Was vom Leben übrig blieb - ein großer Roman über Virginia Woolf.
Wie kaum eine Frau ihrer Zeit steht Virginia Woolf für das Ringen um Eigenständigkeit, um Raum für sich, um eine unverkennbare Stimme. Ihr Leben war überreich an allem - auch an Düsternissen. Michael Kumpfmüller hat einen sprachmächtigen, kühnen Roman über die letzten zehn Tage ihres Lebens geschrieben. Im März 1941 gerät die berühmte Schriftstellerin in ihre letzte große Krise: Sie hat soeben ein neues Buch beendet, über das kleine Cottage im Süden Englands, das sie mit ihrem Mann Leonard bewohnt, fliegen deutsche Bomber. Sie führt das Leben einer Gefangenen, die nicht weiß, wie und wohin sie ausbrechen soll - und am Ende entscheidet sie sich für den Fluss. Diese letzten Tage Virginia Woolfs beschwört Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman eindrücklich herauf. Er zeichnet das Bild einer Person, die in Auflösung begriffen scheint und sich auf die Reise in den Innenraum macht, der eine Welt voller Schrecken und eben auch Wunder ist. »Ach, Virginia« ist ein literarisches Porträt auf kleinstem Raum, aber es ist noch mehr - ein leidenschaftliches Plädoyer für das Leben, ein Versuch der Annäherung, an dessen Ende die Erkenntnis steht, dass man nicht alles billigen muss, was man nachvollziehen kann.
Wie kaum eine Frau ihrer Zeit steht Virginia Woolf für das Ringen um Eigenständigkeit, um Raum für sich, um eine unverkennbare Stimme. Ihr Leben war überreich an allem - auch an Düsternissen. Michael Kumpfmüller hat einen sprachmächtigen, kühnen Roman über die letzten zehn Tage ihres Lebens geschrieben. Im März 1941 gerät die berühmte Schriftstellerin in ihre letzte große Krise: Sie hat soeben ein neues Buch beendet, über das kleine Cottage im Süden Englands, das sie mit ihrem Mann Leonard bewohnt, fliegen deutsche Bomber. Sie führt das Leben einer Gefangenen, die nicht weiß, wie und wohin sie ausbrechen soll - und am Ende entscheidet sie sich für den Fluss. Diese letzten Tage Virginia Woolfs beschwört Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman eindrücklich herauf. Er zeichnet das Bild einer Person, die in Auflösung begriffen scheint und sich auf die Reise in den Innenraum macht, der eine Welt voller Schrecken und eben auch Wunder ist. »Ach, Virginia« ist ein literarisches Porträt auf kleinstem Raum, aber es ist noch mehr - ein leidenschaftliches Plädoyer für das Leben, ein Versuch der Annäherung, an dessen Ende die Erkenntnis steht, dass man nicht alles billigen muss, was man nachvollziehen kann.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2020Abspann eines Lebens
„Ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde“: Michael Kumpfmüller fühlt sich in Virgina Woolfs letzte Gedanken ein
Nachts kann sie nicht schlafen, und die Toten kommen. Das ist nicht weiter schlimm, außer natürlich, dass ihr Allgemeinzustand unter der Schlaflosigkeit leidet; aber sie inspirieren sie nicht mehr. Sie hat geschrieben, das Manuskript abgeschickt, aber sie ist sich ihrer Sache nicht sicher; aber andererseits war sie das nie.
Es ist natürlich klar, wie die Sache ausgeht, wenn Virginia Woolf am Anfang von „Ach, Virginia“ im Gartenhäuschen sitzt. Es ist der 18. März, als sie ihrem Mann Leonard einen Brief schreibt, zum Abschied, weil sie sein Leben nicht mehr weiter ruinieren will. Es ist ein regnerischer, kalter Tag, und Virginia versucht, ins Wasser zu gehen, aber am Ende hat Leonard das vereitelt, sie landet, durchnässt und frierend, wieder in ihrem Haus, Monk’s House, im Süden Englands. Aber nur zehn Tage später, am 28. März 1941, zehn Monate vor ihrem sechzigsten Geburtstag ist Adeline Virginia Woolf, geborene Stephen, tatsächlich tot.
In diesen zehn Tagen spielt Michael Kumpfmüllers Roman „Ach, Virginia“, stets in der dritten Person gehalten – und doch bleibt Kumpfmüller ganz nah dran an seiner Protagonistin, wandert durch ihre Gedanken, Ideen, Erinnerungen. Sie quält sich, vor allem nachts, spukt durchs Haus, ärgert sich, wenn Leonard nach ihr sieht. Mit Bedacht gibt sie wenig von dem preis, was sie bewegt. Sieht Gespenster in dunklen Ecken, geht im Geiste zum Fluss, denkt über ihren Verleger nach, und darüber, was aus Leonard wird, wenn sie nicht mehr ist. Ganz langsam nimmt sie vom Leben Abschied, und von allem, was es ausmachte, als wäre dieser Gedankenstrom der Abspann ihres Lebens. Das ist dann vielleicht die einzige Art, eine Hommage an sie zu schreiben – so, als wäre sie eine ihrer eigenen Figuren, eine Mrs. Dalloway, der Kumpfmüller bei ganz alltäglichen Verrichtungen folgt, während er sich in ihrem Innenleben umtut.
Am Rande ergibt sich aus Virginias Betrachtungen eine Biografie: Die Häuser, in denen sie gelebt hat, gehen ihr durch den Kopf, und die Menschen, mit denen sie sie bewohnt hat. Die Eltern, die Geschwister, Weggefährten. Die Freundin, die sie liebte, und die einst erfolgreicher war als sie und die ihr entglitten ist, Vita Sackville-West – Vita hat ihr geschrieben kurz vor diesem Tag im März.
Der Missbrauch durch den Bruder kriecht in ihre Erinnerung; dieses langsame Einsickern beschreibt Kumpfmüller auf eine sehr nachvollziehbare Art: etwas, woran sie nicht oft denkt und dass doch viel in ihrem Leben bestimmt hat. Und dann ist da natürlich Leonard, der bei ihr ist und sich um sie sorgt, der ihr auf die Nerven geht und den sie, auf ganz verquere Art, irgendwie liebt, in einer Mischung aus Gewohnheit, Dankbarkeit, Trotz und echter Zuneigung. Einmal sucht sie ihn in ihren Tagebüchern, als liebte sie die Vorstellung von ihm mehr als ihn selbst. Ist ein Ehemann nicht mehr als ein Freund, will Leonard wissen – für seine Frau vielleicht nicht.
Virginia Woolf war bei ihrem Tod seit fast dreißig Jahren mit Leonard verheiratet – über die längste Strecke ihres Lebens also. Die Beziehung zu Leonard ist das Kernstück von Kumpfmüllers Geschichte; in dem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“, mit dem er 2011 einen riesigen Erfolg hatte, ging er der Beziehung von Franz Kafka zu Dora Diamant auf den Grund, diesmal läuft die Verteilung der Kreativität andersherum.
Leonard Woolf konnte seiner Frau als Autor nicht das Wasser reichen, und in der feministischen Literatur geistert er als ziemlicher Klotz am Bein herum, der seiner Frau Essen einflößte, auch wenn sie nicht wollte, und überhaupt eher ein Hinderungsgrund war als männliche Muse, was vielleicht mit dem Essay „Ein Zimmer für sich allein“ zu tun hat. Doch hat Virginia Woolf ihn wohl gebraucht; er gab ihrem Leben Halt. Und ihr eigenes Zimmer hat sie auch gehabt, in jeder Art, die der Essay einforderte – Unabhängigkeit, die Androgynität, die sie sich in ihrer wenig romantischen Ehe erhalten hat.
Virginia Woolf hatte lange schon psychische Probleme, schon als Teenager, und manchmal waren sie über die Jahre so schlimm geworden, dass sie in ärztliche Behandlung musste, versuchte, sich umzubringen. Sie mag nicht mehr, schreibt Kumpfmüller. Die Gedanken in ihrem Kopf reimt er sich zwar selbst zusammen, aber der Abschiedsbrief, den er als Ausgangspunkt nimmt, ist echt. „Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde“, hat sie tatsächlich geschrieben, und dass sie Stimmen höre und nicht glaube, diesmal wieder gesund zu werden. Und: „Du warst mir in jeder Hinsicht alles, was jemand mir sein konnte.“
Wie funktioniert das Schreiben von Romanen, was mag in Virginia Woolfs Kopf vorgegangen sein, als sie „Mrs. Dalloway“ schrieb oder „Orlando“? Hat sie sich tatsächlich im Schreiben verloren? Natürlich ist der Einblick begrenzt durch die Dokumentation, die sie hinterlassen hat – selbst Tagebücher hinterlassen nur das, was uns jemand wissen lassen wollte, die Vorstellung von sich, die er einem potenziellen Leser zur Verfügung stellt. Weder ersetzt „Ach, Virginia“ eine Woolf-Biographie, noch darf man alles für bare Münze nehmen, was dieser Roman mit Celebrity-Hauptfigur uns erzählt. Er ist und bleibt Fiktion.
Und Kumpfmüllers Idee ist auch nicht ganz neu: Das Setting ist ein ganz ähnliches wie in Stephen Daldrys Film „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ von 2002, da bildete der Selbstmord von Virginia Woolf, gespielt von Nicole Kidman mit der berühmten Nasenplastik, den Rahmen für Frauenporträts, die alle mit „Mrs. Dalloway“ zu tun hatten. Das war zwar ganz schön – aber das lag vielleicht mehr an all den Frauenfiguren und den Schauspielerinnen, Meryl Streep etwa. Als eine der wichtigsten weiblichen Schriftstellerinnen überhaupt hat Woolf mehr Präsenz verdient. Das wäre doch eine ganz schöne Idee, in jedem Jahrzehnt Virginia Woolf als mythische Figur zu feiern, bis sie sich wie Odysseus durch die Filme und die Bücher und die Kunst zieht.
Und es ist auch ganz schön mutig, sich darauf einen Reim machen zu wollen – der künstliche Woolf’sche Gedankenfluss, den sich Kumpfmüller ausdenkt, kann sich natürlich nicht mit dem Original messen, obwohl er sich sicher in ihren Büchern inzwischen zu Hause fühlt und viel von ihr übernimmt. Hier werden keine neuen Fahrrinnen geschaffen. Aber er legt eine frei, die geradewegs zu Virginia Woolf führt – sie verliert ihre Unnahbarkeit. Sie erwacht auf diesen Seiten zum Leben, so wie es ihre Figuren taten. Vielleicht verschwindet sie wieder im Dunkel, wenn man das Buch zuschlägt, aber für einen Moment war sie da, dahinten in der Dunkelheit.
SUSAN VAHABZADEH
Es wäre doch eine schöne
Idee, Virginia Woolf
als mythische Figur zu feiern
Michael Kumpfmüller:
Ach, Virginia. Roman.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 2020.
240 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde“: Michael Kumpfmüller fühlt sich in Virgina Woolfs letzte Gedanken ein
Nachts kann sie nicht schlafen, und die Toten kommen. Das ist nicht weiter schlimm, außer natürlich, dass ihr Allgemeinzustand unter der Schlaflosigkeit leidet; aber sie inspirieren sie nicht mehr. Sie hat geschrieben, das Manuskript abgeschickt, aber sie ist sich ihrer Sache nicht sicher; aber andererseits war sie das nie.
Es ist natürlich klar, wie die Sache ausgeht, wenn Virginia Woolf am Anfang von „Ach, Virginia“ im Gartenhäuschen sitzt. Es ist der 18. März, als sie ihrem Mann Leonard einen Brief schreibt, zum Abschied, weil sie sein Leben nicht mehr weiter ruinieren will. Es ist ein regnerischer, kalter Tag, und Virginia versucht, ins Wasser zu gehen, aber am Ende hat Leonard das vereitelt, sie landet, durchnässt und frierend, wieder in ihrem Haus, Monk’s House, im Süden Englands. Aber nur zehn Tage später, am 28. März 1941, zehn Monate vor ihrem sechzigsten Geburtstag ist Adeline Virginia Woolf, geborene Stephen, tatsächlich tot.
In diesen zehn Tagen spielt Michael Kumpfmüllers Roman „Ach, Virginia“, stets in der dritten Person gehalten – und doch bleibt Kumpfmüller ganz nah dran an seiner Protagonistin, wandert durch ihre Gedanken, Ideen, Erinnerungen. Sie quält sich, vor allem nachts, spukt durchs Haus, ärgert sich, wenn Leonard nach ihr sieht. Mit Bedacht gibt sie wenig von dem preis, was sie bewegt. Sieht Gespenster in dunklen Ecken, geht im Geiste zum Fluss, denkt über ihren Verleger nach, und darüber, was aus Leonard wird, wenn sie nicht mehr ist. Ganz langsam nimmt sie vom Leben Abschied, und von allem, was es ausmachte, als wäre dieser Gedankenstrom der Abspann ihres Lebens. Das ist dann vielleicht die einzige Art, eine Hommage an sie zu schreiben – so, als wäre sie eine ihrer eigenen Figuren, eine Mrs. Dalloway, der Kumpfmüller bei ganz alltäglichen Verrichtungen folgt, während er sich in ihrem Innenleben umtut.
Am Rande ergibt sich aus Virginias Betrachtungen eine Biografie: Die Häuser, in denen sie gelebt hat, gehen ihr durch den Kopf, und die Menschen, mit denen sie sie bewohnt hat. Die Eltern, die Geschwister, Weggefährten. Die Freundin, die sie liebte, und die einst erfolgreicher war als sie und die ihr entglitten ist, Vita Sackville-West – Vita hat ihr geschrieben kurz vor diesem Tag im März.
Der Missbrauch durch den Bruder kriecht in ihre Erinnerung; dieses langsame Einsickern beschreibt Kumpfmüller auf eine sehr nachvollziehbare Art: etwas, woran sie nicht oft denkt und dass doch viel in ihrem Leben bestimmt hat. Und dann ist da natürlich Leonard, der bei ihr ist und sich um sie sorgt, der ihr auf die Nerven geht und den sie, auf ganz verquere Art, irgendwie liebt, in einer Mischung aus Gewohnheit, Dankbarkeit, Trotz und echter Zuneigung. Einmal sucht sie ihn in ihren Tagebüchern, als liebte sie die Vorstellung von ihm mehr als ihn selbst. Ist ein Ehemann nicht mehr als ein Freund, will Leonard wissen – für seine Frau vielleicht nicht.
Virginia Woolf war bei ihrem Tod seit fast dreißig Jahren mit Leonard verheiratet – über die längste Strecke ihres Lebens also. Die Beziehung zu Leonard ist das Kernstück von Kumpfmüllers Geschichte; in dem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“, mit dem er 2011 einen riesigen Erfolg hatte, ging er der Beziehung von Franz Kafka zu Dora Diamant auf den Grund, diesmal läuft die Verteilung der Kreativität andersherum.
Leonard Woolf konnte seiner Frau als Autor nicht das Wasser reichen, und in der feministischen Literatur geistert er als ziemlicher Klotz am Bein herum, der seiner Frau Essen einflößte, auch wenn sie nicht wollte, und überhaupt eher ein Hinderungsgrund war als männliche Muse, was vielleicht mit dem Essay „Ein Zimmer für sich allein“ zu tun hat. Doch hat Virginia Woolf ihn wohl gebraucht; er gab ihrem Leben Halt. Und ihr eigenes Zimmer hat sie auch gehabt, in jeder Art, die der Essay einforderte – Unabhängigkeit, die Androgynität, die sie sich in ihrer wenig romantischen Ehe erhalten hat.
Virginia Woolf hatte lange schon psychische Probleme, schon als Teenager, und manchmal waren sie über die Jahre so schlimm geworden, dass sie in ärztliche Behandlung musste, versuchte, sich umzubringen. Sie mag nicht mehr, schreibt Kumpfmüller. Die Gedanken in ihrem Kopf reimt er sich zwar selbst zusammen, aber der Abschiedsbrief, den er als Ausgangspunkt nimmt, ist echt. „Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde“, hat sie tatsächlich geschrieben, und dass sie Stimmen höre und nicht glaube, diesmal wieder gesund zu werden. Und: „Du warst mir in jeder Hinsicht alles, was jemand mir sein konnte.“
Wie funktioniert das Schreiben von Romanen, was mag in Virginia Woolfs Kopf vorgegangen sein, als sie „Mrs. Dalloway“ schrieb oder „Orlando“? Hat sie sich tatsächlich im Schreiben verloren? Natürlich ist der Einblick begrenzt durch die Dokumentation, die sie hinterlassen hat – selbst Tagebücher hinterlassen nur das, was uns jemand wissen lassen wollte, die Vorstellung von sich, die er einem potenziellen Leser zur Verfügung stellt. Weder ersetzt „Ach, Virginia“ eine Woolf-Biographie, noch darf man alles für bare Münze nehmen, was dieser Roman mit Celebrity-Hauptfigur uns erzählt. Er ist und bleibt Fiktion.
Und Kumpfmüllers Idee ist auch nicht ganz neu: Das Setting ist ein ganz ähnliches wie in Stephen Daldrys Film „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ von 2002, da bildete der Selbstmord von Virginia Woolf, gespielt von Nicole Kidman mit der berühmten Nasenplastik, den Rahmen für Frauenporträts, die alle mit „Mrs. Dalloway“ zu tun hatten. Das war zwar ganz schön – aber das lag vielleicht mehr an all den Frauenfiguren und den Schauspielerinnen, Meryl Streep etwa. Als eine der wichtigsten weiblichen Schriftstellerinnen überhaupt hat Woolf mehr Präsenz verdient. Das wäre doch eine ganz schöne Idee, in jedem Jahrzehnt Virginia Woolf als mythische Figur zu feiern, bis sie sich wie Odysseus durch die Filme und die Bücher und die Kunst zieht.
Und es ist auch ganz schön mutig, sich darauf einen Reim machen zu wollen – der künstliche Woolf’sche Gedankenfluss, den sich Kumpfmüller ausdenkt, kann sich natürlich nicht mit dem Original messen, obwohl er sich sicher in ihren Büchern inzwischen zu Hause fühlt und viel von ihr übernimmt. Hier werden keine neuen Fahrrinnen geschaffen. Aber er legt eine frei, die geradewegs zu Virginia Woolf führt – sie verliert ihre Unnahbarkeit. Sie erwacht auf diesen Seiten zum Leben, so wie es ihre Figuren taten. Vielleicht verschwindet sie wieder im Dunkel, wenn man das Buch zuschlägt, aber für einen Moment war sie da, dahinten in der Dunkelheit.
SUSAN VAHABZADEH
Es wäre doch eine schöne
Idee, Virginia Woolf
als mythische Figur zu feiern
Michael Kumpfmüller:
Ach, Virginia. Roman.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 2020.
240 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2020Vom Einflößen der Seelen
Wortloses Flüstern: Michael Kumpfmüller beschreibt die letzten Tage der Schriftstellerin Virginia Woolf
März 1941, ein großer Garten mit bescheidenem Anwesen am Rande eines malerischen Dörfchens, der Kirchhof direkt nebenan, gelegen im Südosten Englands, unweit der Küste. Frühling liegt fast in der Luft, doch die Tage sind noch unbeständig, windig, die Nächte kalt und laut. Dröhnend fliegt die deutsche Luftwaffe am Himmel ihre Angriffe auf London. Wer kann, hat die Ruinenmetropole längst verlassen, so auch das Schriftsteller- und Verlegerehepaar Leonard und Virginia Woolf, die ihre Stadtwohnung verloren und sich ins Landhaus nach Rodmell zurückgezogen haben. Dem Krieg aber entkommen sie hier nicht.
Virginia, eine passionierte Londonerin, sehnt sich nach den Klangräumen der Großstadt. In Rodmell, schreibt sie, "gibt es kein Echo - nur schale Luft". Ein schlankes Romanmanuskript hat sie grad fertiggestellt und einem Verlegerkollegen zur Begutachtung geschickt, für die weitere Bearbeitung jedoch fehlt ihr die Kraft. Die Depression, mit der sie seit Jahrzehnten lebt, nimmt immer fordernder Besitz von ihr. Drei Abschiedsbriefe schreibt sie und einen letzten Tagebucheintrag: "Heute ein seltsames Meeresküstengefühl in der Luft. Es erinnert mich an Pensionen auf der Promenade zu Ostern. Alle lehnen sich gegen den Wind, starr vor Kälte & zum Schweigen gebracht. Das Mark entfernt." Und dann, noch rätselhafter: "Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn wir Seelen einflößen könnten." Am 28. März packt sie sich schwere Steine in die Manteltaschen und geht in den Fluss. Drei Wochen später findet man die Leiche.
Das Leben wie das Sterben dieser großen Schriftstellerin, die für die Moderne das Erzählen neu erfunden hat, ist durch ihre vielen Selbstzeugnisse ungewöhnlich gut bekannt. Aber können uns die hinterlassenen Schriftstücke wie auch die Aussagen des Umfelds jemals der eigentlichen Person nahebringen, dem Schöpferischen, das sie angetrieben, oder gar dem Selbstzerstörerischen, das sie umgetrieben haben muss? Wollen wir ihr überhaupt auf diese Weise wahrhaft nahekommen? Oder worin sonst könnte Erzählliteratur, die immer die Lizenz zum Lügen hat, ihre eigene Wahrhaftigkeit je finden? Diesen Fragen geht Michael Kumpfmüller im neuen Roman nach, seinem siebten. Nichts Geringeres nimmt er sich darin vor, als die denkwürdige Vorstellung, die Woolf zuletzt im Tagebuch festhält, nun auf sie selbst anzuwenden: ihr eine Seele einzuflößen. Kann das gelingen?
Den zehn letzten Lebenstagen folgt der Roman, allesamt genau datiert und mit den wirklichen Geschehnissen, soweit bekannt, akribisch unterfüttert. Wir lesen, wie der schreckens- und entbehrungsreiche Kriegsalltag das Leben immer stärker in Beschlag nimmt; wie Freundschaften und andere Gesellschaftsbindungen, die Woolf ein Lebenselixier gaben, keinen Raum mehr finden und auch den intellektuellen Austausch lahmlegen; wie ihr Eheleben, das mit sogenanntem "Kopulationskram" mutmaßlich noch nie etwas zu tun hatte, doch ein paar zärtliche Momente gewinnt; wie Erinnerungen an Geschriebenes und viel Gelesenes wellenförmig auf- und abtauchen. Vor allem aber lesen wir, wie Woolf den zahlreichen Verstorbenen, die sie schon lang begleiten, noch einmal begegnet: Familienangehörigen wie dem Bruder Thoby, der jung an Typhus starb und im Roman "Jacobs Zimmer" weiterlebt, Künstlerfreunden wie Mark Gertler, der den Kopf ins Gas gelegt, oder der Freundin und Rivalin Katherine Mansfield, der ein Lungenleiden früh das Weiterleben erspart hat - ein verführerischer Totentanz, der auch Woolf bald unaufhaltsam mitreißt.
Erzählt wird das alles in der dritten Person in einer Art Bewusstseinsstrom, der spürbar Woolfs eigener berühmter Erzähltechnik nachgestaltet ist, hier durchsetzt von realen Tagebucheinträgen sowie Briefen und nur gelegentlich durch kurze Gegenschnitte auf eine Außenperspektive unterbrochen. Erst ganz zum Schluss verschiebt sich der Beobachtungswinkel und gibt noch einen Blick auf Leonard und sein Weiterleben frei. Tadellos recherchiert und mit vielen Resonanzen aus Woolfs Texten angereichert, schafft der Roman auf diese Art gekonnt die Echokammer, die Woolf in Rodmell so vermisste. Und doch liest man ihn mit großem Unbehagen.
Vor knapp zehn Jahren gelang Kumpfmüller ein genialer Wurf. In "Die Herrlichkeit des Lebens", der zum Bestseller wurde, entwarf er ein Bild des letzten Lebensjahres von Franz Kafka, leichthändig, hell und heiter und trotz tödlicher Tuberkulose von überraschender Lebensfreude erfüllt. Jetzt, da der Autor sich mit Virginia Woolf an eine andere Literatur-Ikone der Moderne wagt und ihre letzten Tage nachzeichnet, bleiben Überraschungen weitgehend aus. Am eindringlichsten sind seine Erzählpassagen, wenn Innenwelt und Außenwelt in eins zu gleiten scheinen, anderes wirkt eher zudringlich ("und so beugen wir uns ein wenig vor, damit wir besser hören, welche Geräusche sie macht"). Der schon oft ausfabulierten Idee, dass der bedeutsamste Moment in Woolfs Leben ihr Tod und in Freitodfiguren wie Septimus aus "Mrs Dalloway" vorgefasst sei, hat er nur wenig hinzuzufügen. Stattdessen solche Sätze: "Sie möchte dem Fluss eine schöne Geliebte sein, jung und geschmeidig; sie möchte, dass er sie sieht und birgt, nackt und entgegenkommend, wie sie jetzt ist. Ja, Liebster, sagt oder flüstert sie, so man wortlos flüstern kann, und man scheint es zu können." Das ist abgeschmackte Wasserleichenlyrik.
Wer Lust auf Woolf in biographischen Fiktionen hat, der lese lieber "Mitz, das Krallenäffchen von Bloomsbury" von der New Yorker Autorin Sigrid Nunez (auf Deutsch leider nicht mehr lieferbar), die ebenso charmante wie beziehungsreiche Geschichte eines ungewöhnlichen Haustiers, das frischen Wind ins Leben der Woolfs bringt. Dagegen fühlt sich "Ach, Virginia" eher an wie schale Luft.
TOBIAS DÖRING
Michael Kumpfmüller: "Ach, Virginia". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 238 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wortloses Flüstern: Michael Kumpfmüller beschreibt die letzten Tage der Schriftstellerin Virginia Woolf
März 1941, ein großer Garten mit bescheidenem Anwesen am Rande eines malerischen Dörfchens, der Kirchhof direkt nebenan, gelegen im Südosten Englands, unweit der Küste. Frühling liegt fast in der Luft, doch die Tage sind noch unbeständig, windig, die Nächte kalt und laut. Dröhnend fliegt die deutsche Luftwaffe am Himmel ihre Angriffe auf London. Wer kann, hat die Ruinenmetropole längst verlassen, so auch das Schriftsteller- und Verlegerehepaar Leonard und Virginia Woolf, die ihre Stadtwohnung verloren und sich ins Landhaus nach Rodmell zurückgezogen haben. Dem Krieg aber entkommen sie hier nicht.
Virginia, eine passionierte Londonerin, sehnt sich nach den Klangräumen der Großstadt. In Rodmell, schreibt sie, "gibt es kein Echo - nur schale Luft". Ein schlankes Romanmanuskript hat sie grad fertiggestellt und einem Verlegerkollegen zur Begutachtung geschickt, für die weitere Bearbeitung jedoch fehlt ihr die Kraft. Die Depression, mit der sie seit Jahrzehnten lebt, nimmt immer fordernder Besitz von ihr. Drei Abschiedsbriefe schreibt sie und einen letzten Tagebucheintrag: "Heute ein seltsames Meeresküstengefühl in der Luft. Es erinnert mich an Pensionen auf der Promenade zu Ostern. Alle lehnen sich gegen den Wind, starr vor Kälte & zum Schweigen gebracht. Das Mark entfernt." Und dann, noch rätselhafter: "Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn wir Seelen einflößen könnten." Am 28. März packt sie sich schwere Steine in die Manteltaschen und geht in den Fluss. Drei Wochen später findet man die Leiche.
Das Leben wie das Sterben dieser großen Schriftstellerin, die für die Moderne das Erzählen neu erfunden hat, ist durch ihre vielen Selbstzeugnisse ungewöhnlich gut bekannt. Aber können uns die hinterlassenen Schriftstücke wie auch die Aussagen des Umfelds jemals der eigentlichen Person nahebringen, dem Schöpferischen, das sie angetrieben, oder gar dem Selbstzerstörerischen, das sie umgetrieben haben muss? Wollen wir ihr überhaupt auf diese Weise wahrhaft nahekommen? Oder worin sonst könnte Erzählliteratur, die immer die Lizenz zum Lügen hat, ihre eigene Wahrhaftigkeit je finden? Diesen Fragen geht Michael Kumpfmüller im neuen Roman nach, seinem siebten. Nichts Geringeres nimmt er sich darin vor, als die denkwürdige Vorstellung, die Woolf zuletzt im Tagebuch festhält, nun auf sie selbst anzuwenden: ihr eine Seele einzuflößen. Kann das gelingen?
Den zehn letzten Lebenstagen folgt der Roman, allesamt genau datiert und mit den wirklichen Geschehnissen, soweit bekannt, akribisch unterfüttert. Wir lesen, wie der schreckens- und entbehrungsreiche Kriegsalltag das Leben immer stärker in Beschlag nimmt; wie Freundschaften und andere Gesellschaftsbindungen, die Woolf ein Lebenselixier gaben, keinen Raum mehr finden und auch den intellektuellen Austausch lahmlegen; wie ihr Eheleben, das mit sogenanntem "Kopulationskram" mutmaßlich noch nie etwas zu tun hatte, doch ein paar zärtliche Momente gewinnt; wie Erinnerungen an Geschriebenes und viel Gelesenes wellenförmig auf- und abtauchen. Vor allem aber lesen wir, wie Woolf den zahlreichen Verstorbenen, die sie schon lang begleiten, noch einmal begegnet: Familienangehörigen wie dem Bruder Thoby, der jung an Typhus starb und im Roman "Jacobs Zimmer" weiterlebt, Künstlerfreunden wie Mark Gertler, der den Kopf ins Gas gelegt, oder der Freundin und Rivalin Katherine Mansfield, der ein Lungenleiden früh das Weiterleben erspart hat - ein verführerischer Totentanz, der auch Woolf bald unaufhaltsam mitreißt.
Erzählt wird das alles in der dritten Person in einer Art Bewusstseinsstrom, der spürbar Woolfs eigener berühmter Erzähltechnik nachgestaltet ist, hier durchsetzt von realen Tagebucheinträgen sowie Briefen und nur gelegentlich durch kurze Gegenschnitte auf eine Außenperspektive unterbrochen. Erst ganz zum Schluss verschiebt sich der Beobachtungswinkel und gibt noch einen Blick auf Leonard und sein Weiterleben frei. Tadellos recherchiert und mit vielen Resonanzen aus Woolfs Texten angereichert, schafft der Roman auf diese Art gekonnt die Echokammer, die Woolf in Rodmell so vermisste. Und doch liest man ihn mit großem Unbehagen.
Vor knapp zehn Jahren gelang Kumpfmüller ein genialer Wurf. In "Die Herrlichkeit des Lebens", der zum Bestseller wurde, entwarf er ein Bild des letzten Lebensjahres von Franz Kafka, leichthändig, hell und heiter und trotz tödlicher Tuberkulose von überraschender Lebensfreude erfüllt. Jetzt, da der Autor sich mit Virginia Woolf an eine andere Literatur-Ikone der Moderne wagt und ihre letzten Tage nachzeichnet, bleiben Überraschungen weitgehend aus. Am eindringlichsten sind seine Erzählpassagen, wenn Innenwelt und Außenwelt in eins zu gleiten scheinen, anderes wirkt eher zudringlich ("und so beugen wir uns ein wenig vor, damit wir besser hören, welche Geräusche sie macht"). Der schon oft ausfabulierten Idee, dass der bedeutsamste Moment in Woolfs Leben ihr Tod und in Freitodfiguren wie Septimus aus "Mrs Dalloway" vorgefasst sei, hat er nur wenig hinzuzufügen. Stattdessen solche Sätze: "Sie möchte dem Fluss eine schöne Geliebte sein, jung und geschmeidig; sie möchte, dass er sie sieht und birgt, nackt und entgegenkommend, wie sie jetzt ist. Ja, Liebster, sagt oder flüstert sie, so man wortlos flüstern kann, und man scheint es zu können." Das ist abgeschmackte Wasserleichenlyrik.
Wer Lust auf Woolf in biographischen Fiktionen hat, der lese lieber "Mitz, das Krallenäffchen von Bloomsbury" von der New Yorker Autorin Sigrid Nunez (auf Deutsch leider nicht mehr lieferbar), die ebenso charmante wie beziehungsreiche Geschichte eines ungewöhnlichen Haustiers, das frischen Wind ins Leben der Woolfs bringt. Dagegen fühlt sich "Ach, Virginia" eher an wie schale Luft.
TOBIAS DÖRING
Michael Kumpfmüller: "Ach, Virginia". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 238 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Kumpfmüller [bleibt] ganz nah dran an seiner Protagonistin, wandert durch ihre Gedanken, Ideen, Erinnerungen [...] Sie erwacht auf diesen Seiten zum Leben, so wie es ihre Figuren taten. Vielleicht verschwindet sie wieder im Dunkel, wenn man das Buch zuschlägt, aber für einen Moment war sie da, dahinten in der Dunkelheit.« Susan Vahabzadeh Süddeutsche Zeitung 20200309