Martin Rhonheimer hangelt sich am Ungeborenen entlang
Ist die Behandlung der Ungeborenen im Blick auf die Abtreibungsregelung gerecht? Martin Rhonheimer, Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, verneint diese Frage erwartungsgemäß mit Vehemenz. Der Fötus sei Rechtsträger, weil er vom Beginn seiner Existenz an Person sei. "Der Fötus entwickelt sich nicht zum Menschen, sondern er entwickelt sich als Mensch. Und: Er entwickelt sich nicht zur Person, sondern als Person."
Anders als beispielsweise für Norbert Hoerster ist für Rhonheimer die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies also keineswegs ein rein biologisches Merkmal. Der Fehler Hoersters besteht laut Rhonheimer darin, daß er nicht sauber zwischen den Fragen "Wer ist ein menschliches Individuum?" und "Was ist ein menschliches Individuum?" unterscheidet. Über die Zugehörigkeit eines Individuums zur menschlichen Spezies entscheiden auch nach Rhonheimer selbstverständlich biologische Merkmale. Daraus lasse sich aber nicht schließen, daß die Tatsache dieser Zugehörigkeit ausschließlich biologische Relevanz besitze. "Es ist durchaus möglich, daß die bloße Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies durchaus sehr viel mehr bedeutet und beinhaltet als nur etwas rein ,Biologisches'."
Durch den Nachweis einer solchen Möglichkeit braucht sich ein Kontrahent Rhonheimers freilich noch nicht entwaffnet zu sehen. Der Umstand, daß etwas möglich ist, bedeutet noch lange nicht, daß es sich wirklich so verhält. Vor allem aber ist noch gänzlich offen, worin der Inhalt des von Rhonheimer beschworenen menschlichen Mehrwerts liegen soll. Rhonheimer sieht dieses Problem. Die "alles entscheidende Frage" lautet dementsprechend für ihn: "Was bedeutet es eigentlich, Angehöriger der Spezies Homo sapiens zu sein?" Der Antwort widmet er dann allerdings nicht mehr als eine halbe Zeile seines Buches. Menschsein, so versichert er uns, bedeute "sehr viel". Juristen würden eine solche Auskunft als unsubstantiiert bezeichnen und sie aus dem weiteren Prozeß der Wahrheitsfindung ausscheiden.
Rhonheimer scheint selbst zu spüren, daß er an der entscheidenden Stelle gekniffen hat. Deshalb rückt er in seinen weiteren Ausführungen ein anderes Argument in den Vordergrund. Dieses Argument ist ontologischer Natur und besagt, daß nur Personen die Eigenschaften von Personen entwickeln können. Deshalb seien Individuen, die der Spezies Homo sapiens angehören, auch dann schon Personen, wenn sie die charakterlichen Eigenschaften von Personen noch gar nicht oder erst teilweise entfaltet hätten. Diese Beweisführung hat aber ebenfalls ihre Tücken. Jede Person ist auf nichtpersonale Entstehungsvoraussetzungen angewiesen. Auch Rhonheimer hält es für selbstverständlich, daß die menschlichen Gameten, aus denen die Person entsteht, ihrerseits keine Personalität besitzen. Empfängnisverhütung ist kein Tötungsdelikt. Um das ontologische Argument Rhonheimers anwenden zu können, muß man deshalb die eigentlich streitige Frage bereits beantwortet haben. Man muß wissen, welche Merkmale eine Person ausmachen.
Rhonheimer selbst stellt insofern darauf ab, daß menschliches Leben zwar erst einmal entstanden sein muß, sich aber nach diesem Zeitpunkt gemäß dem natürlichen Lauf der Dinge zu voller Personalität zu entfalten pflegt. Diese Auffassung ist für sich genommen allerdings nicht mehr und nicht weniger zwingend als die Position Hoersters, der die entscheidende Zäsur in der Entstehung eines Überlebensinteresses erblickt. Sie entkräftet daher diese Position nicht, sondern stellt ihr lediglich eine alternative Sichtweise an die Seite. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Optionen läßt sich dann schwerlich anders als durch einen Blick auf ihre jeweiligen Konsequenzen treffen. Auch Rhonheimer verweist zuletzt darauf, daß die von einer Interessenethik à la Hoerster vorgenommene "Unterordnung des Seins unter das Bewußtsein eine nicht zu unterschätzende Gefährdung elementarer Humanität" sei. Nach Rhonheimers Absicht sollte dieser Hinweis nur zur Abrundung seiner vorangegangenen Ausführungen dienen. Tatsächlich stellt er hingegen den Pfeiler dar, der das ganze Gebäude tragen muß.
Die Konsequenzen dieses so mühsam begründeten Personbegriffs für die Beurteilung der Abtreibung liegen auf der Hand. Wer abtreibt, tötet eine unschuldige Person und handelt deshalb verwerflich. Nunmehr sind es vorwiegend theologische Kontrahenten Rhonheimers, die dieser in das Fadenkreuz seiner Kritik nimmt. Mit scharfen Worten attackiert Rhonheimer das Güterabwägungsdenken, das in der deutschsprachigen Moraltheologie der letzten Jahrzehnte einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt hat. Rhonheimers Bedenken entsprechen den üblichen Einwänden gegen konsequentialistische Begründungsmodelle. Auf Grund der Methode der Güterabwägung könne jede Verhaltensweise grundsätzlich gerechtfertigt werden. Es gibt dann keine Handlungen mehr, "die prinzipiell, unabhängig von einer solchen Abwägung von Gütern und Folgen als ,in sich' unsittlich gelten können".
Um so überraschender ist es freilich, daß Rhonheimer ebenjene Güterabwägung, die er für moralisch unzulässig hält, als Methode der rechtlichen Konfliktbehandlung durchaus zu akzeptieren scheint. So konzediert er, daß der Staat Abtreibungen, die zur Abwendung einer Gefahr für das Leben der Mutter durchgeführt werden, nicht unter Strafe stellen solle. Der Staat dürfe die Mutter nicht zur Aufopferung ihres Lebens zwingen, und außerdem gehe es hier "um zwei gleichwertige Güter".
Aber auch im Rahmen seiner moraltheologischen Erörterungen kommt Rhonheimer nicht ohne einen versteckten Rückgriff auf den Güterabwägungsgedanken aus. Für den Extremfall, daß ansonsten sowohl die Mutter als auch das Kind sterben würden, läßt auch Rhonheimer einen Eingriff zu, der zwar das Leben der Mutter rettet, aber zum Tode des Ungeborenen führt. Die Norm, welche die Tötung eines Menschen verbiete, erscheine in diesem Fall "schlicht sinn- und gegenstandslos". Die Natur selbst habe hier ihr Urteil über das Kind bereits gesprochen. Deshalb beinhalte der physische Akt des Tötens hier "gerade keine Willensentscheidung, einen anderen Menschen seines Lebens zu berauben". Genaugenommen trifft dies nicht zu. Der behandelnde Arzt trifft sehr wohl eine Entscheidung. Er entscheidet, das ungeborene Kind zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt und auf die von ihm gewählte Weise zu Tode zu bringen. Wenn Rhonheimers Argumentation dennoch intuitiv plausibel erscheint, so verdankt sie dies einer unausgesprochenen Zusatzannahme. Die Lebenschancen, welche dem Kind auf Grund der Entscheidung des Arztes entgehen, sind nämlich äußerst geringfügig, während auf der anderen Seite die Rettung der Mutter steht. Was unterscheidet dieses Hintergrundargument aber noch von der Güterabwägung?
Die Freuden und die Leiden der Rigorosität liegen in Rhonheimers Buch nahe beieinander. Als kräftiger Kontrapunkt zur herrschenden Stimmung des Laissez-faire in Abtreibungsdingen hat es freilich allemal seine Berechtigung.
MICHAEL PAWLIK.
Martin Rhonheimer: "Abtreibung und Lebensschutz". Tötungsverbot und Recht auf Leben in der politischen und medizinischen Ethik. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2004. 236 S., br., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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