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Ein Junge namens Arun aus dem nepalesischen Hochland wird von einem Wanderzirkus aufgegriffen und kommt nach Europa. Im Zirkus lernt er, den Salto fünffach zu springen, schließlich sogar zu schweben und damit Newtons 300 Jahre altes Gesetz der Schwerkraft zu überwinden. Kein Wunder, daß er zur gefragten Person wird. Politiker, Kirchenleute, Industrielle, Gentechniker, Terroristen, Geheimdienstler, alle sind daran interessiert aus seiner Fähigkeit Gewinn zu ziehen. Ein Schelmenroman über die menschliche Gier, alles zu vermarkten.

Produktbeschreibung
Ein Junge namens Arun aus dem nepalesischen Hochland wird von einem Wanderzirkus aufgegriffen und kommt nach Europa. Im Zirkus lernt er, den Salto fünffach zu springen, schließlich sogar zu schweben und damit Newtons 300 Jahre altes Gesetz der Schwerkraft zu überwinden. Kein Wunder, daß er zur gefragten Person wird. Politiker, Kirchenleute, Industrielle, Gentechniker, Terroristen, Geheimdienstler, alle sind daran interessiert aus seiner Fähigkeit Gewinn zu ziehen. Ein Schelmenroman über die menschliche Gier, alles zu vermarkten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.1998

Erst kaufen, dann taufen
Gert Heidenreich und die Jagd nach fliegenden Nepalesen

Die ganze Geschichte spielt sich in unseren Tagen und quasi vor unser aller Augen ab. Es ist nur fraglich, ob wir das auch bemerken. Praktisch unübersehbar ist der Brand von Zelt und Wagenpark des in München gastierenden Circus Brondoni im November 1998, denn die Fernseh- und Pressebilder von den Löscharbeiten und den verkohlten, verbogenen Überresten werden weit gestreut. Es handelt sich um Brandstiftung, begangen von dem Russen Anatol Bitow, dem Partner und Ehemann der Seiltänzerin Blandine, die sich aber kurz zuvor dem jungen nepalesischen Saltoisten Arun Shresta zugewandt hat, nachdem der - und ausdrücklich ihr gewidmet - die Höchstleistung seiner Zunft, den dreifachen Salto, mit einem fünffachen gleich um rund 66 Prozent übertroffen hatte.

Das Feuerfanal, der deplazierte Racheakt des gehörnten, nach Vorstellungsende jeweils stark dem Gin ergebenen Russen, macht nun über Nacht das tierische wie menschliche Zirkuspersonal heimatlos: Blandine, die geborene Französin, verschlägt es zu ihrer intellektuellen Schwester nach Paris; der brandstiftende Gatte Anatol landet eher ungewollt in den Armen einer rechtsradikalen Totschlägerriege unter Anführung des pensionierten Pädagogen Heinz Gellhorn. Pferde, Elefanten und Großkatzen irren panisch durch München und stellen die im Umgang mit ihnen unerfahrene Polizei vor manche Probleme; der polyglotte Zwergclown Ulrich Gröbbers wie auch der sehr verständige Bengaltiger Manjal gelangen nach Umwegen auf das Areal des Physikers François Colombiers am Münchner Stadtrand.

Der ist dort auf einem ehemaligen Fabrikgelände freundlich damit beschäftigt, die Welt zu kopieren und zu verbessern, in vier Paradieshallen, die in Biotopen zwischen Steppe und Regenwald einmal den bekannten Tier- und Pflanzenarten angenehmen Lebensraum bieten, aber auch als Habitat mancher Produktion aus dem Genlabor seines russisch-amerikanischen Biologenduos Wassili Schurbin und Edward Birkin dienen. Dazu gehören Lukas, das Einhorn, Pegasus, ein geflügeltes Pferd, und Elsa, die leider blinde und auch allzu rasch alternde Meerjungfrau; die realistisch-skeptischen Genetiker sind weit davon entfernt, ihre Technik zu beherrschen oder selbst für beherrschbar zu halten. Auch François Colombiers' geklontes Double Frank in der Doppelrolle als Sohn und Bruder altert viermal schneller als sein genetisches Vorbild. Zu Colombiers' Haushalt gehört seit kurz vor dem Zirkusbrand auch der Saltoist Arun, dem Zirkusdirektor Franz Brondoni geschickt abgeluchst, nachdem der Physiker als Zirkusbesucher bemerkt hatte, daß Aruns fünffacher Salto nur dank wunderbarer, die Gesetze der Schwerkraft ignorierender Fähigkeiten hatte zustande kommen können, und das Sammeln von Wundern ist sein Hobby.

Er stellt dieses Wunder aber nicht in die Vitrine, vielmehr beginnt seine ehemalige Kollegin, die Chemikerin Helga Falck, dank Kompetenz und sexueller Zuwendung maßgeblichst beteiligt an der Erfindung eines lichtspeichernden Glases namens Phosit, der Basis von Colombiers' Reichtum, damit, die Flugfähigkeit Aruns meistbietend zur Miete zu offerieren. Nach einer diskreten Probevorführung von Aruns Kunst zum Preis von 30000 Dollar pro Partei legen die Interessenten sich steigernde Millionenangebote auf den Tisch. Wettbewerber dabei sind die Bayerischen Motorenwerke, deren Chef Winston Onslow sich von Aruns Kunst Schubkraft für den Verkauf eines zu entwickelnden Sportwagens namens "Flyer" verspricht, der von starken Flatulenzen geplagte bayerische Ministerpräsident Horst Sinzinger, vertreten durch seinen Staatssekretär Hubert von Längsten, die beide in Arun eine Chance sehen, ermüdete Wähler zu mobilisieren - sowie eine fragile Allianz aus dem Erzbischof von München und Freilassing und dem Heiligen Stuhl. Wobei Erzbischof Remigius Most mit dem Wunderknaben eine die Fahrgeschäfte und Bierhallen an Höhe überbietende Oktoberfestkirche füllen möchte, der Heilige Vater hingegen eher dem Gedanken anhängt: "Wenn der Kerl fliegen kann, werde ich mir das Wunder an die Soutane heften." Nach einer Exklusivvorführung für den Klerus zum Preis von 150000 Dollar gibt er deshalb angesichts des nicht gerade christlichen Hintergrundes des Mannes vom Himalaja die Parole aus: "Erst kaufen, dann taufen."

Sie werden ihn alle nicht bekommen, nicht zum Lob von Auto, Partei oder katholischer Kirche, denn Arun wird sich, endlich mit Blandine wieder vereint, auf dem Luftweg mit ihr in einen abgelegenen Bauernhof zurückziehen, weit entfernt von dem gesellschaftlichen Zirkus, der ihn und seine Geliebte immer mehr bedrängt. Aber diesen Gert Heidenreich vorgeführt zu bekommen, ist für nicht flugfähige Leser allemal ein Spaß und ein Abenteuer, denn der Autor stellt fast alles auf die Bühne, was zur Gesellschaft des Spektakels gehört: neben den schon erwähnten Fachkräften die Hubschrauber der Nachrichtenkanäle, staatsbedienstete, aber stark außerhalb der Legalität operierende Geheimdienstler, stets film- und fotografierbereite Touristen, von denen einige mit Videos von Aruns und Blandines Flug durch die Kirche Notre Dame ein kleines Vermögen machen.

Und er läßt diese ganze hechelnde Hetzmeute mit- und gegeneinander agieren, daß man sich bisweilen wie im Auge des Hurrikans vorkommen kann, wobei die ganze Geschichte mit soviel Bodenhaftung versehen ist, daß auch die paranormale Fähigkeit Aruns wie die freakigen Gentechnikprodukte in Colombiers' Welt als so authentisch erscheinen wie der Sprecher der Tagesschau oder zumindest wie dessen Krawatte. Dabei sind die Charaktere prägnant und sprachmächtig gezeichnet, was schon bei kluger Namenswahl beginnt. Bisweilen streift Heidenreich auch das Bauerntheater, wenn er die Flatulenzbewältigungstechnik des bayerischen Ministerpräsidenten referiert, die darin besteht, das Austrittsgeräusch der Darmwinde jeweils mit einem langgezogenen "Tschüs" zu begleiten, das natürlich selten in den Kommunikationsfluß paßt und außerdem die geruchliche Belästigung nicht kaschieren kann.

Die Weisen in diesem Narrenspiel sind dabei die Zirkusleute, liebevoll gezeichnete individualistische Realisten: Held Arun beispielsweise, der weiß, daß er seine Flugfähigkeit lediglich seiner Liebe zu Blandine und etwas Hilfe des von ihm verehrten elefantenköpfigen Gottes Ganesh verdankt und nicht etwa einem besonderen Gen, das prometheische Bastler gern an ihm isolieren möchten, um, einmal in dessen Besitz, zum Beispiel ganze Bodentruppen in Luftwaffen zu wandeln.

Zirkusleute wissen um die Risiken solcher Projekte, Zwergclown Ulrich Gröbbers etwa, der sich von Schurbin und Birkin ein Wachstumsgen hat implantieren lassen, weil ihn die Idee verlockte, "vor meiner Nase nicht länger Ärsche, sondern Gesichter zu haben". Kurz vor seinem sehr frühen Tod, der seiner - der Genmanipulation folgenden - Alterung geschuldet ist, sagt er resigniert: "Na ja, ich bin nicht der erste, der an seiner Eitelkeit zugrunde geht."

Man kann Gert Heidenreichs fünften Roman als Warnung vor Hybris lesen, als Liebeserklärung an den Zirkus, als Satire auf eine sensationelle Mediengesellschaft, als kaschiertes Ausstiegsmanifest aus einer verrückten und gewalttätiger werdenden Gesellschaft. Lesen kann man ihn in jedem Fall. Sehr gut sogar. Oder, wie Blandine es nach dem ersten gemeinsamen Flug mit Arun sagt: "Es ist alles nicht wahr. Aber sehr schön." BURKHARD SCHERER

Gert Heidenreich: "Abschied von Newton". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998. 316 S., geb., 39,80 DM.

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