Wie Mutter und Tochter leben Bonaria Urrai und die sechsjährige Maria zusammen. Die Bewohner des sardischen Dorfes sehen den beiden verwundert nach und tuscheln, wenn sie die Straße hinunterlaufen. Dabei ist alles ganz einfach: Die alte Schneiderin hat das Mädchen zu sich genommen und zieht es groß, dafür wird Maria sich später um sie kümmern. Als vierte Tochter einer bitterarmen Witwe war Maria daran gewöhnt, »die Letzte« und eine zuviel zu sein. Nun hat sie ein eigenes Zimmer in dem großen reinlichen Haus Bonarias, wo alle Türen offen stehen und sie jeden Raum betreten darf. Doch ein Geheimnis umweht die stets schwarz gekleidete, wortkarge Frau, die mitunter nachts, wenn Maria schlafen soll, Besuch erhält und dann das Haus verlässt. Es scheint, als würde Bonaria in zwei Welten leben. Das Mädchen spürt, dass sie nicht danach fragen darf. Erst sehr spät entdeckt sie die ganze Wahrheit. Michela Murgia erzählt in einer schnörkellosen, poetischen Sprache aus einer scheinbar fernen, doch kaum vergangenen Welt. Von zwei Generationen, zwei Frauenleben, von einem alten, lange verschwiegenen Beruf. Dieser Roman ist sinnlich, radikal und verblüffend gegenwärtig.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wirklich gegeben hat es die "Accabadora" des Titels, also die Frau, die Sterbenden zum Tode hilft, mutmaßlich nie. Was Michela Murgia in ihrem Romandebüt erzählt, ist also eher eine sardische Legende. Daran, dass dieser Roman realitätsgesättigt und so "poetisch" wie "nüchtern" (lobt Jutta Person) von der italienischen Insel und ihren Bewohnern erzählt, ändert das freilich nichts. Um Adoption geht es, um das Verlassen der Insel und um die Rückkehr, aber an keiner Stelle werde daraus ein Stück Nostalgie. Kein Wunder auch, findet Person, bei einer Autorin, die sich auf ihrer Website heftig in die Gegenwart einmischt und mit einem Tagebuch ihres Leidens als Callcenter-Mitarbeiterin debütierte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2010Es ist eine Schneiderin, die heißt Tod
Sardiniens Mythen: Michela Murgias dichtes Debüt
In abgelegenen, kargen, sonnenversengten Landstrichen brodelt unter dem Firnis der Zivilisation eine archaische Welt - seit mehr als hundert Jahren ist dies ein fruchtbares Thema der italienischen Literatur, von Giovanni Verga bis Carlo Levi. Zu den Territorien des Archaischen zählt Sardinien, die geographisch und sprachlich isolierte Insel, stummes Gegenstück zur alten Kulturregion Sizilien.
Michela Murgia wählt in ihrem Erstlingsroman "Accabadora" zwei der urtümlichen sardischen Bräuche als zentrale Motive: Das Kind einer armen Mutter kann als "Kind der Seele" (fillus de anima beziehungsweise fill'e anima) von einer begüterten, kinderlosen Frau adoptiert werden. Die titelgebende Accabadora hingegen ist eine (vielleicht mythische) Frauenfigur, eine Art Magierin, die Siechenden auf Wunsch Sterbehilfe leistet.
Die Heldin von "Accabadora" sieht sich mit beiden Institutionen konfrontiert: Maria Listru, sechs Jahre, wird von ihrer Mutter Anna Teresa, einer Witwe, die "bitterarm" und kinderreich ist, der relativ wohlhabenden Bonaria Urrai, Schneiderin des (fiktiven) Ortes Soreni, anvertraut; wir befinden uns in den fünfziger Jahren. Bonaria ist, wie Maria später erfährt, eine Accabadora, eine schwarz gekleidete Frau, die des Nachts verzweifelten Todkranken Kruzifixe und Heiligenbilder aus dem Zimmer entfernt, weil diese sie zurückhalten könnten, sie mit Rauchschwaden betäubt und schließlich erstickt.
Starke Frauenfiguren bestimmen den Roman, Maria steht unter der Obhut von gleich zwei Mütterpaaren: So konkurrieren die schlichte Anna Teresa, die den Sinn eines Schulbesuchs nicht einsieht, und die ehrgeizigere Schneiderin miteinander. Bonaria "in ihrem langen traditionellen Rock und dem schwarzen Schultertuch" wiederum trifft in Maestra Luciana, Marias Lehrerin, auf ihr fortschrittliches Gegenstück. Zentral ist immer das Verhältnis Marias zu ihrer Ziehmutter und damit zur archaischen Welt. Ein Konflikt bricht aus, als ein Freund verkrüppelt wird und sich mit Hilfe der Accabadora das Leben nimmt. Die hier aufgeworfene Frage nach dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist natürlich zeitlos aktuell.
So mächtig der Stoff, so leicht und präzise der Stil: Murgia schlägt einen beinahe heiteren Ton an, fasst urtümliche Bräuche in schlichte, elegante Worte. Das archaische Erbe, das schon die große Stimme Sardiniens, Grazia Deledda, umtrieb - man denke an den Knecht Efix in "Schilf im Wind" (1913) -, wird in "Accabadora" nie zur Last oder zur Folklore; es ist selbstverständlicher Teil eines Reifeprozesses. "Viele von den Dingen, die sie glaubte an dem Ufer zurückgelassen zu haben, von dem damals das Schiff nach Genua abgelegt hatte, kamen eins nach dem anderen zu ihr zurück, wie Treibholz, das nach einer Sturmflut an den Strand gespült wird." Wer im Erstling so abgeklärt schreibt, hat seine literarische Gärung bereits durchlaufen.
NIKLAS BENDER
Michela Murgia: "Accabadora". Roman. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 176 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sardiniens Mythen: Michela Murgias dichtes Debüt
In abgelegenen, kargen, sonnenversengten Landstrichen brodelt unter dem Firnis der Zivilisation eine archaische Welt - seit mehr als hundert Jahren ist dies ein fruchtbares Thema der italienischen Literatur, von Giovanni Verga bis Carlo Levi. Zu den Territorien des Archaischen zählt Sardinien, die geographisch und sprachlich isolierte Insel, stummes Gegenstück zur alten Kulturregion Sizilien.
Michela Murgia wählt in ihrem Erstlingsroman "Accabadora" zwei der urtümlichen sardischen Bräuche als zentrale Motive: Das Kind einer armen Mutter kann als "Kind der Seele" (fillus de anima beziehungsweise fill'e anima) von einer begüterten, kinderlosen Frau adoptiert werden. Die titelgebende Accabadora hingegen ist eine (vielleicht mythische) Frauenfigur, eine Art Magierin, die Siechenden auf Wunsch Sterbehilfe leistet.
Die Heldin von "Accabadora" sieht sich mit beiden Institutionen konfrontiert: Maria Listru, sechs Jahre, wird von ihrer Mutter Anna Teresa, einer Witwe, die "bitterarm" und kinderreich ist, der relativ wohlhabenden Bonaria Urrai, Schneiderin des (fiktiven) Ortes Soreni, anvertraut; wir befinden uns in den fünfziger Jahren. Bonaria ist, wie Maria später erfährt, eine Accabadora, eine schwarz gekleidete Frau, die des Nachts verzweifelten Todkranken Kruzifixe und Heiligenbilder aus dem Zimmer entfernt, weil diese sie zurückhalten könnten, sie mit Rauchschwaden betäubt und schließlich erstickt.
Starke Frauenfiguren bestimmen den Roman, Maria steht unter der Obhut von gleich zwei Mütterpaaren: So konkurrieren die schlichte Anna Teresa, die den Sinn eines Schulbesuchs nicht einsieht, und die ehrgeizigere Schneiderin miteinander. Bonaria "in ihrem langen traditionellen Rock und dem schwarzen Schultertuch" wiederum trifft in Maestra Luciana, Marias Lehrerin, auf ihr fortschrittliches Gegenstück. Zentral ist immer das Verhältnis Marias zu ihrer Ziehmutter und damit zur archaischen Welt. Ein Konflikt bricht aus, als ein Freund verkrüppelt wird und sich mit Hilfe der Accabadora das Leben nimmt. Die hier aufgeworfene Frage nach dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist natürlich zeitlos aktuell.
So mächtig der Stoff, so leicht und präzise der Stil: Murgia schlägt einen beinahe heiteren Ton an, fasst urtümliche Bräuche in schlichte, elegante Worte. Das archaische Erbe, das schon die große Stimme Sardiniens, Grazia Deledda, umtrieb - man denke an den Knecht Efix in "Schilf im Wind" (1913) -, wird in "Accabadora" nie zur Last oder zur Folklore; es ist selbstverständlicher Teil eines Reifeprozesses. "Viele von den Dingen, die sie glaubte an dem Ufer zurückgelassen zu haben, von dem damals das Schiff nach Genua abgelegt hatte, kamen eins nach dem anderen zu ihr zurück, wie Treibholz, das nach einer Sturmflut an den Strand gespült wird." Wer im Erstling so abgeklärt schreibt, hat seine literarische Gärung bereits durchlaufen.
NIKLAS BENDER
Michela Murgia: "Accabadora". Roman. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 176 S., geb., 17,90 [Euro].
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