Die Auseinandersetzung mit der Rolle von Antisemitismus und Judenfeindschaft für das Werk Aby Warburgs (1866-1929), die Charlotte Schoell-Glass unternimmt, zählt zu den interessantesten neueren Annäherungen an das Werk des bedeutenden Kunsthistorikers. Die Autorin zeigt, daß zentrale Motive dieses Werks in engem Zusammenhang gesehen werden müssen mit Warburgs Reaktion auf den Antisemitismus, dem er mit 'geistespolitischen' Maßnahmen zu begegnen suchte. Dabei geht es nicht um eine psychologische Erforschung von Warburgs subjektiven Motiven, sondern um die Interpretation seines Lebenswerks aus einem bisher weitgehend ausgeklammerten Blickwinkel. Eine Interpretation, die sich vor allem auf unerschlossene Quellen stützt und Warburgs Versuch der Erklärung tiefliegender kultureller Prägungen menschlicher Verhaltensweisen in neuem Licht zeigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.1999Sonette an Orpheus
Wie Aby Warburg den Dämon des Antisemitismus zu bannen suchte
"Desch ischt e Jud!" rief das "widerliche Volk" in Straßburg dem jungen Studenten Aby Warburg mehrmals täglich auf der Straße nach, wie der junge Mann 1889 an die Mutter berichtete. Ihn deprimierten die Vorfälle um so mehr, als er sich "unter stillschweigender Anerkennung aller Menschen" in Ruhe auf seine philosophischen Studien konzentrieren wollte. Zum ersten Mal trat Warburg sein "ausgesprochen orientalischer Anstrich" vor Augen. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, daß er sich "später praktisch der Lösung der Judenfrage zuzuwenden" habe.
Später verfolgte er allerdings dieses Ziel nicht konsequent weiter. Wie die Mehrheit der deutsch-jüdischen Elite seiner Zeit befand er sich in einem Dilemma. 1912 sah er sich als "überzeugten Futuristen", "der zwischen den Stühlen der ,Zionisten' und ,Assimilanten' nicht allzu bequem" saß.
Bereits früh gab er die Praxis des jüdischen Glaubens auf; Konflikte mit seiner Familie nahm er in Kauf; 1907 bezeichnete er sich als "Dissident". Parallel dazu wurde ihm allerdings bewußt, daß im spätwilhelminischen Kaiserreich der Antisemitismus immer frecher auftrat. Warburg reagierte auf typische wie auch sehr persönliche Weise: Im unbedingten Glauben an den aufklärerischen Impuls der Kulturwissenschaft begründet er die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, die nach dem Umzug in die Hamburger Heilwigstraße im Jahr 1926 endgültig einen öffentlichen Charakter hatte und vor allem über die Vortragsveranstaltungen und Publikationen nach außen wirkte. Die Bibliothek sollte als "Pädagogium für den Deutschen" dienen, was ihm sinnvoller erschien als eine "inhaltlich leere Aufforderung zur Abwehr des Antisemitismus". Diesem Programmsatz aus dem Eröffnungsjahr gingen durchaus konkrete politische Stellungnahmen voraus, vor allem in Abstimmung mit dem Bruder und Bankier Max, etwa bei dessen Streitschrift "Ein Gebot der Stunde (Die Judenfrage)" von 1916, die zugunsten jüdischer Rechte im Militär intervenierte.
Charlotte Schoell-Glas verfolgt dies alles in ihrer Habilitationsschrift, die nun erfreulicherweise als Taschenbuch leicht zugänglich ist, anhand umfangreicher Archivalien aus dem Warburg Institute in London. Wichtiger noch als die Arbeit an der äußeren Biographie ist das Bemühen der Autorin, den "Zweifrontenkrieg" Warburg auch in dessen wissenschaftlichem Werk als ein bedeutsames Movens aufzuspüren. Ernst Gombrich überging das Thema in seiner "Intellectual Biography" von 1970; die Autorin knüpft an Thesen von Hans Liebeschütz, Anne Marie Meyers und anderen an.
Im Manuskript des um das Orpheusthema kreisenden Vortrags "Dürer und die italienische Antike", den Warburg am 5. Oktober 1905 in Hamburg hielt, ist eine Reportage über einen bestialischen Mord an einer jungen Frau in Rußland durch Kosaken aus demselben Jahr eingeklebt. Auf dem Höhepunkt des grausamen Geschehens, beim förmlichen Zerreißen der Lehrerin, rufen die Mörder vollkommen entfesselt "Schlagt die Studenten und Juden tot!" Der Zerreißung des lichthaften Orpheus bei Dürer wird die Brutalität eines tagesaktuellen Geschehens assoziativ gegenübergestellt. Auch wenn der Kaukasus noch weit entfernt war, registrierte Warburg die Parallele mit entsetztem Interesse und notierte lakonisch dazu: "Der Tod des Orpheus. Die Rückkehr der ewig gleichen Bestie, gen.: homo sapiens." Dem Juden Warburg war die potentielle Gefährdung des eigenen Zerrissenwerdens immer gegenwärtig. Akribisch sammelte er auch unterschiedlichstes Material zum Thema Antisemitismus für die Bibliothek, vom Zeitungsausschnitt bis zur Hetzschrift.
Im Prozeß einer kontinuierlichen Selbstaufklärung versuchte der Gelehrte, diese Bedrohung und ihre jeweilige Bewältigung in verschiedenen historischen Momenten nachzuweisen und im wissenschaftlichen Argument zu bannen. Bereits die frühen Beiträge zum florentinischen Patrizier Francesco Sassetti lesen sich mit Schoell-Glas neu: Der Florentiner Kaufmann an der "unheimlichen Kreuzung feindlicher Heerstraßen zwischen dunklem Mittelalter und heller Neuzeit" ist auch der Hamburger Bankierssohn Aby Warburg selbst, der zwischen Identifikation und Assimilation als Jude seinen Weg sucht. In Albrecht Dürer findet der Hamburger jenseits aller Deutschtümelei die "plastische Verkörperung des denkenden Arbeitsmenschen", wie er es in seinem Aufsatz zu Dürers Kupferstich Melancolia I formuliert. Der Nürnberger Künstler habe den "kinderfressenden, finsteren Planetendämon durch humanisierende Metamorphose" überwinden können. Dies blieb für den unruhigen Warburg selbst ein Wunschbild, auch wenn er die Dämonen durch disziplinierte Arbeit, hochschulpolitisches Engagement und den weiteren Aufbau der Bibliothek zu fesseln versuchte.
Der psychische Zusammenbruch Warburgs nach 1918 kann nicht monokausal aus dem Assimilationskonflikt des Hamburger Deutschjuden erklärt werden. Und doch ist nach dem Quellenstudium der Autorin anzunehmen, daß die antisemitischen Erfahrungen des Hamburgers während und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zum Zusammenbruch beigetragen haben. Warburgs Pädagogik scheiterte. Bei Rembrandt spürte er 1926 eine "innerlich patriotisch gestimmte verzweifelte Sachlichkeit" auf. Schöner, aber auch tragischer hätte Aby Warburg seine eigene Haltung nicht umschreiben können. VOLKER GEBHARDT
Charlotte Schoell-Glas: "Aby Warburg und der Antisemitismus". Kulturwissenschaft als Geistespolitik. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1998. 317 S., 10 Abb., br., 29,90 DM.
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Wie Aby Warburg den Dämon des Antisemitismus zu bannen suchte
"Desch ischt e Jud!" rief das "widerliche Volk" in Straßburg dem jungen Studenten Aby Warburg mehrmals täglich auf der Straße nach, wie der junge Mann 1889 an die Mutter berichtete. Ihn deprimierten die Vorfälle um so mehr, als er sich "unter stillschweigender Anerkennung aller Menschen" in Ruhe auf seine philosophischen Studien konzentrieren wollte. Zum ersten Mal trat Warburg sein "ausgesprochen orientalischer Anstrich" vor Augen. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, daß er sich "später praktisch der Lösung der Judenfrage zuzuwenden" habe.
Später verfolgte er allerdings dieses Ziel nicht konsequent weiter. Wie die Mehrheit der deutsch-jüdischen Elite seiner Zeit befand er sich in einem Dilemma. 1912 sah er sich als "überzeugten Futuristen", "der zwischen den Stühlen der ,Zionisten' und ,Assimilanten' nicht allzu bequem" saß.
Bereits früh gab er die Praxis des jüdischen Glaubens auf; Konflikte mit seiner Familie nahm er in Kauf; 1907 bezeichnete er sich als "Dissident". Parallel dazu wurde ihm allerdings bewußt, daß im spätwilhelminischen Kaiserreich der Antisemitismus immer frecher auftrat. Warburg reagierte auf typische wie auch sehr persönliche Weise: Im unbedingten Glauben an den aufklärerischen Impuls der Kulturwissenschaft begründet er die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, die nach dem Umzug in die Hamburger Heilwigstraße im Jahr 1926 endgültig einen öffentlichen Charakter hatte und vor allem über die Vortragsveranstaltungen und Publikationen nach außen wirkte. Die Bibliothek sollte als "Pädagogium für den Deutschen" dienen, was ihm sinnvoller erschien als eine "inhaltlich leere Aufforderung zur Abwehr des Antisemitismus". Diesem Programmsatz aus dem Eröffnungsjahr gingen durchaus konkrete politische Stellungnahmen voraus, vor allem in Abstimmung mit dem Bruder und Bankier Max, etwa bei dessen Streitschrift "Ein Gebot der Stunde (Die Judenfrage)" von 1916, die zugunsten jüdischer Rechte im Militär intervenierte.
Charlotte Schoell-Glas verfolgt dies alles in ihrer Habilitationsschrift, die nun erfreulicherweise als Taschenbuch leicht zugänglich ist, anhand umfangreicher Archivalien aus dem Warburg Institute in London. Wichtiger noch als die Arbeit an der äußeren Biographie ist das Bemühen der Autorin, den "Zweifrontenkrieg" Warburg auch in dessen wissenschaftlichem Werk als ein bedeutsames Movens aufzuspüren. Ernst Gombrich überging das Thema in seiner "Intellectual Biography" von 1970; die Autorin knüpft an Thesen von Hans Liebeschütz, Anne Marie Meyers und anderen an.
Im Manuskript des um das Orpheusthema kreisenden Vortrags "Dürer und die italienische Antike", den Warburg am 5. Oktober 1905 in Hamburg hielt, ist eine Reportage über einen bestialischen Mord an einer jungen Frau in Rußland durch Kosaken aus demselben Jahr eingeklebt. Auf dem Höhepunkt des grausamen Geschehens, beim förmlichen Zerreißen der Lehrerin, rufen die Mörder vollkommen entfesselt "Schlagt die Studenten und Juden tot!" Der Zerreißung des lichthaften Orpheus bei Dürer wird die Brutalität eines tagesaktuellen Geschehens assoziativ gegenübergestellt. Auch wenn der Kaukasus noch weit entfernt war, registrierte Warburg die Parallele mit entsetztem Interesse und notierte lakonisch dazu: "Der Tod des Orpheus. Die Rückkehr der ewig gleichen Bestie, gen.: homo sapiens." Dem Juden Warburg war die potentielle Gefährdung des eigenen Zerrissenwerdens immer gegenwärtig. Akribisch sammelte er auch unterschiedlichstes Material zum Thema Antisemitismus für die Bibliothek, vom Zeitungsausschnitt bis zur Hetzschrift.
Im Prozeß einer kontinuierlichen Selbstaufklärung versuchte der Gelehrte, diese Bedrohung und ihre jeweilige Bewältigung in verschiedenen historischen Momenten nachzuweisen und im wissenschaftlichen Argument zu bannen. Bereits die frühen Beiträge zum florentinischen Patrizier Francesco Sassetti lesen sich mit Schoell-Glas neu: Der Florentiner Kaufmann an der "unheimlichen Kreuzung feindlicher Heerstraßen zwischen dunklem Mittelalter und heller Neuzeit" ist auch der Hamburger Bankierssohn Aby Warburg selbst, der zwischen Identifikation und Assimilation als Jude seinen Weg sucht. In Albrecht Dürer findet der Hamburger jenseits aller Deutschtümelei die "plastische Verkörperung des denkenden Arbeitsmenschen", wie er es in seinem Aufsatz zu Dürers Kupferstich Melancolia I formuliert. Der Nürnberger Künstler habe den "kinderfressenden, finsteren Planetendämon durch humanisierende Metamorphose" überwinden können. Dies blieb für den unruhigen Warburg selbst ein Wunschbild, auch wenn er die Dämonen durch disziplinierte Arbeit, hochschulpolitisches Engagement und den weiteren Aufbau der Bibliothek zu fesseln versuchte.
Der psychische Zusammenbruch Warburgs nach 1918 kann nicht monokausal aus dem Assimilationskonflikt des Hamburger Deutschjuden erklärt werden. Und doch ist nach dem Quellenstudium der Autorin anzunehmen, daß die antisemitischen Erfahrungen des Hamburgers während und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zum Zusammenbruch beigetragen haben. Warburgs Pädagogik scheiterte. Bei Rembrandt spürte er 1926 eine "innerlich patriotisch gestimmte verzweifelte Sachlichkeit" auf. Schöner, aber auch tragischer hätte Aby Warburg seine eigene Haltung nicht umschreiben können. VOLKER GEBHARDT
Charlotte Schoell-Glas: "Aby Warburg und der Antisemitismus". Kulturwissenschaft als Geistespolitik. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1998. 317 S., 10 Abb., br., 29,90 DM.
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