Gregor Sander erzählt mit frappierender Lakonie und Leichtigkeit von unserer Gegenwart und unserem Gewordensein, nie sentimental und doch voller Gefühl.Christoph Radtke, Anfang 30, hätte es schlechter treffen können. Zwar hat er unlängst die Arbeit verloren, aber zusammen mit seinem Kumpel Robert lässt er sich' s auf dem Dach eines Berliner Mietshauses gutgehen, und wirklich Sorgen um sein Auskommen scheint er sich nicht zu machen. Gerade wird er von seiner Mutter nach Schwerin ins Elternhaus gerufen, weil die in den Urlaub nach Lanzarote fahren will: Er soll sich um seinen Vater kümmern, der nach einem Schlaganfall seit Monaten im Wachkoma liegt. Eigentlich erledigt das aber routiniert schon Kristina, eine junge Bulgarin, die von der Zeit schwärmt, als sie in ihrer Heimat noch in renommierten Orchestern gespielt hat. Christoph legt sich an den in die Jahre gekommenen Pool; seinerzeit - Baujahr 1974 - war er der einzige in der Stadt, steingewordenes Zeichen für die Kraft der gutbürgerlichen Familie, der sozialistischen Tristesse zu trotzen. Aber Christoph will von der Vergangenheit nichts wissen und wartet auf eine Zukunft. Hier will einer seine Ruhe haben und wird sie nicht bekommen. Wer war sein Vater und was wollte er denn vom Dasein? Das Schweigen des Vaters im Leben wie im Sterben wird gebrochen durch einen merkwürdigen Brief aus der Schweiz. Der Sohn ist plötzlich mehr in Bewegung als ihm lieb ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2007Ödipus am Pool
Blühende Seelenlandschaften: Gregor Sander erzählt in seinem Familienroman "Abwesend" von den Rissen in einer ostdeutschen Eigenheimidylle.
Von Beate Tröger
Eine Küste mit Segelboot am Horizont auf dem Umschlag, aber dahinter verbirgt sich kein leichter Sommerroman. Ein Architekt, die Schweiz, die uneheliche Tochter eines Technokraten und zahlreiche Rückblenden, aber ob es sich um eine Revision von Max Frischs "Homo faber" handelt, soll hier unentschieden bleiben. Was der 1968 in Schwerin geborene Gregor Sander vorlegt, ist ein schmaler Roman aus der Ecke der Verstörungsliteratur.
Erzählt wird aus Sicht des Sohnes Christoph die Geschichte der Familie Radtke. Der seit eh und je wortkarge, emotional vereiste Vater Radtke, einst Professor für Bauwesen an der Technischen Hochschule Wismar, liegt nach einem zweiten Schlaganfall zum endgültigen Schweigen verdammt im Wachkoma. Die Mutter, die zu DDR-Zeiten die inzwischen erwachsenen, dem elterlichen Nest entflogenen Kinder Gerd, Astrid und Christoph aufgezogen hat, will verreisen. Sie bittet Christoph ins Elternhaus in der Kleinstadt. Für die Pflege hat sie die junge Bulgarin Kristina engagiert, der Sohn soll einfach nur anwesend sein. Ein Roman über Krankheit und Altern also? Allzu sehr vertieft der Roman diesen Aspekt letztlich nicht.
Widerwillig erklärt sich Christoph zum Besuch bereit, bleibt aber innerlich auf Abstand. Mit der Ankunft in Schwerin setzt die Erinnerung ein - im Sommer 2003 am Swimmingpool im Familiengarten. Vom Vater eigenhändig ausgehoben, war der Pool Anziehungspunkt für die eigenen und die Nachbarskinder, erlesene Krönung eines ostdeutschen Eigenheimfamilienglücks. Jetzt sieht er "etwas heruntergekommen aus, die hellblauen Fliesen haben Risse bekommen", ein Sinnbild des Elends der Familie. Risse ziehen sich auch durch Träume und Lebensentwürfe ihrer Mitglieder. Die Mutter hat ihr Leben bis in die Anzahl der täglich gerauchten Zigaretten hinein ritualisiert. Dass sie Christoph gleich zu Beginn des Romans des Wunsches verdächtigt, den Vater zu ermorden, mutet fast wie eine Projektion an. Astrid hat die disziplinierte, fassadenhafte Haltung der Mutter übernommen. Gerd lebt in sich verkapselt als Alkoholiker von Sozialhilfe im Plattenbau am Stadtrand. Christoph schließlich hat die Flucht nach Berlin angetreten, ist ein unambitionierter Architekt geworden. Seine Beziehung ist gescheitert, seinen Job hat er verloren, und er hat wenig Lust auf einen neuen. Ödipuskomplexe wohin man schaut, die Neurosen blühen prächtig.
Die Rückblenden reichen immer weiter zurück, bis noch ein weiterer Riss sichtbar wird. Ein Brief aus der Schweiz erreicht den Vater. Christoph erfährt daraus von der Existenz einer unehelichen Schwester. Er macht sich auf die Suche, die ihn nach Zürich führt und in ihrer Schrecklichkeit jedenfalls für Frisch-Leser keinen ganz unerwarteten Verlauf nimmt.
Mit Freud und Frisch.
Schicht für Schicht legt "Abwesend" die Psychopathologien der Figuren frei, mal analytisch, dann wieder metaphorisch und anekdotisch. Andeutungen, Verknappungen und Zeitsprünge halten die Lektüre spannend. Am Ende bleibt aber so vieles offen, dass der Anspielungsreichtum von Freud bis Frisch im luftleeren Raum hängenbleibt. Da wirkt dann manche Einsicht banal. Dass es im Leben womöglich weniger Schuld gibt als unselige Verwicklungen gehört ebenso dazu wie die Einsichten, dass ein abwesender Vater wohl keine allzu glücklichen Kinder aufziehen wird und Eltern die eigenen Störungen gerne an die nächste Generation weiterreichen.
Seinen eigenen Ton hat der Autor, der 2002 mit Erzählungen über Innenansichten von Außenseitern unter dem Titel "Ich aber bin hier geboren" manchem Kritiker Lob entlockte, gefunden. In der Themenvielfalt und den Handlungssträngen des Romans verheddert er sich allerdings. Fesselnd bleibt, wie knappe, meist treffsichere Beobachtungen die Figuren in unmittelbare Nähe des Lesers rücken. Man darf von diesem Autor noch mehr erwarten.
- Gregor Sander: "Abwesend". Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 156 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Blühende Seelenlandschaften: Gregor Sander erzählt in seinem Familienroman "Abwesend" von den Rissen in einer ostdeutschen Eigenheimidylle.
Von Beate Tröger
Eine Küste mit Segelboot am Horizont auf dem Umschlag, aber dahinter verbirgt sich kein leichter Sommerroman. Ein Architekt, die Schweiz, die uneheliche Tochter eines Technokraten und zahlreiche Rückblenden, aber ob es sich um eine Revision von Max Frischs "Homo faber" handelt, soll hier unentschieden bleiben. Was der 1968 in Schwerin geborene Gregor Sander vorlegt, ist ein schmaler Roman aus der Ecke der Verstörungsliteratur.
Erzählt wird aus Sicht des Sohnes Christoph die Geschichte der Familie Radtke. Der seit eh und je wortkarge, emotional vereiste Vater Radtke, einst Professor für Bauwesen an der Technischen Hochschule Wismar, liegt nach einem zweiten Schlaganfall zum endgültigen Schweigen verdammt im Wachkoma. Die Mutter, die zu DDR-Zeiten die inzwischen erwachsenen, dem elterlichen Nest entflogenen Kinder Gerd, Astrid und Christoph aufgezogen hat, will verreisen. Sie bittet Christoph ins Elternhaus in der Kleinstadt. Für die Pflege hat sie die junge Bulgarin Kristina engagiert, der Sohn soll einfach nur anwesend sein. Ein Roman über Krankheit und Altern also? Allzu sehr vertieft der Roman diesen Aspekt letztlich nicht.
Widerwillig erklärt sich Christoph zum Besuch bereit, bleibt aber innerlich auf Abstand. Mit der Ankunft in Schwerin setzt die Erinnerung ein - im Sommer 2003 am Swimmingpool im Familiengarten. Vom Vater eigenhändig ausgehoben, war der Pool Anziehungspunkt für die eigenen und die Nachbarskinder, erlesene Krönung eines ostdeutschen Eigenheimfamilienglücks. Jetzt sieht er "etwas heruntergekommen aus, die hellblauen Fliesen haben Risse bekommen", ein Sinnbild des Elends der Familie. Risse ziehen sich auch durch Träume und Lebensentwürfe ihrer Mitglieder. Die Mutter hat ihr Leben bis in die Anzahl der täglich gerauchten Zigaretten hinein ritualisiert. Dass sie Christoph gleich zu Beginn des Romans des Wunsches verdächtigt, den Vater zu ermorden, mutet fast wie eine Projektion an. Astrid hat die disziplinierte, fassadenhafte Haltung der Mutter übernommen. Gerd lebt in sich verkapselt als Alkoholiker von Sozialhilfe im Plattenbau am Stadtrand. Christoph schließlich hat die Flucht nach Berlin angetreten, ist ein unambitionierter Architekt geworden. Seine Beziehung ist gescheitert, seinen Job hat er verloren, und er hat wenig Lust auf einen neuen. Ödipuskomplexe wohin man schaut, die Neurosen blühen prächtig.
Die Rückblenden reichen immer weiter zurück, bis noch ein weiterer Riss sichtbar wird. Ein Brief aus der Schweiz erreicht den Vater. Christoph erfährt daraus von der Existenz einer unehelichen Schwester. Er macht sich auf die Suche, die ihn nach Zürich führt und in ihrer Schrecklichkeit jedenfalls für Frisch-Leser keinen ganz unerwarteten Verlauf nimmt.
Mit Freud und Frisch.
Schicht für Schicht legt "Abwesend" die Psychopathologien der Figuren frei, mal analytisch, dann wieder metaphorisch und anekdotisch. Andeutungen, Verknappungen und Zeitsprünge halten die Lektüre spannend. Am Ende bleibt aber so vieles offen, dass der Anspielungsreichtum von Freud bis Frisch im luftleeren Raum hängenbleibt. Da wirkt dann manche Einsicht banal. Dass es im Leben womöglich weniger Schuld gibt als unselige Verwicklungen gehört ebenso dazu wie die Einsichten, dass ein abwesender Vater wohl keine allzu glücklichen Kinder aufziehen wird und Eltern die eigenen Störungen gerne an die nächste Generation weiterreichen.
Seinen eigenen Ton hat der Autor, der 2002 mit Erzählungen über Innenansichten von Außenseitern unter dem Titel "Ich aber bin hier geboren" manchem Kritiker Lob entlockte, gefunden. In der Themenvielfalt und den Handlungssträngen des Romans verheddert er sich allerdings. Fesselnd bleibt, wie knappe, meist treffsichere Beobachtungen die Figuren in unmittelbare Nähe des Lesers rücken. Man darf von diesem Autor noch mehr erwarten.
- Gregor Sander: "Abwesend". Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 156 S., geb., 16,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Die Rezensentin Antje Korsmeier ist offenkundig enttäuscht von diesem Romandebüt von Gregor Sander. Es vermittelt ihr das Gefühl, all das "schon mal woanders gelesen zu haben. Und zwar besser". Problematisch findet sie unter anderem, dass der Anfang der Geschichte Erwartungen weckt, die die weitere Entwicklung nicht einhalten kann. Und obwohl Sander nach Meinung der Rezensentin sein Handwerk versteht, ist sie doch von den stilistischen Details von "abwesend" wenig angetan. Beispielsweise stört sie der "dahinplätschernde Tonfall", der das Leiden seiner Protagonisten nur beschreibt, statt es mit Leben zu füllen. Auch findet er die Art und Weise, wie die Charaktere gezeichnet werden, etwas plump. Das zentrale Problem ist nach Korsmeiers Meinung jedoch, dass der Roman inhaltlich einfach überfrachtet ist: "So bleibt wenig Raum für Nuancen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Sehr hübsch sind die vielen kleinen Beobachtungen zum Alltag einer durchaus privilegierten Familie in der DDR.« (Christian Ruf, Dresdner Neueste Nachrichten, 05.03.2018)