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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2004

Die kränkelnde Partei
Schwindende Bindekraft gemeinsamer Werte hat die Sozialdemokratie in Bedrängnis gebracht - die Therapie-Vorschläge sind widersprüchlich
Es sind traurige Zeiten für Sozialdemokraten: Wahlniederlagen, Mitgliederschwund, Nachwuchssorgen, programmatische Orientierungslosigkeit. Manchmal möchte man fast Mitleid mit den geschundenen Parteiaktivisten haben, die in ihren Ortsvereinen jede neue Horrormeldung aus Berlin verarbeiten - und verkaufen müssen. Professionelle Hilfe tut da Not. Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter ist gleichsam der Psychotherapeut der Sozialdemokratie. Sein Essayband mit veröffentlichten Beiträgen über die SPD in der Ära Schröder kommt gerade recht, um die tiefen Wandlungen der SPD seit den 70er Jahren zu analysieren. Walter schreibt mit Verve und Einfühlungsvermögen ohne die beißende Häme, die er in früheren Jahren bisweilen für die erstarrten Umgangsformen des SPD-Mikrokosmos übrig hatte. Seine Analyse ist - bei aller tagesaktuellen Begrenzung - klug, pointiert und ohne falsche Illusionen.
Tiefe Identitätskrise
Der Weg zur Regierungspartei hat die SPD selbst in eine tiefe Identitätskrise geführt. Ihr Erfolg ist zugleich ihr Problem: Der Aufstieg der sozialdemokratischen Kernanhängerschaft aus der Arbeiterklasse in die akademischen Dienstleistungsschichten und eine gleichzeitig wachsende Entfremdung der Sozialdemokratie von den neuen Unterschichten. Schon längst sind die proletarischen Hochburgen geschliffen, und vielerorts wählen Arbeiter mehrheitlich CDU/CSU und nicht SPD. Wenn auch, was Walter wohl etwas zu wenig hervorhebt, die SPD nie nur eine reine (Fach-)Arbeiterpartei war und schon immer, besonders nach 1945, bürgerliche Schichten erfolgreich ansprechen konnte, so hat doch der Verlust des historischen Subjekts der Arbeiterbewegung zu einem kaum zu überschätzenden Identitätsproblem der Sozialdemokratie geführt. Das muss nicht gleich Untergang oder Ende der Sozialdemokratie bedeuten. Doch die schwindende Bindekraft gemeinsamer Werte, normativer Leitideen und sozio-kultureller Interpretationsmuster bringt die SPD schwer in die Bredouille.
Und sein therapeutischer Vorschlag für die kränkelnde Patientin SPD? Eine Zauberformel hält auch Walter nicht bereit. Doch finden sich bei ihm, versteckt zwischen einigen Wiederholungen und einem ebenso flotten wie missglückten Buchtitel, einige Anregungen, die quer zur augenblicklichen Debatte über Modernisierung der Sozialdemokratie stehen - und damit umso origineller und lesenswerter erscheinen.
„Der Wandel des Wertewandels kommt bestimmt”, so lautet seine Botschaft an die jungen und reformhungrigen SPD-Abgeordneten des „Netzwerks Berlin”, zu denen Ute Vogt und Sigmar Gabriel zählen. Sie haben sich quer zu den traditionellen linken und rechten Flügeln der Partei zusammengeschlossen und haben, angeregt durch die Diskussion mit Sozialwissenschaftlern, einen Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm vorgelegt. Ihr Ziel: Eine „neue SPD”, die mehr von gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit als von Verteilungsgerechtigkeit spricht, die die Balance von individueller und gesellschaftlicher Freiheit und Verantwortung neu gewichtet, staatliche Regulierung abbaut und sich für einen vorsorgenden, aktivierenden und investiven Sozialstaat stark macht - die entschiedensten Befürworter also der Agenda 2010.
Franz Walter verfolgt diese Entwürfe offenkundig mit einer gewissen Skepsis. Seine Empfehlung an den Schröder-Nachwuchs: „All das, was ihr in den letzten 15 Jahren gefühlt habt, was ihr gefordert habt: Vergesst es! Vergesst es, denn in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren sind es nicht mehr die Themen, die wichtig sind, sind es nicht mehr die Lebensgefühle, die noch tragen oder die Probleme, die ihr lösen müsst.”
Anders gesagt: Der Trend zu immer mehr Flexibilität und Individualisierung, der Wunsch nach Beschleunigung und „Optionsmehrung” ist, wie wissenschaftliche Studien zeigen, gar nicht mehr das, was sich viele, vor allem jüngere Menschen wünschen. Postmaterialistische Werte verlieren an Zustimmung. Neue und alte Kategorien gewinnen an Bedeutung - Begriffe wie Bindung, Geborgenheit, Gemeinschaft, die vor Jahren noch einen faden Beigeschmack hatten. Möglicherweise sind programmatische Entwürfe, die allzu sehr den Geist der New Economy atmen, überholt, noch bevor sie richtig zu Ende gedacht sind. Und noch etwas macht Walter deutlich: Die Themen Reichtum und Armut, der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, die neuen Unterschichten und nicht wenigen Verlierer der Wissensgesellschaft werden künftig verstärkt und gegen den aktuellen Trend auf der politischen Agenda insbesondere der Sozialdemokratie stehen.
Rückkehr der Klassen
Für die Richtigkeit dieser Beobachtung spricht vieles, selbst wenn es manchen „68”-Geschädigten oder -Geläuterten reichlich schmerzt, die „Rückkehr der Klassengesellschaft” wieder ins Vokabular aufnehmen zu müssen, wie es Walter tut. Zivilgesellschaftliche Solidarität und die „Bürgergesellschaft” der neuen SPD werden darauf eine der möglichen Antworten sein. Doch um die „Marktfähigkeit der Subjekte” zu sichern, reicht das alleine nicht aus. Dafür braucht es funktionierende staatliche Institutionen und nicht allein die Zauberkraft des Kommunitarismus.
Wer die Texte der Netzwerker, ihrer intellektuellen Paten und Beobachter liest, der spürt, wie ernsthaft um diese neue sozialdemokratische Identität gerungen wird - eine Debatte, die der Union, deren Probleme nur vordergründig kleiner sind, noch bevorsteht. Erstaunlich dabei ist freilich, wie wenig ein potenzieller Gesprächspartner im Blickfeld der Parteidiskussion ist: die Kirchen, mithin katholische Soziallehre und evangelische Sozialethik. Gemessen am Netzwerk-Entwurf mutet beispielsweise das gemeinsame Sozialwort der Kirchen geradezu revolutionär an. Man muss nicht alle Einschätzungen teilen. Aber ein wenig mehr jenes „utopischen Überschusses” kirchlicher Kapitalismuskritik könnte den SPD-Reformern nicht schaden.
DIETMAR SÜSS
FRANZ WALTER: Abschied von der Toskana. Die SPD in der Ära Schröder. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004. 186 Seiten, 19,90 Euro.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG, Politische Akademie (Hg.): Die neue SPD. Menschen stärken - Wege öffnen. Verlag J.H.D. Dietz Nachf., Bonn 2004. 350 Seiten, 14,80 Euro.
Auf der Suche nach der neuen SPD: Die „Netzwerker” in der Partei sprechen mehr von Chancengleichheit als von Verteilungsgerechtigkeit; der Parteienforscher Franz Walter warnt davor, sich auf den Geist der New Economy einzulassen.
Foto: AP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2004

Hadern mit der neuen Mitte
Franz Walters Abgesang auf die sozialdemokratische Emanzipationsbewegung

Franz Walter: Abschied von der Toskana. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004. 188 Seiten, 19,90 [Euro]

Scharfsinnige, aufrüttelnde, mitreißende Analysen gesellschaftlicher Zustände und ökonomischer Fehlentwicklungen kamen einst von den Leitfiguren der Arbeiterbewegung. Da jedoch Linksparteien schon seit einer ganzen Weile nicht mehr von Gesellschaftstheoretikern geführt werden, haben Parteienforscher diese Lücke gefüllt. Nicht nur Franz Müntefering steht also in der Nachfolge von Ferdinand Lassalle, sondern auch Franz Walter - derjenige unter den Parteienforschern, der uns regelmäßig und in kurzen Abständen mitteilt, wie es der SPD geht, was sie bewegt, was ihr fehlt und was ihr möglicherweise blüht. Walters stets schwungvolle und suggestive Bulletins lassen die Leser teilhaben am Auf und Ab seines mehr als 140 Jahe alten Beobachtungsobjekts; an Zuständen, die zwischen tiefer Niedergeschlagenheit und aufbäumendem Lebenswillen schwanken. Seine jüngste Aufsatzsammlung umspannt das Jahrfünft, in dem Gerhard Schröder die Partei führte

Im Vorwort kündigt Walter nichts weniger als einen Abgesang auf die genuine sozialdemokratische Emanzipationsbewegung an. Etliche Strophen handeln dann von der Auflösung des sozialdemokratischen Milieus - fast nostalgisch beschwört Walter noch einmal "das Proletariat" -, vom Verschwinden alter Gewißheiten und verbrauchter Parolen. So wenig er selbst daran zweifelt, daß die Rolle der "Partei der Arbeiterklasse" für die SPD ausgespielt ist, so sehr hadert er doch mit einem Neue-Mitte-Pragmatismus, der so ganz ohne Sendungsbewußtsein daherkommt und sich insbesondere für das untere Fünftel der Gesellschaft - Walter spricht vom "neuen Unten" - nicht mehr zuständig fühlt. Immerhin ist er ehrlich genug zuzugeben, daß er selbst nicht wüßte, wie denn die "große Botschaft" lauten sollte, die er so vermißt. Und selbst wenn sie eine hätte, gib er resigniert zu, so wäre sie doch unter den Bedingungen des deutschen Föderalismus mit seinem überentwickelten Vetosystem kaum zu verwirklichen.

Eine Weile lang erwärmt sich Walter daher für den Gedanken einer großen Koalition, um dann umzuschwenken auf eine neue Idee: Die SPD solle einer möglicherweise entstehenden neuen Linkspartei keine Steine in den Weg legen, sondern sie langfristig als strategischen Partner betrachten, mit dem sie die strukturelle Mehrheit der Linken, gemeinsam mit den Grünen, dauerhaft absichern könne.

Walters Themen sind nicht die Agenda 2010, nicht die Gesundheitsreform, sondern die Befindlichkeit jenes Teils der Gesellschaft, der einmal die klassische Wählerklientel der SPD war, sowie der Generations- und Mentalitätswechsel in der Parteiführung. Selbst hin- und hergerissen zwischen Traditionalismus und Anpassungszwang, wirbt er einerseits für eine Re-Ideologisierung der Parteien, sehnt die Unterscheidbarkeit früherer Jahre herbei, verlangt aber andererseits von der SPD, endlich zu akzeptieren, daß sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei. Mal macht er sich über "spätpubertäre" Sozialdemokraten lustig, die von ihren Parteiführern erwarten, daß sie ihnen das Kampfgefühl ihrer Jugendzeit wiedergeben, mal wirft er dem sozialdemokratischen Establishment vor, es sei mitleidslos dabei, die neue Unterschicht abzuhängen, nachdem es selbst alle Aufstiegschancen für sich genutzt habe. Hintereinander gelesen, spiegeln Walters stets temperamentvoll und eloquent vorgetragene Befunde mehr das Auf und Ab in der seelischen Verfassung des Autors als das der SPD.

STEFAN DIETRICH

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Klug, pointiert und ohne falsche Illusionen" findet Dietmar Süss diesen Essayband des Göttinger Parteienforschers Franz Walter, der die tiefen Wandlungen der SPD seit den 70er Jahren analysiert. Er attestiert dem "Psychotherapeuten der Sozialdemokratie", mit "Verve und Einfühlungsvermögen" und ohne die frühere "beißende Häme" zu schreiben. Wie der Rezensent darstellt, sieht Walter die SPD in einer tiefen Identitätskrise, was der dramatische Verlust ihrer Kernanhängerschaft aus der Arbeiterklasse vor Augen führe. Dabei zeigt sich Walter skeptisch gegenüber dem Geist der Agenda 2010, berichtet Süss, der Trend zu immer mehr Flexibilität und Individualisierung, der Wunsch nach Beschleunigung und "Optionsmehrung" sei gar nicht mehr das, was sich viele, vor allem jüngere Menschen wünschen. Zudem mache er deutlich, dass die Themen Reichtum und Armut, der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, die neuen Unterschichten und nicht wenigen Verlierer der Wissensgesellschaft und künftig verstärkt auf der politischen Agenda insbesondere der Sozialdemokratie stehen werden.

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