Reinhard Jirgl erzählt in seinem Roman vom Spiel mit der Wahrheit und der Wirklichkeit, vom Verschwinden alter Sicherheiten, vom Verlust des Aufgehobenseins und der vertrauten Orte. Dabei umfaßt Jirgls Buch die deutsche Geschichte von der Nachkriegszeit bis zum Anfang der neunziger Jahre.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.1995Gehege des Absterbens
Reinhard Jirgls DDR-Metamorphosen · Von Gustav Seibt
Die Lektüre von Reinhard Jirgls Roman ist Marter und soll es sein. Er enthält ein grausam ausgemaltes Kompendium aller Scheußlichkeiten der untergegangenen DDR, poetisch gesteigert zu einem grandiosen Bild vom Unglück aller menschlichen Geschichte. Suchte man ein ästhetisches Pendant zu dieser Prosa, dann müßte man an den expressiv verzerrten Realismus der wie Gedärme vollgestopften Apokalypsen eines Bernhard Heisig erinnern. Ähnlich kunstvoll und überladen ist Jirgls Buch. Es verwandelt die DDR in eine Tropenlandschaft von Verwesung, Angst und Häßlichkeit. "Was zum Atmen blieb, legte sich wie eine schwere Hand vor Mund & Nase. Manchmal, aus schmutzig-gilben Wolken, 1zelne Regentropfen; sie waren verdunstet noch vorm Berühren von Pflaster & Asfalt, staubigen, fettigen Tentakeln in den Schattierungen von Grau, Stein, der hier verwelken konnte (.), Luft geklebt an porige Häuserschluchten, darauf ein Himmel sich legte, ringend nach Atemluft selber."
Jirgl hat viel dafür getan, die Lektüre zu erschweren. Die eigenwillige, an Arno Schmidt erinnernde Orthographie ist noch das geringste Hemmnis. Krause Satzbaupläne, Metapherngebirge, beständige Wechsel der Erzählperspektiven, eine nichtlineare, sprunghafte Stoffverteilung, musikalische Motivtechniken verlangen vom Leser ununterbrochen höchste Aufmerksamkeit. Der Text huldigt dem modernen Ideal, die Wahrnehmung komplett zu entautomatisieren. Wer hier schnell voranlesen will, muß sich fühlen wie ein Sprinter unter Wasser, dem sich ein ungewohnt schweres Element entgegendrängt.
Die angestrengte Künstlichkeit von Jirgls literarischen Techniken macht einen Stoff erträglich, dessen Schrecklichkeit in geradliniger Erzählung wie aufdringliche Kolportage wirken müßte. Offenbar ist die wichtigste Funktion der Handlung die Erzeugung von ausgesucht grauenhaften Einzelsituationen, die wiederum schwerste stilistische Geschütze rechtfertigen sollen. Jirgl erzählt von zwei Brüdern, deren Vater, ein ehemaliger SS-Offizier, sich in den Westen absetzte, worauf die Mutter in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde. Die Brüder kommen erst ins Heim, dann zu Adoptiveltern, vertriebenen Sudetendeutschen, die lebenslang auf ihre Rückkehr in die Heimat hoffen. Später verlieben die Brüder sich in dieselbe Frau; der ältere geht in den Westen, der jüngere bleibt, nachdem er Stasispitzel geworden ist und Bruder und Freundin verraten hat. Die Frau heiratet einen reichen Stasiarzt, trennt sich von ihm, wird in eine Irrenanstalt eingewiesen, worauf ihre beiden Kinder zur Adoption freigegeben werden. Am Ende, nach der Öffnung der Grenze, wird sie ermordet, und zwar von dem älteren der beiden einst in sie verliebten Brüder.
Man geniert sich, ein solche Häufung von Furchtbarkeiten aus der jüngeren deutschen Geschichte nachzuerzählen. Das die Handlung organisierende Muster ist freilich denkbar einfach: Alle menschlichen Beziehungen, und gerade die engsten, werden in ihr höhnisches Gegenteil verkehrt: Kinder werden ihren Eltern fremd, Liebende hassen und verfolgen einander, und all dies wiederholt sich sinnlos und ewig. Jirgls eigentliche Kunst besteht in der Ausmalung solcher Situationen äußersten Leids, vor allem kindlicher Schrecken. Die Trennung der beiden Brüder von ihrer Mutter und ihre Verlorenheit im Kinderheim beschreibt er mit einer Eindrücklichkeit, die manchem Leser unerträglich scheinen wird. Immer wieder kehren die Erinnerungen der Romanfiguren zu diesen Momenten des Schreckens zurück. Sie werden dabei auch im Gedächtnis des Lesers zu einer Art ewiger Gegenwart. Jirgl schichtet poetische Vergleiche übereinander wie Proust; aber nicht die Rückgewinnung einer verlorenen Zeit und eines vergangenen Glücks ist sein Ziel, sondern die Bannung eines immer präsenten Terrors. Nicht nur stilistisch ist der Roman schwer, sondern auch stofflich. Das Unglück erscheint in ihm so verdickt wie ein Sirup, den man nur ertragen kann, indem man ihn mit viel Wasser verdünnt. Das Wasser ist hier die eigene Lebenszeit, die der Leser durch seine Langsamkeit in den Text kippt.
Der Kinderblick ist die Stärke von Jirgls Beschreibungskunst. Einsame, unglückliche Kinder halten sich an stummen Dingen fest. An den Dingen liest Jirgl seine Unheilsgeschichte ab. Ein glücklicher Moment des Waisenkindes ist die Betrachtung eines rissigen Ölanstrichs über seinem Krankenbett mit "tief in die fettig schimmernde Farbschicht sich brechenden Rissen als wären hauchdünne Blitzstrahlen dort-oben erfroren. Dahinter, hinter diesen schwarzen Aufbrüchen, dort würde er sein Versteck einrichten können: dort würde er sein können, unentdeckt-unbeteiligt-unzerstört von allen diesen Anderen." Von so mikroskopischen Aufnahmen ist das Buch voll, und diese Entdeckerkraft im sonst immer stummen Detail ist die eigentliche Ursache seiner Intensität. Noch den gegenwärtigen ökonomischen Umbruch in den neuen Ländern bringt Jirgl in seine gegenständliche Zeichensprache: "Die Fassaden okkupiert von Ranken & Fähnchen & den Schriftzügen einer frisch aufgerissenen Grellheit - in beißenden Farbdämpfen schwitzend neu Renoviertes - einer flakkernd vorgetäuschten Lebendigkeit."
Die zweite Stärke dieser Prosa ist eine höhnische, sophistisch überzogene Beredsamkeit, mit der die historischen Phänomene des DDR-Unheils gedeutet werden. "In 1 Land wie diesem", sagt der ältere der beiden Brüder in einem für den jüngeren, den Spitzel, bestimmten Tagebuch, "wo das 1zige Gebot & die einzig wirkliche Gefahr die fortwährende Aufforderung zum Einschlafen darstellt, kann der Zweite Hunger - nach seinem ersten Hunger, dem Hunger nach Brot, gilt der zweite Hunger dem Wissen - nur Sättigung finden im Kannibalismus. Fehlendes eigenes Leben muß ersetzt werden durch fremdes Leben, das Fleisch & die Gelüste des Nächsten im Gehege des Absterbens." Wie eine Sinuskurve umspielt Jirgls Sprache die ausgesparte Mitte des herkömmlichen pragmatischen Erzählens: Die Kurvenausschläge oszillieren zwischen den Polen der lyrischen kindlichen Nahsicht und dem überschlauen, verzweifelten Scharfsinn.
Jirgls Grundton ist ein einzelgängerischer, expressiver Pessimismus, der in der deutschen Nachkriegsliteratur seine Parallelen am ehesten bei Arno Schmidt und Heiner Müller findet. Seine Galligkeit ist der abgelagerte Schmerz dessen, der in der DDR Buch um Buch für die Schublade schreiben mußte. Um das von ihm dargestellte jüngste Unheil ins Allgemeine zu heben, hat Jirgl eine zusätzliche Ebene eingebaut: Er läßt seine Hauptfiguren sich an ein Buch erinnern, das die Eroberung Südamerikas durch die Conquistadoren beschreibt. Die in Angst, Armut und Verrat verwesende DDR-Wirklichkeit wird gespiegelt in der Grausamkeit eines Völkermords vor der Kulisse einer ebenso fruchtbaren wie selbstzerstörerischen Natur. Die Luft von Aas und Fäulnis, von Folter und Blut liegt über dem ganzen Buch, verkörpert in jenen Fliegenschwärmen, die mit leitmotivischer Regelmäßigkeit an allen Orten des Romans aufsteigen.
Jirgls Text wäre unerträglich, würde die Kraßheit seiner Verfalls- und Leidensbilder nicht ausgeglichen durch einen Lyrismus, der seine Gegenstände in Luftstimmungen, Abendlichtern, Landschaften und Pflanzen findet wie das unglückliche Kind in den Rissen des Ölanstrichs. In zerreißendem Konstrast steht solche Naturdichtung etwa zwischen den Erinnerungen an Anstalten und Elektroschocks: "Es war ein früh reifendes Frühjahr, manch 1 Stunde schien bereits aus Sommer. So spannte Hollunder schon seine vielhundertfachen hellen Schirmchen aus u entwarf über Wiesen & Feldern eine Kuppel berauschenden Dufts. (.) Rasch wendete er den Blick dorthin, wo Feld an Feld sich reihte, von Baumsäumen in geraden Nähten aneinandergefügt, darüber groß die blauen Himmelsfahnen sich bauschend, Wind schob Wolkenwappen hinein."
Am Ende verliert sich die reinste Figur des Buches, der ältere der beiden Brüder, in einem verlassenen, evakuierten Dorf seiner Kindheit nahe beim einstigen Todesstreifen, das die Natur wieder verschluckt. Hier will auch er vom Erdboden verschwinden, zurückkehren in die Materie und nur noch als Schatten, als ein blinder Fleck überdauern. "Der würde bleiben", lautet der letzte höhnische Satz des Buches. Reinhard Jirgls starke Prosa wird der DDR ein deutlicheres Nachleben sichern.
Reinhard Jirgl: "Abschied von den Feinden". Roman. Carl Hanser Verlag, München 1995. 328 S, geb., 39,80 DM.
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Reinhard Jirgls DDR-Metamorphosen · Von Gustav Seibt
Die Lektüre von Reinhard Jirgls Roman ist Marter und soll es sein. Er enthält ein grausam ausgemaltes Kompendium aller Scheußlichkeiten der untergegangenen DDR, poetisch gesteigert zu einem grandiosen Bild vom Unglück aller menschlichen Geschichte. Suchte man ein ästhetisches Pendant zu dieser Prosa, dann müßte man an den expressiv verzerrten Realismus der wie Gedärme vollgestopften Apokalypsen eines Bernhard Heisig erinnern. Ähnlich kunstvoll und überladen ist Jirgls Buch. Es verwandelt die DDR in eine Tropenlandschaft von Verwesung, Angst und Häßlichkeit. "Was zum Atmen blieb, legte sich wie eine schwere Hand vor Mund & Nase. Manchmal, aus schmutzig-gilben Wolken, 1zelne Regentropfen; sie waren verdunstet noch vorm Berühren von Pflaster & Asfalt, staubigen, fettigen Tentakeln in den Schattierungen von Grau, Stein, der hier verwelken konnte (.), Luft geklebt an porige Häuserschluchten, darauf ein Himmel sich legte, ringend nach Atemluft selber."
Jirgl hat viel dafür getan, die Lektüre zu erschweren. Die eigenwillige, an Arno Schmidt erinnernde Orthographie ist noch das geringste Hemmnis. Krause Satzbaupläne, Metapherngebirge, beständige Wechsel der Erzählperspektiven, eine nichtlineare, sprunghafte Stoffverteilung, musikalische Motivtechniken verlangen vom Leser ununterbrochen höchste Aufmerksamkeit. Der Text huldigt dem modernen Ideal, die Wahrnehmung komplett zu entautomatisieren. Wer hier schnell voranlesen will, muß sich fühlen wie ein Sprinter unter Wasser, dem sich ein ungewohnt schweres Element entgegendrängt.
Die angestrengte Künstlichkeit von Jirgls literarischen Techniken macht einen Stoff erträglich, dessen Schrecklichkeit in geradliniger Erzählung wie aufdringliche Kolportage wirken müßte. Offenbar ist die wichtigste Funktion der Handlung die Erzeugung von ausgesucht grauenhaften Einzelsituationen, die wiederum schwerste stilistische Geschütze rechtfertigen sollen. Jirgl erzählt von zwei Brüdern, deren Vater, ein ehemaliger SS-Offizier, sich in den Westen absetzte, worauf die Mutter in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde. Die Brüder kommen erst ins Heim, dann zu Adoptiveltern, vertriebenen Sudetendeutschen, die lebenslang auf ihre Rückkehr in die Heimat hoffen. Später verlieben die Brüder sich in dieselbe Frau; der ältere geht in den Westen, der jüngere bleibt, nachdem er Stasispitzel geworden ist und Bruder und Freundin verraten hat. Die Frau heiratet einen reichen Stasiarzt, trennt sich von ihm, wird in eine Irrenanstalt eingewiesen, worauf ihre beiden Kinder zur Adoption freigegeben werden. Am Ende, nach der Öffnung der Grenze, wird sie ermordet, und zwar von dem älteren der beiden einst in sie verliebten Brüder.
Man geniert sich, ein solche Häufung von Furchtbarkeiten aus der jüngeren deutschen Geschichte nachzuerzählen. Das die Handlung organisierende Muster ist freilich denkbar einfach: Alle menschlichen Beziehungen, und gerade die engsten, werden in ihr höhnisches Gegenteil verkehrt: Kinder werden ihren Eltern fremd, Liebende hassen und verfolgen einander, und all dies wiederholt sich sinnlos und ewig. Jirgls eigentliche Kunst besteht in der Ausmalung solcher Situationen äußersten Leids, vor allem kindlicher Schrecken. Die Trennung der beiden Brüder von ihrer Mutter und ihre Verlorenheit im Kinderheim beschreibt er mit einer Eindrücklichkeit, die manchem Leser unerträglich scheinen wird. Immer wieder kehren die Erinnerungen der Romanfiguren zu diesen Momenten des Schreckens zurück. Sie werden dabei auch im Gedächtnis des Lesers zu einer Art ewiger Gegenwart. Jirgl schichtet poetische Vergleiche übereinander wie Proust; aber nicht die Rückgewinnung einer verlorenen Zeit und eines vergangenen Glücks ist sein Ziel, sondern die Bannung eines immer präsenten Terrors. Nicht nur stilistisch ist der Roman schwer, sondern auch stofflich. Das Unglück erscheint in ihm so verdickt wie ein Sirup, den man nur ertragen kann, indem man ihn mit viel Wasser verdünnt. Das Wasser ist hier die eigene Lebenszeit, die der Leser durch seine Langsamkeit in den Text kippt.
Der Kinderblick ist die Stärke von Jirgls Beschreibungskunst. Einsame, unglückliche Kinder halten sich an stummen Dingen fest. An den Dingen liest Jirgl seine Unheilsgeschichte ab. Ein glücklicher Moment des Waisenkindes ist die Betrachtung eines rissigen Ölanstrichs über seinem Krankenbett mit "tief in die fettig schimmernde Farbschicht sich brechenden Rissen als wären hauchdünne Blitzstrahlen dort-oben erfroren. Dahinter, hinter diesen schwarzen Aufbrüchen, dort würde er sein Versteck einrichten können: dort würde er sein können, unentdeckt-unbeteiligt-unzerstört von allen diesen Anderen." Von so mikroskopischen Aufnahmen ist das Buch voll, und diese Entdeckerkraft im sonst immer stummen Detail ist die eigentliche Ursache seiner Intensität. Noch den gegenwärtigen ökonomischen Umbruch in den neuen Ländern bringt Jirgl in seine gegenständliche Zeichensprache: "Die Fassaden okkupiert von Ranken & Fähnchen & den Schriftzügen einer frisch aufgerissenen Grellheit - in beißenden Farbdämpfen schwitzend neu Renoviertes - einer flakkernd vorgetäuschten Lebendigkeit."
Die zweite Stärke dieser Prosa ist eine höhnische, sophistisch überzogene Beredsamkeit, mit der die historischen Phänomene des DDR-Unheils gedeutet werden. "In 1 Land wie diesem", sagt der ältere der beiden Brüder in einem für den jüngeren, den Spitzel, bestimmten Tagebuch, "wo das 1zige Gebot & die einzig wirkliche Gefahr die fortwährende Aufforderung zum Einschlafen darstellt, kann der Zweite Hunger - nach seinem ersten Hunger, dem Hunger nach Brot, gilt der zweite Hunger dem Wissen - nur Sättigung finden im Kannibalismus. Fehlendes eigenes Leben muß ersetzt werden durch fremdes Leben, das Fleisch & die Gelüste des Nächsten im Gehege des Absterbens." Wie eine Sinuskurve umspielt Jirgls Sprache die ausgesparte Mitte des herkömmlichen pragmatischen Erzählens: Die Kurvenausschläge oszillieren zwischen den Polen der lyrischen kindlichen Nahsicht und dem überschlauen, verzweifelten Scharfsinn.
Jirgls Grundton ist ein einzelgängerischer, expressiver Pessimismus, der in der deutschen Nachkriegsliteratur seine Parallelen am ehesten bei Arno Schmidt und Heiner Müller findet. Seine Galligkeit ist der abgelagerte Schmerz dessen, der in der DDR Buch um Buch für die Schublade schreiben mußte. Um das von ihm dargestellte jüngste Unheil ins Allgemeine zu heben, hat Jirgl eine zusätzliche Ebene eingebaut: Er läßt seine Hauptfiguren sich an ein Buch erinnern, das die Eroberung Südamerikas durch die Conquistadoren beschreibt. Die in Angst, Armut und Verrat verwesende DDR-Wirklichkeit wird gespiegelt in der Grausamkeit eines Völkermords vor der Kulisse einer ebenso fruchtbaren wie selbstzerstörerischen Natur. Die Luft von Aas und Fäulnis, von Folter und Blut liegt über dem ganzen Buch, verkörpert in jenen Fliegenschwärmen, die mit leitmotivischer Regelmäßigkeit an allen Orten des Romans aufsteigen.
Jirgls Text wäre unerträglich, würde die Kraßheit seiner Verfalls- und Leidensbilder nicht ausgeglichen durch einen Lyrismus, der seine Gegenstände in Luftstimmungen, Abendlichtern, Landschaften und Pflanzen findet wie das unglückliche Kind in den Rissen des Ölanstrichs. In zerreißendem Konstrast steht solche Naturdichtung etwa zwischen den Erinnerungen an Anstalten und Elektroschocks: "Es war ein früh reifendes Frühjahr, manch 1 Stunde schien bereits aus Sommer. So spannte Hollunder schon seine vielhundertfachen hellen Schirmchen aus u entwarf über Wiesen & Feldern eine Kuppel berauschenden Dufts. (.) Rasch wendete er den Blick dorthin, wo Feld an Feld sich reihte, von Baumsäumen in geraden Nähten aneinandergefügt, darüber groß die blauen Himmelsfahnen sich bauschend, Wind schob Wolkenwappen hinein."
Am Ende verliert sich die reinste Figur des Buches, der ältere der beiden Brüder, in einem verlassenen, evakuierten Dorf seiner Kindheit nahe beim einstigen Todesstreifen, das die Natur wieder verschluckt. Hier will auch er vom Erdboden verschwinden, zurückkehren in die Materie und nur noch als Schatten, als ein blinder Fleck überdauern. "Der würde bleiben", lautet der letzte höhnische Satz des Buches. Reinhard Jirgls starke Prosa wird der DDR ein deutlicheres Nachleben sichern.
Reinhard Jirgl: "Abschied von den Feinden". Roman. Carl Hanser Verlag, München 1995. 328 S, geb., 39,80 DM.
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