: Natürlich kann in einer liberalen Demokratie keiner genau wissen, was das Gemeinwohl ist. Aber es muss so etwas wie ein „Als ob“ geben: Wir wollen uns so verhalten, als ob wir eine Vorstellung davon hätten, dass es ein Gemeinwohl gibt und dass es dafür eine Investitionsbereitschaft gibt, um nicht zu sagen Opferbereitschaft, im Hinblick auf den Zusammenhang.
Marina Münkler: Gemeinwohl ist ein Begriff, in dem unterschiedliche Interessen immer schon mitgedacht sind. Gerechtigkeit zum Beispiel ist ein Begriff, der sich gegen irgendjemanden richtet, der mich ungerecht behandelt oder dafür sorgt, dass es mir nicht so gut geht wie anderen. Gegen Gerechtigkeit kann man immer Leistung ausspielen, gewissermaßen komplementär herabsetzend. Das führt leicht zu dem Vorwurf, es gebe Leute, die etwas leisten, und andere die nichts leisten. Gemeinwohl hieße: Wir müssen uns vielleicht alle an Leistung orientieren, aber wir dürfen nicht von allen die gleiche Leistung erwarten. Eine Reihe von Begriffen sind invektiv aufgeladen, während Gemeinwohl die Vorstellung aufruft, dass es etwas gibt, das für alle etwas gemeinsam Gutes bedeutet.
Heißt das zum Beispiel: Seid vorsichtig mit der Vermögenssteuer?
Herfried Münkler: Ja, vorsichtig vor allem in der Art, wie man ein solches Projekt kommuniziert. Im Augenblick sieht das aus wie eine systematische Stigmatisierung derer, die sie zahlen sollen. Eine solche Stigmatisierung ist eine sehr unvernünftige Form, der man die Wahlmobilisierungsabsichten schon von Weitem ansieht. Man muss gar nicht in Abrede stellen, dass es Leute gibt, die einen größeren Beitrag leisten sollen als andere, aber wenn man sie in ein Art semantische Haft nimmt, dann ist das eine Form von Dummheit. Man müsste sie eher für das Gemeinwohl interessieren.
Und wie soll das ausverhandelt werden?
Herfried Münkler: Die diskursiven Verfahren sind entscheidend. Um das hervorzuheben, ersetzen wir in unserem Buch strategisch Volk durch Bürger und sprechen von der politischen Urteilskraft, die er haben muss. In der Antike wurde versucht, im Medium des Theaters politische Urteilskraft zu bilden. Mit dem Aufkommen der parlamentarischen Demokratie war das räsonierende Publikum verbunden, im Zusammenspiel von Buch als Wissensspeicher und der Zeitung als Medium der Aktualisierung. Ich kann im Augenblick noch nicht erkennen, wie unter den Bedingungen der Beschleunigung der Gegenwart durch die aktuellen Medien Funktionsäquivalente für diese Formate von Reflektiertheit und Bedenken zustande kommen können.
Marina Münkler: Wir versprechen uns viel von Bürgerbeteiligung. Deren mögliche Erfolge kann man zum Beispiel an den Bürgerversammlungen sehen, wie es sie kürzlich vor den Wahlen in Sachsen gegeben hat. Zu den Bürgerversammlungen kommen Leute, die nicht auf Parteiveranstaltungen gehen, es kommen auch solche, die ihren Unmut äußern. Da erfährt man schnell, dass die Menschen bessere öffentliche Verkehrsanbindungen wollen. Da werden Fragen laut: Wie lange kann man den Leuten auf dem Lande eine miserable digitale Infrastruktur zumuten? Wie lange haben die großen Parteien nicht auf die Abwanderungsprozesse im Osten reagiert? Warum sind die Schulen so schlecht ausgestattet? Wichtig wäre aber, dass man solche Unmutsäußerungen in tatsächlich bearbeitbare Projekte überführt, an denen die Bürger sich beteiligen können.
Sie verbinden Ihre Analyse der gegenwärtigen Bildungskrise mit einem Rückblick auf das Schulsystem der DDR, das 1989 bei einer Mehrheit verhasst war. Warum?
Marina Münkler: Ein Teil der Unzufriedenheit, die wir heute in Ostdeutschland haben, resultiert auch daraus, dass damals bei der Wiedervereinigung das Bildungssystem der DDR ziemlich schnell plattgemacht worden ist, ohne dass gefragt wurde, was davon man hätte gebrauchen können. Im Schnelltempo sind die Gymnasien eingeführt worden, schon allein für die Kinder der Beamten, die damals in die neuen Bundesländer gegangen sind. Es gibt eine Menge, was man am Bildungssystem der DDR kritisieren kann, zum Beispiel, dass es mit dem sozialen Aufstieg über das Bildungssystem dort auch nicht gut geklappt hat. Man kann aber andererseits nicht bestreiten, dass ein System mit einer Gemeinschaftsschule für die meisten denkmöglich war, ohne dass man sagen könnte, dabei seien komplett ungebildete Leute herausgekommen.
Herfried Münkler: Die Probleme, die wir derzeit haben, etwa die Schwächen in Rechtschreibung und Lesefähigkeit, haben auch mit einer mittelschichtorientierten Pädagogik zu tun, die darauf setzt, dass die Eltern alles ausgleichen, was die Schule nicht schafft.
Am DDR-Schulsystem interessiert Sie vor allem, dass die Kinder sehr lange gemeinsam gelernt haben. Aber ist es in der heutigen Bundesrepublik nicht illusionär, gegen das Gymnasium anzutreten?
Marina Münkler: Wir reden nicht einem eingliedrigen Bildungssystem das Wort. Aber das Schulsystem vor allem aus der Perspektive des Gymnasiums zu betrachten, finde ich unangemessen. Das Problem des Bildungssystems ist, dass aus den Schulen etwa vierzehn Prozent funktionale Analphabeten hervorgehen. Das wirft die Öffentlichkeit aber den Analphabeten vor und nicht der Institution. Vor Ihnen sitzt eine klassische sozialdemokratische Bildungsaufsteigerin, mit Grundschule, Realschule, und gymnasialer Oberstufe. Wenn man mir nicht gesagt hätte, was ich lernen soll, dann wäre ich untergegangen. Allein hätte ich das nicht geschafft, dazu waren die sozialen Voraussetzungen nicht da, außerdem mussten wir auf dem Bauernhof meines Onkels aushelfen. Ich brauchte die von der Schule ausgehende Autorität und die Bücher, die es bei uns nicht gab, um kapieren zu können, was an der Sache spannend ist. Und dass ich zwischendrin in der Realschule war, die dann Gesamtschule wurde, war eine große Hilfe. Dass es Kinder gibt, die in die Schule gehen und dort nichts lernen, und keiner fühlt sich dafür verantwortlich, das geht nicht. Das ist der eigentliche Bildungsskandal.
Ist die Selbstbeschreibung der Bundesrepublik als Wissensgesellschaft illusionär?
Marina Münkler: Für die Wissensgesellschaft ist zentral, dass man nicht ganze Gruppen und Schichten als Nicht-Wissende einfach zurücklässt. Das finde ich vollkommen indiskutabel. Man hat etwa über lange Jahre Kinder von Migranten eingeschult, die kein Wort Deutsch sprechen konnten, und hat gedacht, die müssten jetzt dem Unterricht folgen können. Das empört mich zutiefst. Es gibt niemanden, der nicht etwas lernen könnte. Meine Großeltern waren Bauern, aber natürlich konnten sie lesen, korrekt schreiben und ordentlich rechnen. Es kann mir niemand erzählen, dass es Kinder gibt, denen man das nicht beibringen kann. Daher müssen die finanziellen Mittel dorthin, wo die größte Not herrscht.
Heißt das Umverteilung der Mittel?
Herfried Münkler: Durchaus.
Marina Münkler: Auch wenn eine kürzlich veröffentlichte Umfrage ergeben hat, dass alle dafür sind, dass unten gefördert wird, wenn es aber ans Umverteilen geht, dann lieber doch nicht. Wir können uns als demokratische Gesellschaft nicht leisten, dass eine große Gruppe ausgeschlossen bleibt, die damit ihr Recht auf demokratische Teilhabe nicht wahrnehmen kann.
„Stattdessen herrscht jetzt
ein Politikstil, in dem
die Bürger als Kunden
apostrophiert werden.“
„Wie lange kann man
den Leuten auf dem Lande
eine miserable digitale
Infrastruktur zumuten?“
„Es gibt in dieser Gesellschaft soziale Abstiege, aber wir sind keine Abstiegsgesellschaft.“
Foto: imago/Westend61
Der Politikwissenschaftler
Herfried Münkler lehrte
bis 2018 an der Berliner
Humboldt-Universität.
Er veröffentlichte unter anderem
„Der Große Krieg“ und
„Der Dreißigjährige Krieg“.
Foto: Reiner Zensen
Die Literaturwissenschaftlerin
Marina Münkler lehrt an der
Technischen Universität Dresden.
Sie veröffentlichte unter anderem
„Marco Polo. Leben und Legende“ und
„Erfahrung des Fremden“.
Foto: Amac Garbe
Herfried Münkler, Marina Münkler:
Abschied vom Abstieg. Eine Agenda
für Deutschland. Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2019. 512 Seiten, 24 Euro.
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ist die Mitte“
Ein Gespräch über die Krise der liberalen Demokratie
und den wahren Bildungsskandal
INTERVIEW: JENS BISKY,
LOTHAR MÜLLER
Die neuen Deutschen“ hieß das Buch, in dem Marina und Herfried Münkler 2016 Gefahren und Möglichkeiten der Integration analysierten. In dieser Woche erscheint ihr neues Buch, das „Eine Agenda für Deutschland“ verspricht. Sie widersprechen darin linken Abstiegs- wie rechten Niedergangsszenarien.
SZ: Überall ist von Untergang, Katastrophen, Krisen die Rede. Zu Recht?
Herfried Münkler: Abstiegs- und Niedergangsnarrative spiegeln nicht unbedingt wieder, was der Fall ist. Oft dramatisieren sie Einzelbeobachtungen und verselbständigen sich. Unter ästhetischen Gesichtspunkten haben sie ihren Reiz, aber politisch wirken sie paralysierend, indem sie entweder in Apathie versetzen oder in hektische Aufgeregtheit.
Marina Münkler: Abstiegs- und Niedergangserzählungen sind natürlich nicht ohne Basis in der Realität, aber sie verdichten die Wahrnehmung von Realität, lösen sich leicht von faktischen Beobachtungen ab.
Inwiefern?
Herfried Münkler: Es gibt in dieser Gesellschaft soziale Abstiege, aber wir sind keine Abstiegsgesellschaft; es gibt Niedergänge, etwa den der Volksparteien oder der Gewerkschaften, aber keinen grundsätzlichen Niedergang des politischen Systems und des demokratischen Rechtsstaats. Narrative sind Wahrnehmungs- und Erzählmuster, die einzelne Beobachtungen zu generellen Entwicklungen machen. Im Kampf um Aufmerksamkeit haben sie eine größere Wirkung als eine differenzierte Betrachtung.
Ihre Kritik der Narrative klingt nach Entwarnung. Zugleich strahlt Ihr Buch den Eindruck aus, Produkt einer Krise zu sein, vor allem einer Krise der liberalen Demokratie.
Marina Münkler: Wir spielen nicht grundsätzlich die Welt des Faktischen gegen die Narrative aus. Dass Letztere so stark geworden sind, hat mit realen Krisenphänomenen zu tun. Aber diese lassen sich nur bearbeiten, wenn man erkennt, in welcher Weise bestimmte Erzählmuster die Lösungsperspektiven einschränken. Und Lösungsperspektiven sind zentral, deshalb konzentrieren wir uns auf die Felder liberale Demokratie und Rechtsstaat, Bildung und Europa.
Herfried Münkler: Die globale Dimension, den Klimawandel und den globalen Kapitalismus begreifen wir als Hintergrundvoraussetzungen, aber wir wollten uns auf das konzentrieren, was nationalstaatlich bearbeitbar, was agendafähig ist. Je globaler ein Problem ist, desto geringer wird der Einfluss der deutschen Politik, auch wenn viele das nicht so wahrnehmen, sondern glauben, mit demonstrative Akten die Welt verändern und retten zu können.
Und worin sehen Sie die Krise der liberalen Demokratie?
Herfried Münkler: Was wir bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg beobachtet haben und länger schon beobachten, könnte man als die Bildung von immer größeren Gruppen missmutiger Eckensteher beschreiben. Demokratie lebt aber davon, dass sie die Bildung solcher Gruppen verhindert und sie einbindet in das, was Max Weber „das starke langsame Bohren harter Bretter“ nennt. Stattdessen herrscht jetzt ein Politikstil, in dem die Bürger als Kunden apostrophiert werden, und die Politiker sind die Lieferanten und Produzenten. Die Formeln lauten dementsprechend: „die Politik hat geliefert“, „die Politik muss liefern“. Das ist eine verhängnisvolle Beschreibung, weil sie suggeriert, man könne sich hinstellen und warten, dass das, was man bestellt hat, bei der Wahl oder mit einem Internetkommentar, auch angeliefert wird.
Zur Bildung politischer Urteilskraft schlagen Sie lokale Bürgerkomitees vor. Ist das als Gegenmodell zu Volksabstimmungen gedacht?
Marina Münkler: Ja, als Gegenmodell zur plebiszitären Demokratie, der wir an den Stellen, wo man entscheiden kann, eine Mitwirkungsdemokratie entgegensetzen. Ausgangspunkt ist dabei der Raum des Kommunalen. Von ihm aus ist eine Mitwirkungsdemokratie zu denken. Die plebiszitäre Demokratie ist oft mit überzogenen, dramatischen Narrativen verknüpft.
Herfried Münkler: Der Vorschlag der Bürgerkomitees reagiert auch auf die Erosion der Parteien von den Wurzeln her. Die Frage ist ja, wo bekommt man die Leute her, um partizipative Politik zu machen? Die Bürgerkomitees sollen Befähigungsmaschinen sein, in denen Kompetenz aufgebaut werden kann.
Zur Besetzung der Bürgerkomitees schlagen Sie das Losverfahren vor. Wie soll das gehen?
Herfried Münkler: Wenn das Los entscheidet, können auch Leute zum Zuge kommen, die sich eine Kandidatur nicht zutrauen würden. Das Losverfahren knüpft ja durchaus an die klassische antike Tradition an, die durch das Los mit der staatsbürgerlichen Gleichheit Ernst machte.
Aber ist die aktuelle Lage dafür günstig? Sie kritisieren Abstiegs- und Niedergangserzählungen, gehen aber implizit selber von einer gespaltenen Gesellschaft aus.
Marina Münkler: Wir würden eher von einer polarisierten Gesellschaft sprechen. Spaltung hat eine etwas andere Konnotation als Polarisierung. Spaltung beziehen wir eher auf soziale Befunde, Polarisierung auf die politische Sphäre.
Herfried Münkler: Unsere Frage ist: Was sind die wirklich gefährlichen Spaltungen, und was ist der Hebel, gesellschaftliche Kohäsion, Zusammenhalt wieder zu organisieren? Wir sagen ausdrücklich nicht, das Problem sind die oberen fünf Prozent, die sich in einen ungeheuren Reichtum verabschiedet haben, oder die unteren fünfzehn Prozent, die sich aus der politischen Partizipation und von der Hoffnung, aufsteigen zu können, verabschiedet haben. Das Hauptproblem ist die Mitte, die Verwandlung der berühmten Zwiebel in eine Sanduhr, in der die Mitte der Mitte ganz schmal wird. Bei den Landtagswahlen wurde die hohe Wahlbeteiligung gerühmt, aber es waren ja nur 65 Prozent. Was ist mit denen, die gar nicht gewählt haben?
Marina Münkler: Ich kenne in Dresden ziemlich viele Leute, die fast noch nie wählen waren, die sagen, es ist nicht so schlecht, aber es ist jetzt auch nicht so, dass ich mich für irgendetwas entscheiden muss, es läuft irgendwie auch ohne mich.
Gegen das Lieferando-Modell der Demokratie setzen Sie das Gemeinwohl. Was verstehen Sie darunter?
Herfried Münkler: Natürlich kann in einer liberalen Demokratie keiner genau wissen, was das Gemeinwohl ist. Aber es muss so etwas wie ein „Als ob“ geben: Wir wollen uns so verhalten, als ob wir eine Vorstellung davon hätten, dass es ein Gemeinwohl gibt und dass es dafür eine Investitionsbereitschaft gibt, um nicht zu sagen Opferbereitschaft, im Hinblick auf den Zusammenhang.
Marina Münkler: Gemeinwohl ist ein Begriff, in dem unterschiedliche Interessen immer schon mitgedacht sind. Gerechtigkeit zum Beispiel ist ein Begriff, der sich gegen irgendjemanden richtet, der mich ungerecht behandelt oder dafür sorgt, dass es mir nicht so gut geht wie anderen. Gegen Gerechtigkeit kann man immer Leistung ausspielen, gewissermaßen komplementär herabsetzend. Das führt leicht zu dem Vorwurf, es gebe Leute, die etwas leisten, und andere die nichts leisten. Gemeinwohl hieße: Wir müssen uns vielleicht alle an Leistung orientieren, aber wir dürfen nicht von allen die gleiche Leistung erwarten. Eine Reihe von Begriffen sind invektiv aufgeladen, während Gemeinwohl die Vorstellung aufruft, dass es etwas gibt, das für alle etwas gemeinsam Gutes bedeutet.
Heißt das zum Beispiel: Seid vorsichtig mit der Vermögenssteuer?
Herfried Münkler: Ja, vorsichtig vor allem in der Art, wie man ein solches Projekt kommuniziert. Im Augenblick sieht das aus wie eine systematische Stigmatisierung derer, die sie zahlen sollen. Eine solche Stigmatisierung ist eine sehr unvernünftige Form, der man die Wahlmobilisierungsabsichten schon von Weitem ansieht. Man muss gar nicht in Abrede stellen, dass es Leute gibt, die einen größeren Beitrag leisten sollen als andere, aber wenn man sie in ein Art semantische Haft nimmt, dann ist das eine Form von Dummheit. Man müsste sie eher für das Gemeinwohl interessieren.
Und wie soll das ausverhandelt werden?
Herfried Münkler: Die diskursiven Verfahren sind entscheidend. Um das hervorzuheben, ersetzen wir in unserem Buch strategisch Volk durch Bürger und sprechen von der politischen Urteilskraft, die er haben muss. In der Antike wurde versucht, im Medium des Theaters politische Urteilskraft zu bilden. Mit dem Aufkommen der parlamentarischen Demokratie war das räsonierende Publikum verbunden, im Zusammenspiel von Buch als Wissensspeicher und der Zeitung als Medium der Aktualisierung. Ich kann im Augenblick noch nicht erkennen, wie unter den Bedingungen der Beschleunigung der Gegenwart durch die aktuellen Medien Funktionsäquivalente für diese Formate von Reflektiertheit und Bedenken zustande kommen können.
Marina Münkler: Wir versprechen uns viel von Bürgerbeteiligung. Deren mögliche Erfolge kann man zum Beispiel an den Bürgerversammlungen sehen, wie es sie kürzlich vor den Wahlen in Sachsen gegeben hat. Zu den Bürgerversammlungen kommen Leute, die nicht auf Parteiveranstaltungen gehen, es kommen auch solche, die ihren Unmut äußern. Da erfährt man schnell, dass die Menschen bessere öffentliche Verkehrsanbindungen wollen. Da werden Fragen laut: Wie lange kann man den Leuten auf dem Lande eine miserable digitale Infrastruktur zumuten? Wie lange haben die großen Parteien nicht auf die Abwanderungsprozesse im Osten reagiert? Warum sind die Schulen so schlecht ausgestattet? Wichtig wäre aber, dass man solche Unmutsäußerungen in tatsächlich bearbeitbare Projekte überführt, an denen die Bürger sich beteiligen können.
Sie verbinden Ihre Analyse der gegenwärtigen Bildungskrise mit einem Rückblick auf das Schulsystem der DDR, das 1989 bei einer Mehrheit verhasst war. Warum?
Marina Münkler: Ein Teil der Unzufriedenheit, die wir heute in Ostdeutschland haben, resultiert auch daraus, dass damals bei der Wiedervereinigung das Bildungssystem der DDR ziemlich schnell plattgemacht worden ist, ohne dass gefragt wurde, was davon man hätte gebrauchen können. Im Schnelltempo sind die Gymnasien eingeführt worden, schon allein für die Kinder der Beamten, die damals in die neuen Bundesländer gegangen sind. Es gibt eine Menge, was man am Bildungssystem der DDR kritisieren kann, zum Beispiel, dass es mit dem sozialen Aufstieg über das Bildungssystem dort auch nicht gut geklappt hat. Man kann aber andererseits nicht bestreiten, dass ein System mit einer Gemeinschaftsschule für die meisten denkmöglich war, ohne dass man sagen könnte, dabei seien komplett ungebildete Leute herausgekommen.
Herfried Münkler: Die Probleme, die wir derzeit haben, etwa die Schwächen in Rechtschreibung und Lesefähigkeit, haben auch mit einer mittelschichtorientierten Pädagogik zu tun, die darauf setzt, dass die Eltern alles ausgleichen, was die Schule nicht schafft.
Am DDR-Schulsystem interessiert Sie vor allem, dass die Kinder sehr lange gemeinsam gelernt haben. Aber ist es in der heutigen Bundesrepublik nicht illusionär, gegen das Gymnasium anzutreten?
Marina Münkler: Wir reden nicht einem eingliedrigen Bildungssystem das Wort. Aber das Schulsystem vor allem aus der Perspektive des Gymnasiums zu betrachten, finde ich unangemessen. Das Problem des Bildungssystems ist, dass aus den Schulen etwa vierzehn Prozent funktionale Analphabeten hervorgehen. Das wirft die Öffentlichkeit aber den Analphabeten vor und nicht der Institution. Vor Ihnen sitzt eine klassische sozialdemokratische Bildungsaufsteigerin, mit Grundschule, Realschule, und gymnasialer Oberstufe. Wenn man mir nicht gesagt hätte, was ich lernen soll, dann wäre ich untergegangen. Allein hätte ich das nicht geschafft, dazu waren die sozialen Voraussetzungen nicht da, außerdem mussten wir auf dem Bauernhof meines Onkels aushelfen. Ich brauchte die von der Schule ausgehende Autorität und die Bücher, die es bei uns nicht gab, um kapieren zu können, was an der Sache spannend ist. Und dass ich zwischendrin in der Realschule war, die dann Gesamtschule wurde, war eine große Hilfe. Dass es Kinder gibt, die in die Schule gehen und dort nichts lernen, und keiner fühlt sich dafür verantwortlich, das geht nicht. Das ist der eigentliche Bildungsskandal.
Ist die Selbstbeschreibung der Bundesrepublik als Wissensgesellschaft illusionär?
Marina Münkler: Für die Wissensgesellschaft ist zentral, dass man nicht ganze Gruppen und Schichten als Nicht-Wissende einfach zurücklässt. Das finde ich vollkommen indiskutabel. Man hat etwa über lange Jahre Kinder von Migranten eingeschult, die kein Wort Deutsch sprechen konnten, und hat gedacht, die müssten jetzt dem Unterricht folgen können. Das empört mich zutiefst. Es gibt niemanden, der nicht etwas lernen könnte. Meine Großeltern waren Bauern, aber natürlich konnten sie lesen, korrekt schreiben und ordentlich rechnen. Es kann mir niemand erzählen, dass es Kinder gibt, denen man das nicht beibringen kann. Daher müssen die finanziellen Mittel dorthin, wo die größte Not herrscht.
Heißt das Umverteilung der Mittel?
Herfried Münkler: Durchaus.
Marina Münkler: Auch wenn eine kürzlich veröffentlichte Umfrage ergeben hat, dass alle dafür sind, dass unten gefördert wird, wenn es aber ans Umverteilen geht, dann lieber doch nicht. Wir können uns als demokratische Gesellschaft nicht leisten, dass eine große Gruppe ausgeschlossen bleibt, die damit ihr Recht auf demokratische Teilhabe nicht wahrnehmen kann.
„Stattdessen herrscht jetzt
ein Politikstil, in dem
die Bürger als Kunden
apostrophiert werden.“
„Wie lange kann man
den Leuten auf dem Lande
eine miserable digitale
Infrastruktur zumuten?“
„Es gibt in dieser Gesellschaft soziale Abstiege, aber wir sind keine Abstiegsgesellschaft.“
Foto: imago/Westend61
Der Politikwissenschaftler
Herfried Münkler lehrte
bis 2018 an der Berliner
Humboldt-Universität.
Er veröffentlichte unter anderem
„Der Große Krieg“ und
„Der Dreißigjährige Krieg“.
Foto: Reiner Zensen
Die Literaturwissenschaftlerin
Marina Münkler lehrt an der
Technischen Universität Dresden.
Sie veröffentlichte unter anderem
„Marco Polo. Leben und Legende“ und
„Erfahrung des Fremden“.
Foto: Amac Garbe
Herfried Münkler, Marina Münkler:
Abschied vom Abstieg. Eine Agenda
für Deutschland. Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2019. 512 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sich aus dem Debatten-Würgegriff der Untergangspropheten zu befreien, wäre ein wichtiger Schritt. Dieses Buch gibt viele Anstöße dazu. Tim Schleider Stuttgarter Zeitung 20191012