Produktdetails
- ISBN-13: 9783462017533
- ISBN-10: 3462017535
- Artikelnr.: 24585163
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2013Smells Like Teen Spirit
Das geheime Buch der Popliteratur: Endlich erscheint "Absolute Beginners" von Colin MacInnes in neuer Übersetzung. Ein Buch über die Wirklichkeit, Mode, Pop, das Leben
Ein Roman aus hellem, klarem Jetzt. Dieses Jetzt ist zwar schon über fünfzig Jahre her, aber es hält trotzdem immer noch an. Strahlt weiter. Beziehungsweise ist sofort wieder da, wenn man den Roman aufschlägt. Er handelt von Teenagern in der großen Stadt, von den schönsten Mädchen und Jungs, den Guten und den Bösen, den richtigen und den falschen Songs, den engen und den weiten Hosen, von Lügen und Geheimnissen, Faust- und Überlebenskämpfen, von Vätern und Söhnen und Liebe und Tod, von Juni, Juli, August und September.
Es ist die schönste Gegenwart, die Colin MacInnes 1959 in die Sätze seines Romans "Absolute Beginners" geschrieben hat. Jahrelang war er auf Deutsch vergriffen: Als das Buch 1986 verfilmt wurde, hat Kiepenheuer & Witsch zwar eine Übersetzung gemacht, aber die war gekürzt und hastig - jetzt, endlich, kommt der Roman neu übersetzt und wie zum ersten Mal heraus.
Man könnte sagen, "Absolute Beginners" sei das erste Buch der Popliteratur gewesen - wenn diese Art von pfeifenrauchendem Expertentum nicht genau das wäre, was Colin MacInnes mit seinem Roman aus der Literatur hinauszuschreiben versuchte. "Leben", ruft sein Buch, "Erfahrung!", "Nacht!", "Mädchen!", "Jungen!", "Liebe!", und immer wieder ruft es "Jetzt!", "Jetzt!", "Jetzt!". Der Schreibtisch, den Rainald Goetz vierzig Jahre später ins Nachtleben stellen wollte, um es von dort aus genau abzuschreiben: Colin MacInnes hat damals schon an ihm gesessen.
Darum geht es in seinem Buch, dem zweiten einer Trilogie über das London der späten fünfziger Jahre: Ein namenloser Erzähler - in Julien Temples Verfilmung wurde er 1986 einfach und logisch Colin genannt - und seine Freunde leben ihr Leben in Nachtclubs, Coffee Bars, auf Motorrollern, in engen italienischen Anzügen. Der Teenager ist soeben geboren worden, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Den haben die Briten zwar gewonnen, dabei ging aber ihr Empire verloren, und das beginnt am Selbstwertgefühl zu kratzen. Was den Teenager überhaupt nicht interessiert.
Der Teenager schaut nicht nach hinten, sondern nach oben und vorn. Er ist ein neuartiges, klassenloses Wesen aus Mode und Musik, ein so flüchtiges, attraktives, unbeschreibliches Phänomen, dass die sogenannte Bewusstseinsindustrie davon natürlich profitieren will: Das Fernsehen, die Werbung, die Plattenbranche, alle wollen dabei sein und mitverdienen, und die, die die Sache erfunden haben, Teenager wie Dean und das Misery Kid und Wiz und Suzette, in die Colin unsterblich verliebt ist, versuchen, dieser schleichenden Korruption zu trotzen. Das Geheimnis zu hüten. Aber es gelingt nicht allen.
Am Ende dieses Sommers von 1958 prügeln sich die sogenannten Teddy Boys mit den Schwarzen aus den Einwanderervierteln, es ist der offene Ausbruch rassistischer Gewalt im Nachkriegsengland: Diese berüchtigten Notting Hill Riots hat Colin MacInnes, der offen bisexuell lebte und als Erster über schwarze Gegenkulturen schrieb, über Jazz, über Drogen, über Sex, in "Absolute Beginners" verarbeitet. (Er nennt die Schwarzen in seinen Londoner Romanen "Spades", die Übersetzer haben sich für "Neger" entschieden, eine "gängige und trotz des diskriminierenden Untertons kaum hinterfragte Bezeichnung"; der Roman bringt genau diese Diskriminierungen und Untertöne zur Sprache.) Die Ausschreitungen von Notting Hill sind der Fluchtpunkt der Geschichte. Colin versucht mit aller Kraft zu stoppen, was sich da auf den Straßen seiner geliebten Stadt zusammenbraut - Untertanen der Queen, die anderen Untertanen der Queen den Schädel einschlagen wollen: "Das ist London, Mann", brüllt er verzweifelt seinen schwarzen Freund Cool an, "eine Hauptstadt, eine riesige, große Stadt, in der seit den Römern alle erdenklichen Rassen zu Hause sind!" Aber er kann es nicht aufhalten, genauso wenig wie den Ausverkauf der Teenager.
"Absolute Beginners" ist ein Buch der verlorenen Unschuld, eher eines des Herzens als der Politik. Wenn MacInnes eine Agenda hat, dann ist es die Liebe zu den Subkulturen und ihren immer feineren Unterschieden, die man als neue Varianten, sein Leben lebendig zu leben, feiern müsste - statt rassische Differenzen zu konstruieren, um es mal wie ein Akademiker zu sagen. Eine Spezies Mensch, der Colin natürlich kein Wort glaubt: "Glaubst du, ein Professor, der zwanzig Jahre studiert hat, kann dir etwas über die Wirklichkeit erzählen?"
"Absolute Beginners" ist 1959 erschienen, im Jahrhundertjahr der deutschen Literatur, als auch die "Blechtrommel" von Grass herauskam, Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob", Bölls "Billard um halb zehn", als deutsche Autoren den Abstand zur Moderne, den der Krieg gerissen hatte, aufgeholt glaubten. Aber das ganz moderne Schreiben war 1959 schon viel weiter. So klingt es zum Beispiel, wenn Colin MacInnes über Teenager schreibt: "Glattes, kurz geschorenes Haar wie bei einem College-Jungen, mit eingebranntem Scheitel, ordentliches weißes italienisches Hemd mit rundem Kragen, kurze italienische Jacke, sehr eng geschnitten (zwei kleine Schlitze, drei Knöpfe), enge Hosen ohne Aufschlag mit maximal 43 Zentimeter Beinweite, spitz zulaufende Schuhe und neben ihm ein zusammengefalteter, weißer Regenmantel."
Und so schreibt er über Musik: "Jazz ist etwas, das einem, wie nur wenige Dinge, das Gefühl gibt, auf dieser Welt hier wirklich zu Hause zu sein, als sei's dann doch eine erträgliche Vorstellung, als menschliches Tier auf die Welt gekommen zu sein oder so." Und so über Polizisten: "Eines muss man über das Gesetz wissen, nämlich, dass sie nicht gerne rennen, weil dabei meistens ihre Helme runterfallen."
Und so über die Themse und die Stadt um sie herum: "Während ich nach draußen aufs Wasser blickte, und es war wie ein Mund, wie ein Bett, eine Schwester, dachte ich, mein Gott, wie sehr ich diese Stadt liebe, so furchtbar sie auch sein mag, und dass ich nie, nie hier fortgehen will, komme da, was auch immer für mich bestimmt ist. Denn auch, wenn sie so verwahrlost scheint und so unfein und so halt-dich-ja-fern, wenn du diese Stadt gut genug kennenlernst, um sie um den Finger zu wickeln, und wenn du ihr Sohn bist, steht sie immer auf deiner Seite und unterstützt dich - zumindest bildete ich mir das ein."
Es sind dieser Stil, diese euphorische Beiläufigkeit, die Privatgrammatik und das Tempo, die "Absolute Beginners" so unwiderstehlich machen, viel stärker als die Handlung. Obwohl alles hektisch wirkt, passiert eigentlich nicht viel und am Schluss dann alles umso schneller auf einmal: Die Rassisten gehen auf die Schwarzen los, Suzette und Colin werden endlich ein Paar, und Colins Vater stirbt. Colin will weg. Und bleibt dann doch, in London: "Ich will die ganze verdammte Stadt", sagt er einmal, "und alles was dazugehört."
Von hier aus, von der Geschichte des Londoner Krawallsommers 1958, die MacInnes in "Absolute Beginners" erzählt, gehen viele Wege weiter, zu Nick Hornby, zu Jay McInerney, zu Banana Yoshimoto, zu den großen internationalen Gegenwartsabschreibern - aber leider dauerte es ewig, bis sich mehr als nur ein versprengtes Genie wie Rainald Goetz (oder Wolfgang Welt) traute, auch auf Deutsch so zu schreiben. Bis in die späten neunziger Jahre, dann versuchten es Kracht, Stuckrad-Barre, Lebert, Berg - denen aber gleich mit der Pfeife wieder der Weg zur Tür gewiesen wurde: Ihr müsst leider draußen bleiben. Betreten des Betriebs verboten. Das war das Ende des herrlichen Krawallsommers der deutschen Popliteratur.
Colin MacInnes starb 1976. Dieses Buch aber lebt und lebt und lebt. Jetzt.
TOBIAS RÜTHER
Colin MacInnes: "Absolute Beginners". Übersetzt von Maria und Christian Seidl. Metrolit-Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das geheime Buch der Popliteratur: Endlich erscheint "Absolute Beginners" von Colin MacInnes in neuer Übersetzung. Ein Buch über die Wirklichkeit, Mode, Pop, das Leben
Ein Roman aus hellem, klarem Jetzt. Dieses Jetzt ist zwar schon über fünfzig Jahre her, aber es hält trotzdem immer noch an. Strahlt weiter. Beziehungsweise ist sofort wieder da, wenn man den Roman aufschlägt. Er handelt von Teenagern in der großen Stadt, von den schönsten Mädchen und Jungs, den Guten und den Bösen, den richtigen und den falschen Songs, den engen und den weiten Hosen, von Lügen und Geheimnissen, Faust- und Überlebenskämpfen, von Vätern und Söhnen und Liebe und Tod, von Juni, Juli, August und September.
Es ist die schönste Gegenwart, die Colin MacInnes 1959 in die Sätze seines Romans "Absolute Beginners" geschrieben hat. Jahrelang war er auf Deutsch vergriffen: Als das Buch 1986 verfilmt wurde, hat Kiepenheuer & Witsch zwar eine Übersetzung gemacht, aber die war gekürzt und hastig - jetzt, endlich, kommt der Roman neu übersetzt und wie zum ersten Mal heraus.
Man könnte sagen, "Absolute Beginners" sei das erste Buch der Popliteratur gewesen - wenn diese Art von pfeifenrauchendem Expertentum nicht genau das wäre, was Colin MacInnes mit seinem Roman aus der Literatur hinauszuschreiben versuchte. "Leben", ruft sein Buch, "Erfahrung!", "Nacht!", "Mädchen!", "Jungen!", "Liebe!", und immer wieder ruft es "Jetzt!", "Jetzt!", "Jetzt!". Der Schreibtisch, den Rainald Goetz vierzig Jahre später ins Nachtleben stellen wollte, um es von dort aus genau abzuschreiben: Colin MacInnes hat damals schon an ihm gesessen.
Darum geht es in seinem Buch, dem zweiten einer Trilogie über das London der späten fünfziger Jahre: Ein namenloser Erzähler - in Julien Temples Verfilmung wurde er 1986 einfach und logisch Colin genannt - und seine Freunde leben ihr Leben in Nachtclubs, Coffee Bars, auf Motorrollern, in engen italienischen Anzügen. Der Teenager ist soeben geboren worden, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Den haben die Briten zwar gewonnen, dabei ging aber ihr Empire verloren, und das beginnt am Selbstwertgefühl zu kratzen. Was den Teenager überhaupt nicht interessiert.
Der Teenager schaut nicht nach hinten, sondern nach oben und vorn. Er ist ein neuartiges, klassenloses Wesen aus Mode und Musik, ein so flüchtiges, attraktives, unbeschreibliches Phänomen, dass die sogenannte Bewusstseinsindustrie davon natürlich profitieren will: Das Fernsehen, die Werbung, die Plattenbranche, alle wollen dabei sein und mitverdienen, und die, die die Sache erfunden haben, Teenager wie Dean und das Misery Kid und Wiz und Suzette, in die Colin unsterblich verliebt ist, versuchen, dieser schleichenden Korruption zu trotzen. Das Geheimnis zu hüten. Aber es gelingt nicht allen.
Am Ende dieses Sommers von 1958 prügeln sich die sogenannten Teddy Boys mit den Schwarzen aus den Einwanderervierteln, es ist der offene Ausbruch rassistischer Gewalt im Nachkriegsengland: Diese berüchtigten Notting Hill Riots hat Colin MacInnes, der offen bisexuell lebte und als Erster über schwarze Gegenkulturen schrieb, über Jazz, über Drogen, über Sex, in "Absolute Beginners" verarbeitet. (Er nennt die Schwarzen in seinen Londoner Romanen "Spades", die Übersetzer haben sich für "Neger" entschieden, eine "gängige und trotz des diskriminierenden Untertons kaum hinterfragte Bezeichnung"; der Roman bringt genau diese Diskriminierungen und Untertöne zur Sprache.) Die Ausschreitungen von Notting Hill sind der Fluchtpunkt der Geschichte. Colin versucht mit aller Kraft zu stoppen, was sich da auf den Straßen seiner geliebten Stadt zusammenbraut - Untertanen der Queen, die anderen Untertanen der Queen den Schädel einschlagen wollen: "Das ist London, Mann", brüllt er verzweifelt seinen schwarzen Freund Cool an, "eine Hauptstadt, eine riesige, große Stadt, in der seit den Römern alle erdenklichen Rassen zu Hause sind!" Aber er kann es nicht aufhalten, genauso wenig wie den Ausverkauf der Teenager.
"Absolute Beginners" ist ein Buch der verlorenen Unschuld, eher eines des Herzens als der Politik. Wenn MacInnes eine Agenda hat, dann ist es die Liebe zu den Subkulturen und ihren immer feineren Unterschieden, die man als neue Varianten, sein Leben lebendig zu leben, feiern müsste - statt rassische Differenzen zu konstruieren, um es mal wie ein Akademiker zu sagen. Eine Spezies Mensch, der Colin natürlich kein Wort glaubt: "Glaubst du, ein Professor, der zwanzig Jahre studiert hat, kann dir etwas über die Wirklichkeit erzählen?"
"Absolute Beginners" ist 1959 erschienen, im Jahrhundertjahr der deutschen Literatur, als auch die "Blechtrommel" von Grass herauskam, Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob", Bölls "Billard um halb zehn", als deutsche Autoren den Abstand zur Moderne, den der Krieg gerissen hatte, aufgeholt glaubten. Aber das ganz moderne Schreiben war 1959 schon viel weiter. So klingt es zum Beispiel, wenn Colin MacInnes über Teenager schreibt: "Glattes, kurz geschorenes Haar wie bei einem College-Jungen, mit eingebranntem Scheitel, ordentliches weißes italienisches Hemd mit rundem Kragen, kurze italienische Jacke, sehr eng geschnitten (zwei kleine Schlitze, drei Knöpfe), enge Hosen ohne Aufschlag mit maximal 43 Zentimeter Beinweite, spitz zulaufende Schuhe und neben ihm ein zusammengefalteter, weißer Regenmantel."
Und so schreibt er über Musik: "Jazz ist etwas, das einem, wie nur wenige Dinge, das Gefühl gibt, auf dieser Welt hier wirklich zu Hause zu sein, als sei's dann doch eine erträgliche Vorstellung, als menschliches Tier auf die Welt gekommen zu sein oder so." Und so über Polizisten: "Eines muss man über das Gesetz wissen, nämlich, dass sie nicht gerne rennen, weil dabei meistens ihre Helme runterfallen."
Und so über die Themse und die Stadt um sie herum: "Während ich nach draußen aufs Wasser blickte, und es war wie ein Mund, wie ein Bett, eine Schwester, dachte ich, mein Gott, wie sehr ich diese Stadt liebe, so furchtbar sie auch sein mag, und dass ich nie, nie hier fortgehen will, komme da, was auch immer für mich bestimmt ist. Denn auch, wenn sie so verwahrlost scheint und so unfein und so halt-dich-ja-fern, wenn du diese Stadt gut genug kennenlernst, um sie um den Finger zu wickeln, und wenn du ihr Sohn bist, steht sie immer auf deiner Seite und unterstützt dich - zumindest bildete ich mir das ein."
Es sind dieser Stil, diese euphorische Beiläufigkeit, die Privatgrammatik und das Tempo, die "Absolute Beginners" so unwiderstehlich machen, viel stärker als die Handlung. Obwohl alles hektisch wirkt, passiert eigentlich nicht viel und am Schluss dann alles umso schneller auf einmal: Die Rassisten gehen auf die Schwarzen los, Suzette und Colin werden endlich ein Paar, und Colins Vater stirbt. Colin will weg. Und bleibt dann doch, in London: "Ich will die ganze verdammte Stadt", sagt er einmal, "und alles was dazugehört."
Von hier aus, von der Geschichte des Londoner Krawallsommers 1958, die MacInnes in "Absolute Beginners" erzählt, gehen viele Wege weiter, zu Nick Hornby, zu Jay McInerney, zu Banana Yoshimoto, zu den großen internationalen Gegenwartsabschreibern - aber leider dauerte es ewig, bis sich mehr als nur ein versprengtes Genie wie Rainald Goetz (oder Wolfgang Welt) traute, auch auf Deutsch so zu schreiben. Bis in die späten neunziger Jahre, dann versuchten es Kracht, Stuckrad-Barre, Lebert, Berg - denen aber gleich mit der Pfeife wieder der Weg zur Tür gewiesen wurde: Ihr müsst leider draußen bleiben. Betreten des Betriebs verboten. Das war das Ende des herrlichen Krawallsommers der deutschen Popliteratur.
Colin MacInnes starb 1976. Dieses Buch aber lebt und lebt und lebt. Jetzt.
TOBIAS RÜTHER
Colin MacInnes: "Absolute Beginners". Übersetzt von Maria und Christian Seidl. Metrolit-Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main