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Nach einem Autounfall taucht der Erzähler hinab in seine Erinnerungen: Er hatte bereits früher einen ähnlichen Unfall und meint jetzt, wenn er sich genau daran erinnern könnte, würde er Wichtiges über sich erfahren.

Produktbeschreibung
Nach einem Autounfall taucht der Erzähler hinab in seine Erinnerungen: Er hatte bereits früher einen ähnlichen Unfall und meint jetzt, wenn er sich genau daran erinnern könnte, würde er Wichtiges über sich erfahren.
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Autorenporträt
Patrick Modiano, geboren 1945 in Boulogne-Billancourt als Sohn einer flämischen Schauspielerin und eines jüdischen Emigranten orientalischer Abstammung. Sein Vater lebte während der deutschen Besatzungszeit im Untergrund und schlug sich mit Schwarzmarktgeschäften durch. Er erlebte eine chaotische Nachkriegskindheit: häufige Abwesenheit der Mutter, früher Tod des Bruders und Trennung der Eltern. Modiano widmete sich schon früh dem Schreiben und bereits mit 21 Jahren beendete er seinen ersten Roman. Seitdem publizierte er zahlreiche Romane, Kinderbücher sowie Theaterstücke und Drehbücher. Von Peter Handke für die deutschen Leser entdeckt, erschienen viele seiner Romane auch in deutscher Übersetzung. 2011 wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet. 2014 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Patrick Modiano lebt in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2006

Auf der Suche nach der schönen Fahrerin des wassergrünen Fiat
Mit dem Aufzug ins Glück: Patrick Modianos eleganter Roman beschwört den Zauber der Pariser Topographie

Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte."

Das ist einer dieser typischen ersten Sätze von Patrick Modiano, denen man nicht entkommen kann, weil sie so nachdrücklich präsent sind. Mit dem Präsens hat diese Präsenz jedoch nichts zu tun. Denn Modianos Element ist der Äther, seine Bewegungsformen sind die Flucht, das Verschwinden und die Suche nach dem Verschwundenen, sein Tempus ist die Vergangenheit. So auch im neuen Roman, wo der Erzähler von einem "wassergrünen Fiat" angefahren und danach zusammen mit der Fahrerin des Fiats ins Krankenhaus gebracht wird. Als er aus dem Ätherrausch wieder erwacht, ist diese Fahrerin verschwunden. Ihren Namen hat er allerdings erfahren: Jacqueline Beausergeant. Die Suche nach ihr bildet das Skelett des Buches. Man darf und sollte verraten, daß diese Suche erfolgreich ist, für Modiano ein ungewöhnlicher Fall. Die Suche nach der geheimnisvollen Unbekannten etwa in "Aus tiefstem Vergessen" bleibt erfolglos, und in den vorhergehenden Romanen oder im Erzähltriptychon "Unbekannte Frauen" ist das jeweilige Verschwinden endgültig. Insofern nimmt der neue Roman in Modianos Werk eine Sonderstellung ein.

Das Skelett des Buches ist allerdings nicht der Roman selber. Die Geschichte ist, wie immer bei diesem Autor, überaus spannend. Ebenfalls wie immer will man jedoch nicht vorrangig wissen, wie sie ausgeht. Vielmehr möchte man mit Modiano unterwegs sein. Man möchte etwas von den Menschen wissen, die durch seine Bücher im Wortsinn hindurchgehen und sich dann irgendwo im Nebel verlieren. Das ist nicht einfach, weil auch der Erzähler selber nicht viel von ihnen weiß. Das hört sich vertrackt nach pseudoavantgardistischen Erzähltheorien an, ist hier aber vor allem lebenspraktisch bedingt: Modianos Figuren sind gleichsam Durchreisende im Leben des Erzählers. Dr. Bouvière etwa, ein philosophischer Guru, der eine kleine Gruppe um sich geschart hat, zu der sich auch der Erzähler gesellt, taucht eines Tages zum Gruppentreffen mit blutunterlaufenen Augen auf, aber niemand fragt ihn, was geschehen ist. Zum Schluß bleibt ein kleines Pflaster auf der Wange übrig. "Es würde nie herauskommen, wer ihn verprügelt hatte. Er würde nicht auspacken. Selbst das blonde Mädchen, das jedesmal zu ihm in den Wagen stieg, würde es nicht erfahren, da war ich mir sicher. Die Menschen sterben mit ihren Geheimnissen."

Oder aber sie verschwinden eines Tages mit ihren Geheimnissen, wie Hélène Navachine, eine Musikerin, die ebenfalls die Gruppe von Dr. Bouvière besucht und mit der der Erzähler dann eine Affäre hat. Man geht in Hotelzimmer und trägt sich unter allerlei Phantasienamen und -adressen ein (wir befinden uns im Paris der frühen und mittleren sechziger Jahre, jener Zeit, in der fast alle Bücher Modianos spielen). Dann fährt Hélène Navachine nach London und kommt nie zurück.

"Meine einzigen guten Erinnerungen bis zum heutigen Tag waren Fluchterinnerungen", heißt es in einem früheren Roman Modianos, und ein paar Seiten später erwähnt er "jene vertraute Trunkenheit, die ich jedesmal in mir aufsteigen fühlte, wenn ich die Flucht ergriff". Von dieser Trunkenheit ist auch im neuen Roman viel zu spüren. Zugleich aber ist eine Gegenbewegung zu registrieren. Dieser Erzähler möchte im eigenen Leben nicht mehr nur ein Durchreisender sein: "Das Vergessen frißt mit der Zeit ganze Abschnitte unseres Lebens auf und manchmal winzige Verbindungsstücke. Und bei diesem alten Streifen ruft der Schimmelpilz auf dem Film Zeitsprünge hervor und läßt uns glauben, zwei Ereignisse, zwischen denen Monate lagen, hätten am selben Tag oder sogar gleichzeitig stattgefunden. Wie soll man auch nur die mindeste Chronologie herstellen, wenn man diese verstümmelten Bilder vorbeiziehen sieht . . ."

Gegen die verstümmelten Bilder kämpft der Erzähler an. Im Zuge seiner Suche nach der unbekannten Fahrerin des wassergrünen Fiats glaubt er, plötzlich einen vergessenen Zipfel seiner Kindheit erwischen zu können, die er bis dahin bewußt hatte vergessen wollen. Die Geschichte vom Vater, einer Mischung aus Schieber und Hochstapler, der eines Tages spurlos verschwindet, zieht sich als traumatisches Motiv durch Modianos Werk. Hier nun will der Erzähler sich und anderen beweisen, daß es ihn gibt. "Ich bin aufgestanden und habe aus dem obersten Fach des Wandschranks die dunkelblaue Pappschachtel heruntergeholt, in der ich die ganzen alten Papiere gesammelt hatte, die später einmal meinen kurzen Aufenthalt auf Erden beweisen würden."

Dieser Anstrengung dient nicht nur der Rekurs auf das unwiderruflich Vergangene, sondern vor allem die Topographie. Modiano, ein Schriftsteller, dessen ganzes Werk der Suche nach der verlorenen Zeit gilt, ist besessen von topographischen Angaben und von Ortsnamen. Man sollte diesen Roman mit dem "Paris Pratique" in Reichweite lesen. Er wimmelt von Ortsangaben, und er beschwört die Magie von Orts-, Straßen-, Hotel-, Restaurant- und Personennamen in einer Weise herauf, die unmittelbar an Proust denken läßt. In der "Recherche" ist der letzte Teil des ersten Bandes überschrieben: "Ortsnamen. Namen überhaupt". Das könnte über Modianos gesamtem bisherigen Werk stehen. Dieser Autor glaubt an den Zauber von Namen, wie etwa Fossombronne-la-Forêt, und nennt sie wieder und wieder, Beschwörungsformeln gleich. Als er die Fahrerin des Fiats endlich findet, mit dem Rücken zu ihm in der Bar eines Restaurants sitzend, legt er ihr die Hand auf die Schultern und nennt als erstes ihren Namen.

In dieser Schlußsequenz geschieht dann etwas für Modiano sehr Ungewöhnliches. Bisher diente die Eleganz, ja Schwerelosigkeit seiner Sätze und seines Erzählens dazu, die Trauer über das Vergangene, das Verlorene oder das schon immer Entbehrte nur um so eindringlicher zu machen. Zwischen Modianos Helden und der Welt hat es bei aller überscharfen Wahrnehmungsfähigkeit stets einen Schleier gegeben, den sie nicht zerreißen konnten. Immer sind sie eingesponnen gewesen in einen Kokon, waren Unzugehörige, nicht in Hinsicht auf irgendeine Gruppe oder Gemeinschaft, sondern auf die Welt selber.

Nun aber, als der Erzähler und Jacqueline Beausergeant das Restaurant verlassen, heißt es wörtlich: "Auf der Straße war ein Schleier zerrissen." Was danach auf den letzten Seiten folgt, ist ein zartes Bild des Glücks - zukünftigen, nicht vergangenen Glücks -, wie wir es bisher aus Modianos Büchern nicht kennen. Das bleibt zunächst Versprechen, und das Buch endet mit dem Augenblick, in dem die beiden im Fahrstuhl zur Wohnung hochfahren, die Jacqueline Beausergeant derzeit für den eigentlichen Bewohner hütet. Dort kommt die Geschichte allerdings nicht mehr an. Sie endet mit dem Verlöschen der Treppenhausbeleuchtung, während der Fahrstuhl langsam nach oben gleitet. Das Ende bleibt wie immer offen.

Modiano ist ein Schriftsteller von hohem Wiedererkennungswert. Das sollte niemanden zum Glauben verleiten, ihn schon zu kennen oder gar zu meinen, er schreibe immer dasselbe Buch. Längst hat er ein eigenes Universum geschaffen, wie es nur wirklich großen Autoren gelingt, eine überaus brüchige Welt voller Verluste, aber auch mancher kostbarer Momente des Glücks. Dieses Glück teilt sich auch dem Leser durch alle Trauer hindurch mit.

Patrick Modiano: "Unfall in der Nacht". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisbaeth Edl. Hanser Verlag, München 2006. 143 S., geb., 15,90 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.03.2006

Leise Stimme, großes Rätsel
Patrick Modianos neuer Roman „Unfall in der Nacht”
Der Wagen hatte ihn nur gestreift, aber doch zu Fall gebracht. Als der junge Mann ins Krankenhaus gefahren wird, fehlt ihm der linke Schuh. Und während er im Spital auf dem Behandlungstisch liegt, den betäubenden Äther riecht, fällt ihm ausgerechnet der Schuh wieder ein: „Man hatte mir keine Zeit gelassen, den Schuh zu holen, und ich habe gedacht, dass er nun die ganze Nacht dort auf dem Trottoir liegenbleiben würde.” Seltsam traurig ist diese Feststellung, als würden auch die Dinge einsam sein können und es verdienen, dafür bedauert zu werden.
Kleinigkeiten wie diese sind es, die den Ich-Erzähler in Patrick Modianos schmalem Roman „Unfall in der Nacht” irritieren, Kleinigkeiten wie diese sind es, die den großen Erzähler ausmachen. Nichts Spektakuläres geschieht in Modianos Erzählungen und Romanen, die mit einem kleinen Vorrat an Themen und Motiven auskommen, um dieselbe Geschichte immer wieder, immer anders zu erzählen. Die unmerklichen Details, die seine Protagonisten auf den Weg bringen und tage-, nächtelang durch die Straßen von Paris treiben, sie sind auch das Metier des Schriftstellers Modiano selbst; die Struktur seiner Romane spiegelt die unablässige Wanderschaft seiner Helden, die auf der Suche nach dem verschwundenen Vater, nach einer geheimnisvollen Frau, nach Zeugen einer tief ins Vergessen eingesunkenen Vergangenheit sind.
Das gilt auch für „Unfall in der Nacht”, wenngleich in diesem leichthändigen Meisterstück des Flüchtigen, Skizzenhaften endlich einmal auch bei Modiano die Suche nicht in die Leere führt, sondern zum Ziel, genauer: zur Frau. Wonach es den jungen Mann sehnt, erst in den äthertrüben Tagen im Krankenhaus, später humpelnd unterwegs in Paris, das ist die nur ein paar Jahre ältere Frau, die den Unfall verursacht hat, mit ihm ins Krankenhaus fuhr und dann verschwand. Seltsam genug, spürt der Verletzte sogleich, dass der Unfall kein Zufall war, sondern mir „jemand über den Weg geschickt wurde, mich zu beschützen”. Bisher hatte er nichts Rechtes mit sich anzufangen gewusst, lebte in schäbigen Hotelzimmern, suchte streunend Aufschluss über seinen abweisenden, seit Jahren abwesenden Vater zu gewinnen und beschäftigte sich mit allerlei, aber mit nichts ernsthaft. Bis das Auto ihn anfährt: „Dieser Schock war notwendig. Er erlaubte mir darüber nachzudenken, was mein Leben bisher gewesen war.”
Der Park, die Rosen, der Sumpf
Der junge Mann zieht durch die Straßen und spricht sich deren Namen vor wie Zaubersprüche, die ihn auf die Spur der Verschwundenen bringen sollen. Auf ominöse Weise erinnert ihn die Frau an ein Haus, in dem er einst mit seinem Vater gewohnt hat, an eine nächtliche Messe, in die er glaubt, von der Unbekannten vor langer Zeit mitgenommen worden zu sein. Mehr geschieht nicht. Die nächtliche Begegnung trug sich vor dreißig Jahren zu. Der jetzt von dem Unfall als dem rettenden Ereignis seines Lebens erzählt, will inzwischen ein anderer geworden sein, ein Mann, von dem wir allerdings kaum mehr erfahren, als dass er seit damals ein Leben führe, so „geordnet wie ein französischer Park. Der Park hatte mit seinen Alleen, seinen Rosen und Bosketten einen Sumpf zugedeckt, in dem ich früher beinahe versunken war”.
Dass er vor dem Unfall nahe daran war, sich selber abhanden zu kommen, glauben wir ihm, nicht aber, dass er seither wirklich zur Ruhe gefunden hat. Warum würde er sich dann so obsessiv bemühen, der Vergangenheit endlich habhaft zu werden? Warum klagen, die Bilder, die an ihm vorbeiziehen, nicht in ihren Zusammenhang bringen zu können? Tatsächlich ist er kein Souverän über seine Geschichte, die er suchend, tastend erzählt. Modiano hält seine Prosa in einem merkwürdigen, faszinierenden Zwielicht, grüblerisch suchen seine Figuren ein weit zurück liegendes Ereignis zu ergründen. Was sie entdecken, droht jedoch gleich wieder zu verschwinden oder zu verschwimmen, Klarheit erlangen sie nie. Auch die Leser erlangen sie nicht. Modiano nimmt sie auf eine Suche mit, in der alles Unsichere unsicher bleibt.
So wird auch in „Unfall in der Nacht” vieles nicht aufgelöst. Der namenlose Jüngling findet zwar die Frau, die er sucht, ohne zu wissen warum, und der Erzähler datiert seine geordnete Existenz später mit diesem glücklichen Treffen. Aber wer sie eigentlich ist, warum sie die Schatten seiner unbehüteten Kindheit wieder zu flackern brachte, darüber können wir nur mutmaßen wie auch über den „brünetten Klotz”, der sie stets begleitet und geradezu überwacht hat. War er ein Krimineller, ihr Chef, ihr Geliebter - das alles zugleich oder keines davon? Die Rekonstruktion der Vergangenheit hat ihre Grenzen, doch Modianos Literatur ist ohnehin weniger dem Objekt des Erinnerns als dessen Vorgang gewidmet. Und diesem hat er mit „Unfall in der Nacht” zum wiederholten Male einen subtilen kleinen Roman gewidmet, der vielleicht ein bisschen heller, zuversichtlicher ist als seine meisten Bücher, aber ebenso rätselhaft. Das größte Rätsel, das der Erzähler Modiano aufgibt, war aber immer die Frage, wie er mit seiner leisen Stimme so dringlich von unscheinbaren Dingen, unmerklichen Veränderungen zu erzählen weiß, dass wir ihm ein ums andere Mal ins schwebend Ungefähre folgen.
KARL-MARKUS GAUSS
PATRICK MODIANO: Unfall in der Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2006. 143 Seiten, 15,90 Euro.
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