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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2004

Hadern mit der neuen Mitte
Franz Walters Abgesang auf die sozialdemokratische Emanzipationsbewegung

Franz Walter: Abschied von der Toskana. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004. 188 Seiten, 19,90 [Euro]

Scharfsinnige, aufrüttelnde, mitreißende Analysen gesellschaftlicher Zustände und ökonomischer Fehlentwicklungen kamen einst von den Leitfiguren der Arbeiterbewegung. Da jedoch Linksparteien schon seit einer ganzen Weile nicht mehr von Gesellschaftstheoretikern geführt werden, haben Parteienforscher diese Lücke gefüllt. Nicht nur Franz Müntefering steht also in der Nachfolge von Ferdinand Lassalle, sondern auch Franz Walter - derjenige unter den Parteienforschern, der uns regelmäßig und in kurzen Abständen mitteilt, wie es der SPD geht, was sie bewegt, was ihr fehlt und was ihr möglicherweise blüht. Walters stets schwungvolle und suggestive Bulletins lassen die Leser teilhaben am Auf und Ab seines mehr als 140 Jahe alten Beobachtungsobjekts; an Zuständen, die zwischen tiefer Niedergeschlagenheit und aufbäumendem Lebenswillen schwanken. Seine jüngste Aufsatzsammlung umspannt das Jahrfünft, in dem Gerhard Schröder die Partei führte

Im Vorwort kündigt Walter nichts weniger als einen Abgesang auf die genuine sozialdemokratische Emanzipationsbewegung an. Etliche Strophen handeln dann von der Auflösung des sozialdemokratischen Milieus - fast nostalgisch beschwört Walter noch einmal "das Proletariat" -, vom Verschwinden alter Gewißheiten und verbrauchter Parolen. So wenig er selbst daran zweifelt, daß die Rolle der "Partei der Arbeiterklasse" für die SPD ausgespielt ist, so sehr hadert er doch mit einem Neue-Mitte-Pragmatismus, der so ganz ohne Sendungsbewußtsein daherkommt und sich insbesondere für das untere Fünftel der Gesellschaft - Walter spricht vom "neuen Unten" - nicht mehr zuständig fühlt. Immerhin ist er ehrlich genug zuzugeben, daß er selbst nicht wüßte, wie denn die "große Botschaft" lauten sollte, die er so vermißt. Und selbst wenn sie eine hätte, gib er resigniert zu, so wäre sie doch unter den Bedingungen des deutschen Föderalismus mit seinem überentwickelten Vetosystem kaum zu verwirklichen.

Eine Weile lang erwärmt sich Walter daher für den Gedanken einer großen Koalition, um dann umzuschwenken auf eine neue Idee: Die SPD solle einer möglicherweise entstehenden neuen Linkspartei keine Steine in den Weg legen, sondern sie langfristig als strategischen Partner betrachten, mit dem sie die strukturelle Mehrheit der Linken, gemeinsam mit den Grünen, dauerhaft absichern könne.

Walters Themen sind nicht die Agenda 2010, nicht die Gesundheitsreform, sondern die Befindlichkeit jenes Teils der Gesellschaft, der einmal die klassische Wählerklientel der SPD war, sowie der Generations- und Mentalitätswechsel in der Parteiführung. Selbst hin- und hergerissen zwischen Traditionalismus und Anpassungszwang, wirbt er einerseits für eine Re-Ideologisierung der Parteien, sehnt die Unterscheidbarkeit früherer Jahre herbei, verlangt aber andererseits von der SPD, endlich zu akzeptieren, daß sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei. Mal macht er sich über "spätpubertäre" Sozialdemokraten lustig, die von ihren Parteiführern erwarten, daß sie ihnen das Kampfgefühl ihrer Jugendzeit wiedergeben, mal wirft er dem sozialdemokratischen Establishment vor, es sei mitleidslos dabei, die neue Unterschicht abzuhängen, nachdem es selbst alle Aufstiegschancen für sich genutzt habe. Hintereinander gelesen, spiegeln Walters stets temperamentvoll und eloquent vorgetragene Befunde mehr das Auf und Ab in der seelischen Verfassung des Autors als das der SPD.

STEFAN DIETRICH

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Klug, pointiert und ohne falsche Illusionen" findet Dietmar Süss diesen Essayband des Göttinger Parteienforschers Franz Walter, der die tiefen Wandlungen der SPD seit den 70er Jahren analysiert. Er attestiert dem "Psychotherapeuten der Sozialdemokratie", mit "Verve und Einfühlungsvermögen" und ohne die frühere "beißende Häme" zu schreiben. Wie der Rezensent darstellt, sieht Walter die SPD in einer tiefen Identitätskrise, was der dramatische Verlust ihrer Kernanhängerschaft aus der Arbeiterklasse vor Augen führe. Dabei zeigt sich Walter skeptisch gegenüber dem Geist der Agenda 2010, berichtet Süss, der Trend zu immer mehr Flexibilität und Individualisierung, der Wunsch nach Beschleunigung und "Optionsmehrung" sei gar nicht mehr das, was sich viele, vor allem jüngere Menschen wünschen. Zudem mache er deutlich, dass die Themen Reichtum und Armut, der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, die neuen Unterschichten und nicht wenigen Verlierer der Wissensgesellschaft und künftig verstärkt auf der politischen Agenda insbesondere der Sozialdemokratie stehen werden.

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