"Der Anti-Held kehrt zurück! Tesichs Saul Karoo mag ein kaltblütiger Umschreiber von anderer Leute Filmskripts sein, Kettenraucher, versoffener Hund, lausiger Ehemann und Vater, aber er ist absolut zuverlässig in seiner Enthaltsamkeit hinsichtlich jeglicher Prinzipien. Ein schräger, ironischer, ambitionierter Roman von ungewöhnlicher Wahrhaftigkeit." (E.L. Doctorow.)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2000Bartwuchs als Krisenphänomen
Eine Jahrhundertmaske: Steve Tesich zeichnet den "Abspann"
Odysseus ist alt geworden. Der unförmige Bauch, die lückenhaften Zähne haben ihn in einen Sozialfall verwandelt. Allein steht er hinter dem Steuer seines Solarseglers und irrt durch den Weltraum. Die Mannschaft hat ihn verlassen, Ithaka ist hinter dem Horizont verschwunden. Odysseus presst die Hände an die Brust, um sich zu vergewissern, dass er noch lebt. Erst wenn Gott sich offenbart, kann die Reise enden.
Saul Karoo wiegt zu viel, trinkt in Massen und wird zusehends kleiner. Der "stramme Einsachtziger" ist in Wahrheit ein "übergewichtiger Alkoholiker jenseits der fünfzig" mit einer Körpergröße von einem Meter siebenundsiebzig. Die Diagnose aber hat keinerlei Auswirkungen auf Karoos Selbstbild. Die Erschütterung verfliegt rascher, als sie kam. Behende macht sie einer ungleich angenehmeren Stimmung Platz, der Stimmung des Streiters gegen inkompetente Doktoren. Saul Karoo beschließt, das verleumderische Urteil nicht zu akzeptieren. Er bricht die Untersuchung ab und bleibt ein "strammer Einsachtziger" in der Blüte seiner Jahre.
"Abspann", der Roman des 1996 mit 53 Jahren verstorbenen Drehbuchautors Steve Tesich, hat zur Hauptfigur einen jener "Stimmungsmänner", die das zwanzigste Jahrhundert zuhauf hervorbrachte. Zumindest begreift Saul Karoo die Riege der Gewaltherrscher als seine Ahnenreihe, da auch Hitler, Pol Pot, Stalin "das Rechte nur taten, wenn die Stimmung sie umfing". Durch den gemeinsamen Mangel an jeglicher "Verankerung" fühlt Saul Karoo sich den Massenmördern verwandt. Ein Leichtes ist es ihm etwa gewesen, auf dem Fragebogen des Arztes sein ganzes Leben umzufälschen, sich als jüdischen Makler und kerngesunden Nichtraucher auszugeben.
Saul Karoo, aus dessen Perspektive die im Dezember 1989 beginnende, im Juli 1991 endende Geschichte erzählt wird, hat bald nach seiner Studienzeit gelernt, "wie bequem und geistig unanstrengend es ist, ein Image zu sein". Ähnlich einer Videokassette nimmt er Eindrücke hin, ohne sie werten zu können. Nichts Eigenes ist vorhanden in Saul Karoo, dem "neuen Isotop der Menschheit". An die Stelle von Authentizität sind "Datenträgerflüssigkeiten" getreten, die vorzugsweise einer New Yorker Tageszeitung entstammen. Millionen von Bites verwahrt Karoos Hirn, damit mit ihnen die "Endloserzählung aus meinem Zeitalter" bestritten werden kann: "Die Völkermorde. Die Musicals. Die Filme."
Als personifizierte Tabula rasa ist Karoo ein legitimer Nachfahre von Robert Musils Ulrich. Während jedoch der "Mann ohne Eigenschaften" aus freien Stücken "ein Jahr Urlaub von meinem Leben" nahm, um das "motivierte Leben" zu erfahren, steht Karoo kein Kriterium zu Gebote, kraft dessen er sein abgeleitetes Dasein ändern könnte. Seine Seele ist ebenso leer wie unerreichbar, so dass die Flucht in die öffentliche Existenz die Schwundstufe der Utopie vom ganzheitlichen Menschen bildet: "Meine Antwort auf die Krise war, mir einen Bart wachsen zu lassen."
Das berufliche Umfeld der "Einheitsperson" Karoo verhindert die Genesung vom Bewusstseinsdefekt, da gerade sie den finanziellen Erfolg garantiert. Als "Scriptflicker" ist es Karoos Aufgabe, aus Filmdrehbüchern jene Windungen zu eliminieren, die durch ein Übermaß an Unkonventionalität den Handlungsablauf zum Erliegen bringen. Der "Doc" gerufene "Umschreiber" ist der Liebling der Produzenten, weil er es wie kein Zweiter versteht, "das Fett rauszuschneiden". Der Ertrag dieser Originalitätsvernichtungsarbeit bestärkt den Zyniker in seiner Meinung, dass "die Wahrheit ihre Fähigkeit verloren hat, die menschliche Beschaffenheit zu beschreiben". Nur Lügen verhindern verbale Grausamkeiten, nur durch Lügen können Menschen einander begegnen: Karoo flunkert sich ein zweites Universum herbei, in dem er ein aufoperungsvoller Familienvater, warmherziger Ehemann und mutiger Zivilbürger ist. Sobald Publikum zugegen und die Gefahr bedrückender Intimität gebannt ist, läuft der Textchirurg zu großer Form auf.
Der "Wahrheitskrankheit" genannte Zwang, in jeder Situation das Erwartete von sich geben zu müssen, hat Karoo jedoch keineswegs blind gemacht für die rettungslose Amoralität dieser Reaktionsmechanik. Vielmehr verfügt er über eine "stetig wachsende Sammlung scharfsinniger Einsichten", die von rigider Selbstkritik bis zu weinerlicher Sentimentalität reichen. Die Erkenntnisse jedoch haben ihre Verbindung zum Handeln eingebüßt. Will er nicht verzweifeln, muss Saul Karoo abermals das Weite suchen. Er flieht in die Dialektik.
Das Zauberreich der einander aufhebenden Gegensätze wird für den Vereinfacher zur Heimatinsel. Karoo darf nie mit dem Lügen aufhören, denn nur indem er sich vor der Wahrheit versteckt, kann "der Glaube an die Existenz der Wahrheit" aufrechterhalten werden. Solange er nichts sagt, hält er die Hoffnung am Leben, bei passender Gelegenheit das Entscheidende auszusprechen. Der ewige Aufschub findet seinen überzeitlichen Ausdruck in der Gottsuche des Weltraumfahrers Odysseus. Die einzige Idee zu einem eigenen Drehbuch, die Saul Karoo je hatte, bedient sich der gleichen Figur, an der Horkheimer und Adorno die Geburt der Aufklärung aus dem Mythos veranschaulichten. Während deren Held jedoch vor den Lockungen des Vergangenen zu bestehen hatte, ist Karoos Eremit den Sirenenklängen hilflos ausgeliefert. Nicht mehr durch Nostalgie, sondern mit den "Brüsten der Banalität" soll Saul-Odysseus vom Pfad abgebracht werden.
Steve Tesichs "Abspann" ist ein über fünfhundert Seiten brillant formulierter, klug durchdachter, verblüffend komischer wie abgründig trauriger Roman über den Tod eines Säkulums. Der noch verkabelte, bald drahtlos umsponnene homo technicus modelliert sein Lebensdesign aus dem Setzbaukasten. Ethnografen und Historiker späterer Generationen dürften zu "Abspann" greifen, wenn sie das Psychogramm eines prototypischen Angehörigen des späten zwanzigsten Jahrhunderts zeichnen wollen.
ALEXANDER KISSLER
Steve Tesich: "Abspann". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 523 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Jahrhundertmaske: Steve Tesich zeichnet den "Abspann"
Odysseus ist alt geworden. Der unförmige Bauch, die lückenhaften Zähne haben ihn in einen Sozialfall verwandelt. Allein steht er hinter dem Steuer seines Solarseglers und irrt durch den Weltraum. Die Mannschaft hat ihn verlassen, Ithaka ist hinter dem Horizont verschwunden. Odysseus presst die Hände an die Brust, um sich zu vergewissern, dass er noch lebt. Erst wenn Gott sich offenbart, kann die Reise enden.
Saul Karoo wiegt zu viel, trinkt in Massen und wird zusehends kleiner. Der "stramme Einsachtziger" ist in Wahrheit ein "übergewichtiger Alkoholiker jenseits der fünfzig" mit einer Körpergröße von einem Meter siebenundsiebzig. Die Diagnose aber hat keinerlei Auswirkungen auf Karoos Selbstbild. Die Erschütterung verfliegt rascher, als sie kam. Behende macht sie einer ungleich angenehmeren Stimmung Platz, der Stimmung des Streiters gegen inkompetente Doktoren. Saul Karoo beschließt, das verleumderische Urteil nicht zu akzeptieren. Er bricht die Untersuchung ab und bleibt ein "strammer Einsachtziger" in der Blüte seiner Jahre.
"Abspann", der Roman des 1996 mit 53 Jahren verstorbenen Drehbuchautors Steve Tesich, hat zur Hauptfigur einen jener "Stimmungsmänner", die das zwanzigste Jahrhundert zuhauf hervorbrachte. Zumindest begreift Saul Karoo die Riege der Gewaltherrscher als seine Ahnenreihe, da auch Hitler, Pol Pot, Stalin "das Rechte nur taten, wenn die Stimmung sie umfing". Durch den gemeinsamen Mangel an jeglicher "Verankerung" fühlt Saul Karoo sich den Massenmördern verwandt. Ein Leichtes ist es ihm etwa gewesen, auf dem Fragebogen des Arztes sein ganzes Leben umzufälschen, sich als jüdischen Makler und kerngesunden Nichtraucher auszugeben.
Saul Karoo, aus dessen Perspektive die im Dezember 1989 beginnende, im Juli 1991 endende Geschichte erzählt wird, hat bald nach seiner Studienzeit gelernt, "wie bequem und geistig unanstrengend es ist, ein Image zu sein". Ähnlich einer Videokassette nimmt er Eindrücke hin, ohne sie werten zu können. Nichts Eigenes ist vorhanden in Saul Karoo, dem "neuen Isotop der Menschheit". An die Stelle von Authentizität sind "Datenträgerflüssigkeiten" getreten, die vorzugsweise einer New Yorker Tageszeitung entstammen. Millionen von Bites verwahrt Karoos Hirn, damit mit ihnen die "Endloserzählung aus meinem Zeitalter" bestritten werden kann: "Die Völkermorde. Die Musicals. Die Filme."
Als personifizierte Tabula rasa ist Karoo ein legitimer Nachfahre von Robert Musils Ulrich. Während jedoch der "Mann ohne Eigenschaften" aus freien Stücken "ein Jahr Urlaub von meinem Leben" nahm, um das "motivierte Leben" zu erfahren, steht Karoo kein Kriterium zu Gebote, kraft dessen er sein abgeleitetes Dasein ändern könnte. Seine Seele ist ebenso leer wie unerreichbar, so dass die Flucht in die öffentliche Existenz die Schwundstufe der Utopie vom ganzheitlichen Menschen bildet: "Meine Antwort auf die Krise war, mir einen Bart wachsen zu lassen."
Das berufliche Umfeld der "Einheitsperson" Karoo verhindert die Genesung vom Bewusstseinsdefekt, da gerade sie den finanziellen Erfolg garantiert. Als "Scriptflicker" ist es Karoos Aufgabe, aus Filmdrehbüchern jene Windungen zu eliminieren, die durch ein Übermaß an Unkonventionalität den Handlungsablauf zum Erliegen bringen. Der "Doc" gerufene "Umschreiber" ist der Liebling der Produzenten, weil er es wie kein Zweiter versteht, "das Fett rauszuschneiden". Der Ertrag dieser Originalitätsvernichtungsarbeit bestärkt den Zyniker in seiner Meinung, dass "die Wahrheit ihre Fähigkeit verloren hat, die menschliche Beschaffenheit zu beschreiben". Nur Lügen verhindern verbale Grausamkeiten, nur durch Lügen können Menschen einander begegnen: Karoo flunkert sich ein zweites Universum herbei, in dem er ein aufoperungsvoller Familienvater, warmherziger Ehemann und mutiger Zivilbürger ist. Sobald Publikum zugegen und die Gefahr bedrückender Intimität gebannt ist, läuft der Textchirurg zu großer Form auf.
Der "Wahrheitskrankheit" genannte Zwang, in jeder Situation das Erwartete von sich geben zu müssen, hat Karoo jedoch keineswegs blind gemacht für die rettungslose Amoralität dieser Reaktionsmechanik. Vielmehr verfügt er über eine "stetig wachsende Sammlung scharfsinniger Einsichten", die von rigider Selbstkritik bis zu weinerlicher Sentimentalität reichen. Die Erkenntnisse jedoch haben ihre Verbindung zum Handeln eingebüßt. Will er nicht verzweifeln, muss Saul Karoo abermals das Weite suchen. Er flieht in die Dialektik.
Das Zauberreich der einander aufhebenden Gegensätze wird für den Vereinfacher zur Heimatinsel. Karoo darf nie mit dem Lügen aufhören, denn nur indem er sich vor der Wahrheit versteckt, kann "der Glaube an die Existenz der Wahrheit" aufrechterhalten werden. Solange er nichts sagt, hält er die Hoffnung am Leben, bei passender Gelegenheit das Entscheidende auszusprechen. Der ewige Aufschub findet seinen überzeitlichen Ausdruck in der Gottsuche des Weltraumfahrers Odysseus. Die einzige Idee zu einem eigenen Drehbuch, die Saul Karoo je hatte, bedient sich der gleichen Figur, an der Horkheimer und Adorno die Geburt der Aufklärung aus dem Mythos veranschaulichten. Während deren Held jedoch vor den Lockungen des Vergangenen zu bestehen hatte, ist Karoos Eremit den Sirenenklängen hilflos ausgeliefert. Nicht mehr durch Nostalgie, sondern mit den "Brüsten der Banalität" soll Saul-Odysseus vom Pfad abgebracht werden.
Steve Tesichs "Abspann" ist ein über fünfhundert Seiten brillant formulierter, klug durchdachter, verblüffend komischer wie abgründig trauriger Roman über den Tod eines Säkulums. Der noch verkabelte, bald drahtlos umsponnene homo technicus modelliert sein Lebensdesign aus dem Setzbaukasten. Ethnografen und Historiker späterer Generationen dürften zu "Abspann" greifen, wenn sie das Psychogramm eines prototypischen Angehörigen des späten zwanzigsten Jahrhunderts zeichnen wollen.
ALEXANDER KISSLER
Steve Tesich: "Abspann". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 523 S., geb., 48,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Alexander Kissler offenbart sich selbst beinahe als Zyniker, wenn er anmerkt, dass in ferner Zukunft dieser Roman Historikern und Ethnografen als Idealquelle dienen dürfte bei der Erforschung des "Psychogramms eines prototypischen Angehörigen des späten zwanzigsten Jahrhunderts". Denn Saul Karoo, der Held des Romans, steht gewissermaßen unter Flunker-Zwang, er muss immer mindestens ein Parallel-Universum parat haben, um das von ihm selbst kreierte Image von sich bewahren zu können. Das Schlimmste ist für Karoo, so der Rezensent, Intimität, etwas eigenes in sich zu tragen, etwas Individuelles, Authentizität. Hier bastele einer "sein Lebensdesign aus dem Setzbaukasten". Aber so angeekelt sich Kissler von Karoo und Co. fühlt, so begeistert schwärmt er für Tesichs Roman selbst. "Brilliant formuliert, klug durchdacht, verblüffend komisch und abgründig traurig", so lautet nur ein Ausschnitt der Lobeshymne Alexander Kisslers.
© Perlentaucher Medien GmbH
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