Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2003Der Schandfleck
Christian Nickel liest aus Peter Weiss' "Abschied von den Eltern"
Die Frankfurter haben ein kurzes Gedächtnis. Sonst wäre der Arkadensaal im Goethe-Museum wohl ausverkauft gewesen, als Christian Nickel, Frankfurts umjubelter Peer Gynt und Peter Steins Faust, dort wieder zu Gast war. Oder war es der Prosa-Text von Peter Weiss, der das Publikum abschreckte? Christoph Perels, der scheidende Direktor des Freien Deutschen Hochstifts, hatte den Schauspieler auf die beiden autobiographischen Bände in der Bibliothek Suhrkamp aufmerksam gemacht: Die Erzählung "Abschied von den Eltern" und der Roman "Fluchtpunkt" sind über den berühmten Stücken und der "Ästhetik" des Autors weitgehend in Vergessenheit geraten. Nickel, der in dieser Spielzeit in drei Rollen am Münchner Residenztheater gastiert, entschied sich für den älteren der beiden Texte, mit dem der Maler Weiss seinen Förderer Hermann Hesse auch von seinen literarischen Fähigkeiten überzeugte.
"Abschied von den Eltern" ist 1961 erschienen. Anlaß war "die Erkenntnis eines gänzlich mißglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte lang beieinander ausgeharrt hatten", bekennt Weiss. Dies wurde ihm nach dem Tod des Vaters bewußt, der die Mutter nicht lange überlebte. Als "Portalfiguren" seines Lebens schildert Weiss (1916 bis 1982) das allzu selbstbewußte Elternpaar: den Vater, einen tatkräftigen jüdischen Textilfabrikanten, der seiner Familie auch im Londoner, Prager und im schwedischen Exil eine sichere Existenz bieten konnte, und die Mutter, eine ehemalige Schauspielerin, deren Gesicht sich immer wieder in eine "Wolfsfratze" zu verwandeln schien. Anziehung und Abstoßung kennzeichnen die Beziehung des hypersensiblen Sohnes zu seinen Eltern, von denen er sich weder verstanden fühlte noch zu lösen vermochte.
Leitmotiv des Textes ist das "selbstgewählte Exil". Im ersten Elternhaus war es die Laube im Garten, im zweiten der Dachboden, auf den sich der Sohn zurückzog, um seinen Phantasien freien Lauf zu lassen. Nachtgespenster und dominante Freunde suchen ihn heim, die Pubertät setzt masochistische und inzestuöse Sehnsüchte frei, bis der Vater ihn von der Träumerei in die "Realität des Daseins" zwingt. Doch der Sohn versagt als Lehrling im Warenhaus und Volontär im Kontor des Vaters. Weiss flüchtet erst in die Musik, dann in die Malerei, aber seine Mutter fürchtet seine düsteren Bilder. Mit dem Tod der Schwester beginnt die Auflösung der Familie schon vor der Emigration. In ihrer Mitte fühlt sich das erzählende Ich als "Schandfleck", der immer wieder von den Eltern aufpoliert werden muß, weil er mit sich selbst nicht fertig werden kann.
Es ist ein ätzender Text: obsessiv in seiner Thematik, manisch in der narzißtischen Nabelschau und schonungslos in der Selbst-Analyse. Ähnlich wie Kafkas "Brief an den Vater" gibt sich diese Erzählung als Dokument einer Selbstbefreiung, nur daß Weiss den befreienden Akt beim Verfassen des Textes schon 20 Jahre hinter sich hatte. Nickel hat die 170 Seiten auf anderthalb Stunden Lesezeit kondensiert und ihnen soviel Leben wie möglich abgerungen. Vor allem hat er dem neurotischen Wühlen eines hypertrophen Ichs im infantilen Sumpf die Schwerkraft genommen und der verquälten Selbsttherapie Frische eingehaucht. Um diesen Text lesend zu verkraften, muß man wohl mindestens so dickfellig sein wie seine "Portalfiguren".
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christian Nickel liest aus Peter Weiss' "Abschied von den Eltern"
Die Frankfurter haben ein kurzes Gedächtnis. Sonst wäre der Arkadensaal im Goethe-Museum wohl ausverkauft gewesen, als Christian Nickel, Frankfurts umjubelter Peer Gynt und Peter Steins Faust, dort wieder zu Gast war. Oder war es der Prosa-Text von Peter Weiss, der das Publikum abschreckte? Christoph Perels, der scheidende Direktor des Freien Deutschen Hochstifts, hatte den Schauspieler auf die beiden autobiographischen Bände in der Bibliothek Suhrkamp aufmerksam gemacht: Die Erzählung "Abschied von den Eltern" und der Roman "Fluchtpunkt" sind über den berühmten Stücken und der "Ästhetik" des Autors weitgehend in Vergessenheit geraten. Nickel, der in dieser Spielzeit in drei Rollen am Münchner Residenztheater gastiert, entschied sich für den älteren der beiden Texte, mit dem der Maler Weiss seinen Förderer Hermann Hesse auch von seinen literarischen Fähigkeiten überzeugte.
"Abschied von den Eltern" ist 1961 erschienen. Anlaß war "die Erkenntnis eines gänzlich mißglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte lang beieinander ausgeharrt hatten", bekennt Weiss. Dies wurde ihm nach dem Tod des Vaters bewußt, der die Mutter nicht lange überlebte. Als "Portalfiguren" seines Lebens schildert Weiss (1916 bis 1982) das allzu selbstbewußte Elternpaar: den Vater, einen tatkräftigen jüdischen Textilfabrikanten, der seiner Familie auch im Londoner, Prager und im schwedischen Exil eine sichere Existenz bieten konnte, und die Mutter, eine ehemalige Schauspielerin, deren Gesicht sich immer wieder in eine "Wolfsfratze" zu verwandeln schien. Anziehung und Abstoßung kennzeichnen die Beziehung des hypersensiblen Sohnes zu seinen Eltern, von denen er sich weder verstanden fühlte noch zu lösen vermochte.
Leitmotiv des Textes ist das "selbstgewählte Exil". Im ersten Elternhaus war es die Laube im Garten, im zweiten der Dachboden, auf den sich der Sohn zurückzog, um seinen Phantasien freien Lauf zu lassen. Nachtgespenster und dominante Freunde suchen ihn heim, die Pubertät setzt masochistische und inzestuöse Sehnsüchte frei, bis der Vater ihn von der Träumerei in die "Realität des Daseins" zwingt. Doch der Sohn versagt als Lehrling im Warenhaus und Volontär im Kontor des Vaters. Weiss flüchtet erst in die Musik, dann in die Malerei, aber seine Mutter fürchtet seine düsteren Bilder. Mit dem Tod der Schwester beginnt die Auflösung der Familie schon vor der Emigration. In ihrer Mitte fühlt sich das erzählende Ich als "Schandfleck", der immer wieder von den Eltern aufpoliert werden muß, weil er mit sich selbst nicht fertig werden kann.
Es ist ein ätzender Text: obsessiv in seiner Thematik, manisch in der narzißtischen Nabelschau und schonungslos in der Selbst-Analyse. Ähnlich wie Kafkas "Brief an den Vater" gibt sich diese Erzählung als Dokument einer Selbstbefreiung, nur daß Weiss den befreienden Akt beim Verfassen des Textes schon 20 Jahre hinter sich hatte. Nickel hat die 170 Seiten auf anderthalb Stunden Lesezeit kondensiert und ihnen soviel Leben wie möglich abgerungen. Vor allem hat er dem neurotischen Wühlen eines hypertrophen Ichs im infantilen Sumpf die Schwerkraft genommen und der verquälten Selbsttherapie Frische eingehaucht. Um diesen Text lesend zu verkraften, muß man wohl mindestens so dickfellig sein wie seine "Portalfiguren".
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Peter Weiss hat wenige Leser, aber große Wirkungen.« DER SPIEGEL