Produktdetails
- Dietz Taschenbücher Bd.77
- Verlag: Dietz, Bonn
- 1997.
- Deutsch
- Abmessung: 190mm
- Gewicht: 216g
- ISBN-13: 9783801230777
- ISBN-10: 3801230775
- Artikelnr.: 06769540
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.1997Thatcher ohne Handtasche
England, Blair, Europa / Politische Taschenbücher
Dominic Johnson: Abschied von der Insel? Großbritannien im Wandel. Dietz Taschenbuch 77. Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 1997. 212 Seiten, 24,80 Mark.
Peter Nonnenmacher: Insel sucht Anschluß. Wohin treibt Großbritannien? Fischer Sachbuch, Band 13289. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 224 Seiten, 19,80 Mark.
Für die meisten Verlage ist der Ärmelkanal breiter als der Atlantik. Während die Herbst- und Frühjahrsproduktionen ohne Bücher zu Amerika nicht auszukommen scheinen, sind politische Werke über England selten. Bis heute etwa fehlt eine Gesamtdarstellung der deutsch-britischen Beziehungen, und auf eine Studie über Margaret Thatcher wird man hierzulande wohl noch warten müssen.
Der Dietz-Verlag läßt sich dennoch nicht entmutigen. Zwar hat er keine umfassende Analyse der britischen Gesellschaft veröffentlicht, dafür aber die scharfsichtigen Beobachtungen eines Journalisten. Ein erfreulicher Beschluß, denn der Blick auf die Insel lohnt, nicht nur, weil man von der "Mutter der Demokratie" lernen kann, sondern weil sich England von Krankheiten befreit hat, die Deutschland noch immer heimsuchen, wie Subventionierungssucht, Realitätsverlust und Diarrhö im Gesetzgebungs- und Verordnungstrakt.
Mit eisernem Willen und einigem Glück könnte die Bundesrepublik von morgen das England der Gegenwart werden, glaubt Dominic Johnson und erläutert, wie Margaret Thatcher den "kranken Mann Europas" in einen Berserker verwandelte. Gleich nach ihrem Einzug in Downing Street ging die Premierministerin daran, das unter Arbeitslosigkeit stöhnende, durch die Streikwut der Gewerkschaften geschwächte Land von Grund auf zu verändern. Thatcher brach die Macht der Arbeitnehmerverbände, zerschlug die staatlichen Konzerne und entzog dem Sozialsystem einen Großteil der Mittel. Fortan sollte jeder auf eigenen Beinen stehen. "So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht", zitiert Johnson den Kernsatz ihrer Ideologie, "es gibt nur einzelne, und es gibt Familien."
Ihnen galt Margaret Thatchers Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund senkte sie sämtliche direkten Steuern und ließ die meisten Sozialbauwohnungen zu Billigpreisen veräußern. Der breitgestreute Immobilienverkauf verhalf zahlreichen Briten zu bescheidenem Wohlstand und machte aus der Insel eine "Demokratie von Eigentümern", in der heute 85 Prozent aller Erwerbstätigen in den eigenen vier Wänden leben. Darüber hinaus kam vielen Engländern die Privatisierung von Staatsunternehmen zugute. Ein Großteil der Aktien nämlich ging an Kleinanleger. Gab es Anfang der achtziger Jahre zwei Millionen Aktionäre, waren es zu Beginn der neunziger über neun Millionen, davon fast vier Millionen Arbeiter.
Der grundlegende Wandel auf dem Immobilien- und Aktienmarkt, die radikalen Steuersenkungen und die entschlossene Deregulierung in allen Bereichen der Gesellschaft brachten der Insel ein Wirtschaftswachstum von ungeahntem Ausmaß. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich Großbritannien zu einem bevorzugten Ort fremder Investoren. Auf den Ruinen der geschlossenen Zechen in Südwales etwa errichteten japanische, deutsche und amerikanische Unternehmen Hochtechnologiezentren, Halbleiterwerke und Chipfabriken. Zehntausende von Arbeitslosen fanden wieder Beschäftigung. In keinem anderen Staat Europas konnten mehr Arbeitsplätze geschaffen werden als in Großbritannien.
Tony Blair wird sich hüten, diesen Aufschwung zu gefährden. Den Ausbau des Sozialsystems, höhere Wohlfahrtsgelder und Subventionen - "alles Dinge, die in Deutschland . . . noch als Herzstück linker Politik gelten" - wird es mit dem neuen Premier nicht geben, meint Dominic Johnson. Im Grunde hält er den jungen Regierungschef für "Margaret Thatcher ohne Handtasche". Das Parteiprogramm der "Labour-Party" setzt allenfalls einige andere Schwerpunkte, wie im Bildungsbereich oder der Europapolitik. Sie gestaltet Blair zwar verbindlicher, doch ohne wesentliche Kursänderung.
Trotzdem will die Insel Festland werden, gibt Peter Nonnenmacher zu bekennen. Seine gesammelten, recht willkürlich zusammengestellten, zuweilen etwas trockenen Reportagen bieten dafür jedoch keinen Beleg. Im Gegenteil, mit wenigen Ausnahmen sind die Briten auch für ihn "widerwillige Europäer". Die meisten Engländer würden wohl noch heute dem ehemaligen Schatzkanzler Kenneth Clarke recht geben, der vor einem Jahr in einem Vortrag über Europa das britische Recht auf Distanz und Eigensinn hervorhob: "Ich bin fest entschlossen, mein Lammfleisch auch weiterhin mit Marmelade zu essen, auf der linken Straßenseite zu fahren und warmes, abgestandenes Bier aus einem Pint-, nicht aus einem Literglas zu trinken." England ist eben eine Insel; es kann nichts dafür - wir aber auch nicht. JACQUES SCHUSTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
England, Blair, Europa / Politische Taschenbücher
Dominic Johnson: Abschied von der Insel? Großbritannien im Wandel. Dietz Taschenbuch 77. Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 1997. 212 Seiten, 24,80 Mark.
Peter Nonnenmacher: Insel sucht Anschluß. Wohin treibt Großbritannien? Fischer Sachbuch, Band 13289. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 224 Seiten, 19,80 Mark.
Für die meisten Verlage ist der Ärmelkanal breiter als der Atlantik. Während die Herbst- und Frühjahrsproduktionen ohne Bücher zu Amerika nicht auszukommen scheinen, sind politische Werke über England selten. Bis heute etwa fehlt eine Gesamtdarstellung der deutsch-britischen Beziehungen, und auf eine Studie über Margaret Thatcher wird man hierzulande wohl noch warten müssen.
Der Dietz-Verlag läßt sich dennoch nicht entmutigen. Zwar hat er keine umfassende Analyse der britischen Gesellschaft veröffentlicht, dafür aber die scharfsichtigen Beobachtungen eines Journalisten. Ein erfreulicher Beschluß, denn der Blick auf die Insel lohnt, nicht nur, weil man von der "Mutter der Demokratie" lernen kann, sondern weil sich England von Krankheiten befreit hat, die Deutschland noch immer heimsuchen, wie Subventionierungssucht, Realitätsverlust und Diarrhö im Gesetzgebungs- und Verordnungstrakt.
Mit eisernem Willen und einigem Glück könnte die Bundesrepublik von morgen das England der Gegenwart werden, glaubt Dominic Johnson und erläutert, wie Margaret Thatcher den "kranken Mann Europas" in einen Berserker verwandelte. Gleich nach ihrem Einzug in Downing Street ging die Premierministerin daran, das unter Arbeitslosigkeit stöhnende, durch die Streikwut der Gewerkschaften geschwächte Land von Grund auf zu verändern. Thatcher brach die Macht der Arbeitnehmerverbände, zerschlug die staatlichen Konzerne und entzog dem Sozialsystem einen Großteil der Mittel. Fortan sollte jeder auf eigenen Beinen stehen. "So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht", zitiert Johnson den Kernsatz ihrer Ideologie, "es gibt nur einzelne, und es gibt Familien."
Ihnen galt Margaret Thatchers Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund senkte sie sämtliche direkten Steuern und ließ die meisten Sozialbauwohnungen zu Billigpreisen veräußern. Der breitgestreute Immobilienverkauf verhalf zahlreichen Briten zu bescheidenem Wohlstand und machte aus der Insel eine "Demokratie von Eigentümern", in der heute 85 Prozent aller Erwerbstätigen in den eigenen vier Wänden leben. Darüber hinaus kam vielen Engländern die Privatisierung von Staatsunternehmen zugute. Ein Großteil der Aktien nämlich ging an Kleinanleger. Gab es Anfang der achtziger Jahre zwei Millionen Aktionäre, waren es zu Beginn der neunziger über neun Millionen, davon fast vier Millionen Arbeiter.
Der grundlegende Wandel auf dem Immobilien- und Aktienmarkt, die radikalen Steuersenkungen und die entschlossene Deregulierung in allen Bereichen der Gesellschaft brachten der Insel ein Wirtschaftswachstum von ungeahntem Ausmaß. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich Großbritannien zu einem bevorzugten Ort fremder Investoren. Auf den Ruinen der geschlossenen Zechen in Südwales etwa errichteten japanische, deutsche und amerikanische Unternehmen Hochtechnologiezentren, Halbleiterwerke und Chipfabriken. Zehntausende von Arbeitslosen fanden wieder Beschäftigung. In keinem anderen Staat Europas konnten mehr Arbeitsplätze geschaffen werden als in Großbritannien.
Tony Blair wird sich hüten, diesen Aufschwung zu gefährden. Den Ausbau des Sozialsystems, höhere Wohlfahrtsgelder und Subventionen - "alles Dinge, die in Deutschland . . . noch als Herzstück linker Politik gelten" - wird es mit dem neuen Premier nicht geben, meint Dominic Johnson. Im Grunde hält er den jungen Regierungschef für "Margaret Thatcher ohne Handtasche". Das Parteiprogramm der "Labour-Party" setzt allenfalls einige andere Schwerpunkte, wie im Bildungsbereich oder der Europapolitik. Sie gestaltet Blair zwar verbindlicher, doch ohne wesentliche Kursänderung.
Trotzdem will die Insel Festland werden, gibt Peter Nonnenmacher zu bekennen. Seine gesammelten, recht willkürlich zusammengestellten, zuweilen etwas trockenen Reportagen bieten dafür jedoch keinen Beleg. Im Gegenteil, mit wenigen Ausnahmen sind die Briten auch für ihn "widerwillige Europäer". Die meisten Engländer würden wohl noch heute dem ehemaligen Schatzkanzler Kenneth Clarke recht geben, der vor einem Jahr in einem Vortrag über Europa das britische Recht auf Distanz und Eigensinn hervorhob: "Ich bin fest entschlossen, mein Lammfleisch auch weiterhin mit Marmelade zu essen, auf der linken Straßenseite zu fahren und warmes, abgestandenes Bier aus einem Pint-, nicht aus einem Literglas zu trinken." England ist eben eine Insel; es kann nichts dafür - wir aber auch nicht. JACQUES SCHUSTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main