Belarus, August 2020. Die Präsidentschaftswahl ist in vollem Gange. Artur Klinau, Schriftsteller und Künstler, erhält einen Anruf: Seine Tochter Marta wurde verhaftet. Er fährt nach Minsk und macht sich auf die Suche. In den überfüllten Gefängnissen der Stadt werden Menschen festgehalten, die gegen massive Wahlfälschungen protestiert haben und nun der Gewalt der Staatsmacht ausgeliefert sind. Erschütternde Berichte über Folterungen dringen nach außen.
Minutiös protokolliert Klinau seine Erfahrung dieser dramatischen Tage. Zugleich setzt er die Ereignisse ins Verhältnis zur jüngeren Geschichte des Landes und erschließt ihren politischen, historischen und lebensweltlichen Kontext. Mit bitterem, spöttischem Strich zeichnet er das Porträt eines Diktators, eines "Künstlers" sui generis, der seine Werke mit der Axt erschafft.
Minutiös protokolliert Klinau seine Erfahrung dieser dramatischen Tage. Zugleich setzt er die Ereignisse ins Verhältnis zur jüngeren Geschichte des Landes und erschließt ihren politischen, historischen und lebensweltlichen Kontext. Mit bitterem, spöttischem Strich zeichnet er das Porträt eines Diktators, eines "Künstlers" sui generis, der seine Werke mit der Axt erschafft.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Atemlos liest Rezensentin Ilma Rakusa Artur Klinaus Bericht über die weißrussischen Aktivisten in "Acht Tage Revolution". Nachdem seine Tochter, die sich als Wahlhelferin gemeldet hatte, vom Lukaschenko-Regime verhaftet worden ist, begibt sich Klinau auf die Suche nach ihr, hält schriftlich fest, was er selbst erlebt und von anderen erfährt und stellt Parallelen zu seinen Erinnerungen an vergangene Proteste her, resümiert die Rezensentin. Dabei veranschauliche der Autor die bedrückende Stimmung unter dem Regime mit satirischen Zwischentönen und "Kafka-Referenzen". Auch malerische Metaphern heben dies Buch von anderen Sachbüchern ab, meint Rakusa, die "Acht Tage Revolution" zum "bewegendsten Buch" über die weißrussichen Proteste im Sommer 2020 kürt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2021Nicht meine
Revolution
Artur Klinaŭ war immer Dissident, aber die
Proteste gegen das Lukaschenko-Regime hält
er für schädlich. Seine Geschichte ist auch die eines
Bruchs zwischen den Generationen in Belarus
VON SONJA ZEKRI
Belarus ist in Aufruhr. Nicht mehr auf den Straßen, da herrscht Grabesstille, aber in den Küchen, zwischen den Zeilen. Nie war die Freiheit so nah, flüstern Menschen hinter vorgehaltener Hand, nie war eine Revolution glanzvoller. Artur Klinaŭ wägt seine Worte so vorsichtig, als sitze er im Verhör, aber dann sagt er sehr deutlich: „Es war nicht meine Revolution.“
Der Nebel über dem Wannsee schwappt an die Fenster des Literarischen Colloquiums Berlin. Seit eineinhalb Monaten ist Artur Klinaŭ mit einem PEN-Stipendium in Deutschland. Er kennt Berlin. Klinaŭ, geboren 1965 in Minsk, ist studierter Architekt, Künstler und Schriftsteller, Chefredakteur und Herausgeber der Zeitschrift pARTisan, die in drei Sprachen über zeitgenössische belarussische Kunst berichtet. Er hat Bücher über die verkannte Hauptstadt seines Landes geschrieben „Minsk. Sonnenstadt der Träume“ (Suhrkamp) und nationale Architektursymbole aus Stroh nachgebaut. Wenn in Belarus ein kultureller Aufbruch spürbar war, das zarte Heranwachsen einer eigenen unabhängigen Kunstszene, die den Boden für die Proteste gegen Alexander Lukaschenko im August 2020 bereitet hat, dann war es auch sein Verdienst. Aber dann hat er an dem Aufstand gar nicht teilgenommen.
Klinaŭ lebt in Belarus in einem verlassenen Dorf an der litauischen Grenze, dorthin möchte er in ein paar Monaten zurückkehren. Aber wenn man es nicht besser wüsste, könnte man auf den Gedanken kommen, dass er sich dabei weniger Sorgen über den Empfang des Regimes macht, als über die Resonanz einer Gruppe, die er den „revolutionären Mainstream“ nennt: „Ich war mein Leben lang Dissident und habe einen Ruf zu verlieren.“
Für Klinaŭ nämlich war der Aufstand ein Irrtum, ja, eine Katastrophe. „Jahrzehntelang haben wir alten Dissidenten, die traditionelle Intelligenzija auf den Wandel der Gesellschaft hingearbeitet“, sagt er: „Wir haben Kulturinstitutionen aufgebaut, die Zivilgesellschaft gefördert, ein neues Denken vorbereitet. Der Ausbruch der Revolution aber hat alle unsere Anstrengungen vernichtet, er hat die Gesellschaft zerstört.“ Das Regime sei längst sterbenskrank gewesen, es wäre organisch zerfallen, sagt er. Der Weg nach Europa hätte eine Evolution sein müssen, keine Eruption.
Bei so viel Revolutionsskepsis überrascht der Titel seines Buches: „Acht Tage Revolution – ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ heißt es und ist bislang nur auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen – sicherheitshalber. Darin beschreibt Klinaŭ die Proteste im vergangenen Jahr, aber auch ein persönliches Drama. Seine Tochter Marta war festgenommen worden, am Tag vor der Wahl, sie war als Wahlhelferin aktiv gewesen. Zwar wurde sie nicht geschlagen oder gefoltert und kam nach einigen Tagen frei, zwar nimmt sie in Klinaŭs Buch nur in Umrissen Gestalt an, aber eines wird bitter deutlich: In Fragen der Revolution trennen Vater und Tochter Welten.
Während weiß gekleidete Frauen Luftballons gegen Lukaschenko steigen ließen und junge Männer gegen maskierte Sicherheitskräfte ansangen, blieb Klinaŭ abseits, durchpflügte das Netz, schrieb Analysen und Kommentare. Marta wiederum hätte sich in die erste Reihe geworfen, hätte sie nur die Gelegenheit dazu gehabt. In seinem Buch beschreibt er einen Streit bei ihrem letzten Treffen, wutentbrannt war Marta davon gestürmt. Am nächsten Tag verschwand sie. Inzwischen lebt sie in Kiew, aber die Differenzen sind nicht ausgeräumt. Wir berühren das Thema nicht mehr, sagt Klinaŭ in Berlin, es ist zu schmerzhaft, zu belastend.
Ist der familiäre Konflikt ein Echo des großen politischen Generationenkonfliktes? Hier das altersschwache Regime, das weder die Jugend noch die sozialen Medien versteht und sich mit gichtigen Fingern an die Macht krallt, dort junge, gut ausgebildete, polyglotte Programmierer, Kuratoren, Unternehmer – Nachwuchs für die neue Mittelklasse? Klinaŭ spricht lieber von strategischen Differenzen: „Politik ist die Kunst des Machbaren. Unsere Strategie war weiser, klüger, zielführender“, sagt er: „Die anderen hatten heroische Gesten, große Opferbereitschaft. Aber sie haben zu nichts geführt.“
Wie fast alle Revolutionen erscheint auch die belarussische im Rückblick als unausweichlich. Seit Monaten liefern Bücher, Artikel, Interviews zwingende Gründe für den Aufstand: die politischen Lügen, das Versagen in der Pandemie. Wer aber verstehen will, warum Lukaschenko, dieser von außen betrachtet fast lächerliche Herrscher, sich 26 Jahre halten konnte, solange, wie Marta auf der Welt ist, der muss Artur Klinaŭ zuhören. Bis zu jenen August-Tagen, sagt er in Berlin, sei Belarus gar keine „Diktatur“ gewesen, sondern das, was er ein „völlig normales autoritäres Regime“ nennt. Das Gemütliche, Heimelige in seinen Worten ist kein Zufall. In „Acht Tage Revolution“ braucht er nur ein paar Zeilen für den Übergang von Hass und Aufbegehren zu Resignation und Anpassung: „Dein halbes Leben sitzt du schon am Ufer des trägen Gelben Flusses und wartest darauf, dass die Leiche deines Feindes in schwarzem Anzug, weißem Hemd und Lackschuhen vorbeischwimmt“, schreibt er: „Aber die Jahre gehen ins Land, das Wasser fließt und fließt, und er will einfach nicht kommen“. Irgendwann habe man sich eingerichtet, kenne die „Strafkolonie“, also: seine Heimat, in- und auswendig, das Tor, den Zaun, die Zelle, den Kübel, den Tisch. Und am Ende gehöre das Regime dann eben zur Familie. Man verstehe einander blind.
Dass Diktaturen in ihrer milderen Ausprägung auch Komfortzonen sein können, selbst für Oppositionelle, hat selten jemand so schonungslos offengelegt. Klinaŭ beschreibt ein Klima repressiver Intimität, das zu einer obsessiven Beschäftigung mit dem Gegner führt. Der Präsident, schreibt er, „war Experte auf allen Gebieten: wie man Kartoffeln verwöhnt, Häuser anbaut, Filme errichtet, Kinder anmischt, aus Weidenruten Traktoren schnitzt.“ Anfangs klingt das noch satirisch. Aber je tiefer sich Klinaŭ in das Wesen des Herrschers als Künstler einfühlt, je häufiger er ihn zärtlich-ironisch „Batka“ nennt, um seinen richtigen Namen wie in einem Schutzzauber dann doch nicht auszusprechen, desto größer wirkt die Diskrepanz zu den Beschreibungen der jungen Aufständischen. Klinaŭ würdigt ihr Leiden und ihren Mut, aber am Ende bleiben sie ihm fremd. „Sie dachten, es würde leicht werden, das Regime zu stürzen“, sagt er in Berlin: „Das war eine infantile Hoffnung.“
Früher klang Klinaŭ anders, kämpferischer, rebellischer. In Interviews hatte er den Partisanen-Geist seiner Landsleute gelobt, die unter schwierigsten Umständen überleben können, aber auch über ihre Unfähigkeit geklagt, „politische Freiheit für sich zu finden“. Und möglicherweise liegen die Gründe für seine Erschütterung über den Aufstand gar nicht in Belarus. Einen Hinweis darauf gibt ein Satz, dessen ungeheuerlicher Sinn sich erst allmählich entfaltet. Klinaŭ sagt: „Die Souveränität von Belarus ist wichtiger als die Demokratie.“
Dass Belarus sich seiner Ansicht nach entscheiden muss zwischen Demokratie und nationaler Souveränität, ist ohne die Rolle Putins nicht zu begreifen. Klinaŭ nennt ihn nur den „Starzen“, und glaubt man ihm, ist er das Mastermind hinter so gut wie allem, was in der Region geschieht. Die belarussischen Oppositionspolitiker? Marionetten des Kreml, womöglich sogar von Russland finanziert. Die Revolution? Keine Selbstermächtigung des Volkes, sondern ein entgleistes Manöver russischer Spindoktoren. Wie 2010 habe Putin auch 2020 Unruhen geplant, um Lukaschenko an Russland zu binden. Das russische Kalkül: Der belarussische Herrscher werde die Proteste brutal niederschlagen und sich so vor Europa unmöglich machen. Nur seien die Proteste im August 2020 gewaltiger, Lukaschenkos Reaktion grausamer gewesen als vorgesehen – der Kreml habe vorübergehend die Kontrolle verloren.
Aber ist das nicht die Entwertung des Aufstandes, mehr noch: lupenreine Verschwörungstheorie? Klinaŭ wehrt ab: „Wenn jemand über den Einfluss des Kreml spricht, wird das viel zu oft als Verschwörungstheorie abgetan.“ Er schöpfe aus langer Erfahrung.
Putin wolle ein geopolitisches „Triptychon“ aus Russland, Belarus und der Ukraine schaffen, sagt Klinaŭ, und natürlich gehört der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze dazu. Eine „politische Show“ sei das, so wie Lukaschenkos Spiel mit den Flüchtlingen, immerhin keine reale militärische Bedrohung: „Ein Krieg in der Ukraine wäre das Ende des Putin-Regimes, und so dumm ist Putin nicht.“
War es das also in Belarus für dieses Jahrhundert mit der Freiheit? Die Gesellschaft ist verwundet, der Aufstand erstickt, das Regime hat alle Legitimität verloren. Was nun?
Artur Klinaŭ sieht so unglücklich aus wie nur je ein Mann zwischen allen Stühlen. Ein Dialog könne einen Weg aus der Sackgasse sein, sagt er, beide Seiten, der Präsident und seine Gegner, müssten nachgeben. Das klingt einerseits salomonisch und andererseits weltfremd. Wie soll das gehen nach all den Verbrechen, nach all dem Leid? Wäre es nicht das Eingeständnis, dass die Revolution gescheitert ist? „Das ist sie sowieso“, sagt Klinaŭ: „Das einzige, was noch übrig ist, ist die Konterrevolution“. Er wird trotzdem zurückfahren, wird versuchen, Säle für Lesungen zu bekommen, was selbst für unpolitische Themen fast unmöglich ist, so groß ist die Angst des Staates vor seinen Bürgern. Er wird sich ins Private zurückziehen, auf den richtigen Moment warten. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Belarussen. Partisanen eben.
Er beschreibt ein Klima
repressiver Intimität, obsessiver
Beschäftigung mit dem Gegner
Artur Klinaŭ:
Acht Tage Revolution.
Ein dokumentarisches
Journal aus Minsk. Aus
dem Russischen von Volker Weichsel und Thomas
Weiler. Suhrkamp, Berlin 2021. 264 Seiten, 15 Euro.
„Die anderen hatten heroische Gesten, große Opferbereitschaft. Aber sie haben zu nichts geführt.“: Proteste gegen die Wiederwahl des autokratischen Präsidenten Alexander Lukaschenko in Minsk im August 2020.
Foto: VASILY FEDOSENKO/REUTERS
Der Schriftsteller und Künstler
Artur Klinaŭ. Foto: Sonja Zekri
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Revolution
Artur Klinaŭ war immer Dissident, aber die
Proteste gegen das Lukaschenko-Regime hält
er für schädlich. Seine Geschichte ist auch die eines
Bruchs zwischen den Generationen in Belarus
VON SONJA ZEKRI
Belarus ist in Aufruhr. Nicht mehr auf den Straßen, da herrscht Grabesstille, aber in den Küchen, zwischen den Zeilen. Nie war die Freiheit so nah, flüstern Menschen hinter vorgehaltener Hand, nie war eine Revolution glanzvoller. Artur Klinaŭ wägt seine Worte so vorsichtig, als sitze er im Verhör, aber dann sagt er sehr deutlich: „Es war nicht meine Revolution.“
Der Nebel über dem Wannsee schwappt an die Fenster des Literarischen Colloquiums Berlin. Seit eineinhalb Monaten ist Artur Klinaŭ mit einem PEN-Stipendium in Deutschland. Er kennt Berlin. Klinaŭ, geboren 1965 in Minsk, ist studierter Architekt, Künstler und Schriftsteller, Chefredakteur und Herausgeber der Zeitschrift pARTisan, die in drei Sprachen über zeitgenössische belarussische Kunst berichtet. Er hat Bücher über die verkannte Hauptstadt seines Landes geschrieben „Minsk. Sonnenstadt der Träume“ (Suhrkamp) und nationale Architektursymbole aus Stroh nachgebaut. Wenn in Belarus ein kultureller Aufbruch spürbar war, das zarte Heranwachsen einer eigenen unabhängigen Kunstszene, die den Boden für die Proteste gegen Alexander Lukaschenko im August 2020 bereitet hat, dann war es auch sein Verdienst. Aber dann hat er an dem Aufstand gar nicht teilgenommen.
Klinaŭ lebt in Belarus in einem verlassenen Dorf an der litauischen Grenze, dorthin möchte er in ein paar Monaten zurückkehren. Aber wenn man es nicht besser wüsste, könnte man auf den Gedanken kommen, dass er sich dabei weniger Sorgen über den Empfang des Regimes macht, als über die Resonanz einer Gruppe, die er den „revolutionären Mainstream“ nennt: „Ich war mein Leben lang Dissident und habe einen Ruf zu verlieren.“
Für Klinaŭ nämlich war der Aufstand ein Irrtum, ja, eine Katastrophe. „Jahrzehntelang haben wir alten Dissidenten, die traditionelle Intelligenzija auf den Wandel der Gesellschaft hingearbeitet“, sagt er: „Wir haben Kulturinstitutionen aufgebaut, die Zivilgesellschaft gefördert, ein neues Denken vorbereitet. Der Ausbruch der Revolution aber hat alle unsere Anstrengungen vernichtet, er hat die Gesellschaft zerstört.“ Das Regime sei längst sterbenskrank gewesen, es wäre organisch zerfallen, sagt er. Der Weg nach Europa hätte eine Evolution sein müssen, keine Eruption.
Bei so viel Revolutionsskepsis überrascht der Titel seines Buches: „Acht Tage Revolution – ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ heißt es und ist bislang nur auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen – sicherheitshalber. Darin beschreibt Klinaŭ die Proteste im vergangenen Jahr, aber auch ein persönliches Drama. Seine Tochter Marta war festgenommen worden, am Tag vor der Wahl, sie war als Wahlhelferin aktiv gewesen. Zwar wurde sie nicht geschlagen oder gefoltert und kam nach einigen Tagen frei, zwar nimmt sie in Klinaŭs Buch nur in Umrissen Gestalt an, aber eines wird bitter deutlich: In Fragen der Revolution trennen Vater und Tochter Welten.
Während weiß gekleidete Frauen Luftballons gegen Lukaschenko steigen ließen und junge Männer gegen maskierte Sicherheitskräfte ansangen, blieb Klinaŭ abseits, durchpflügte das Netz, schrieb Analysen und Kommentare. Marta wiederum hätte sich in die erste Reihe geworfen, hätte sie nur die Gelegenheit dazu gehabt. In seinem Buch beschreibt er einen Streit bei ihrem letzten Treffen, wutentbrannt war Marta davon gestürmt. Am nächsten Tag verschwand sie. Inzwischen lebt sie in Kiew, aber die Differenzen sind nicht ausgeräumt. Wir berühren das Thema nicht mehr, sagt Klinaŭ in Berlin, es ist zu schmerzhaft, zu belastend.
Ist der familiäre Konflikt ein Echo des großen politischen Generationenkonfliktes? Hier das altersschwache Regime, das weder die Jugend noch die sozialen Medien versteht und sich mit gichtigen Fingern an die Macht krallt, dort junge, gut ausgebildete, polyglotte Programmierer, Kuratoren, Unternehmer – Nachwuchs für die neue Mittelklasse? Klinaŭ spricht lieber von strategischen Differenzen: „Politik ist die Kunst des Machbaren. Unsere Strategie war weiser, klüger, zielführender“, sagt er: „Die anderen hatten heroische Gesten, große Opferbereitschaft. Aber sie haben zu nichts geführt.“
Wie fast alle Revolutionen erscheint auch die belarussische im Rückblick als unausweichlich. Seit Monaten liefern Bücher, Artikel, Interviews zwingende Gründe für den Aufstand: die politischen Lügen, das Versagen in der Pandemie. Wer aber verstehen will, warum Lukaschenko, dieser von außen betrachtet fast lächerliche Herrscher, sich 26 Jahre halten konnte, solange, wie Marta auf der Welt ist, der muss Artur Klinaŭ zuhören. Bis zu jenen August-Tagen, sagt er in Berlin, sei Belarus gar keine „Diktatur“ gewesen, sondern das, was er ein „völlig normales autoritäres Regime“ nennt. Das Gemütliche, Heimelige in seinen Worten ist kein Zufall. In „Acht Tage Revolution“ braucht er nur ein paar Zeilen für den Übergang von Hass und Aufbegehren zu Resignation und Anpassung: „Dein halbes Leben sitzt du schon am Ufer des trägen Gelben Flusses und wartest darauf, dass die Leiche deines Feindes in schwarzem Anzug, weißem Hemd und Lackschuhen vorbeischwimmt“, schreibt er: „Aber die Jahre gehen ins Land, das Wasser fließt und fließt, und er will einfach nicht kommen“. Irgendwann habe man sich eingerichtet, kenne die „Strafkolonie“, also: seine Heimat, in- und auswendig, das Tor, den Zaun, die Zelle, den Kübel, den Tisch. Und am Ende gehöre das Regime dann eben zur Familie. Man verstehe einander blind.
Dass Diktaturen in ihrer milderen Ausprägung auch Komfortzonen sein können, selbst für Oppositionelle, hat selten jemand so schonungslos offengelegt. Klinaŭ beschreibt ein Klima repressiver Intimität, das zu einer obsessiven Beschäftigung mit dem Gegner führt. Der Präsident, schreibt er, „war Experte auf allen Gebieten: wie man Kartoffeln verwöhnt, Häuser anbaut, Filme errichtet, Kinder anmischt, aus Weidenruten Traktoren schnitzt.“ Anfangs klingt das noch satirisch. Aber je tiefer sich Klinaŭ in das Wesen des Herrschers als Künstler einfühlt, je häufiger er ihn zärtlich-ironisch „Batka“ nennt, um seinen richtigen Namen wie in einem Schutzzauber dann doch nicht auszusprechen, desto größer wirkt die Diskrepanz zu den Beschreibungen der jungen Aufständischen. Klinaŭ würdigt ihr Leiden und ihren Mut, aber am Ende bleiben sie ihm fremd. „Sie dachten, es würde leicht werden, das Regime zu stürzen“, sagt er in Berlin: „Das war eine infantile Hoffnung.“
Früher klang Klinaŭ anders, kämpferischer, rebellischer. In Interviews hatte er den Partisanen-Geist seiner Landsleute gelobt, die unter schwierigsten Umständen überleben können, aber auch über ihre Unfähigkeit geklagt, „politische Freiheit für sich zu finden“. Und möglicherweise liegen die Gründe für seine Erschütterung über den Aufstand gar nicht in Belarus. Einen Hinweis darauf gibt ein Satz, dessen ungeheuerlicher Sinn sich erst allmählich entfaltet. Klinaŭ sagt: „Die Souveränität von Belarus ist wichtiger als die Demokratie.“
Dass Belarus sich seiner Ansicht nach entscheiden muss zwischen Demokratie und nationaler Souveränität, ist ohne die Rolle Putins nicht zu begreifen. Klinaŭ nennt ihn nur den „Starzen“, und glaubt man ihm, ist er das Mastermind hinter so gut wie allem, was in der Region geschieht. Die belarussischen Oppositionspolitiker? Marionetten des Kreml, womöglich sogar von Russland finanziert. Die Revolution? Keine Selbstermächtigung des Volkes, sondern ein entgleistes Manöver russischer Spindoktoren. Wie 2010 habe Putin auch 2020 Unruhen geplant, um Lukaschenko an Russland zu binden. Das russische Kalkül: Der belarussische Herrscher werde die Proteste brutal niederschlagen und sich so vor Europa unmöglich machen. Nur seien die Proteste im August 2020 gewaltiger, Lukaschenkos Reaktion grausamer gewesen als vorgesehen – der Kreml habe vorübergehend die Kontrolle verloren.
Aber ist das nicht die Entwertung des Aufstandes, mehr noch: lupenreine Verschwörungstheorie? Klinaŭ wehrt ab: „Wenn jemand über den Einfluss des Kreml spricht, wird das viel zu oft als Verschwörungstheorie abgetan.“ Er schöpfe aus langer Erfahrung.
Putin wolle ein geopolitisches „Triptychon“ aus Russland, Belarus und der Ukraine schaffen, sagt Klinaŭ, und natürlich gehört der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze dazu. Eine „politische Show“ sei das, so wie Lukaschenkos Spiel mit den Flüchtlingen, immerhin keine reale militärische Bedrohung: „Ein Krieg in der Ukraine wäre das Ende des Putin-Regimes, und so dumm ist Putin nicht.“
War es das also in Belarus für dieses Jahrhundert mit der Freiheit? Die Gesellschaft ist verwundet, der Aufstand erstickt, das Regime hat alle Legitimität verloren. Was nun?
Artur Klinaŭ sieht so unglücklich aus wie nur je ein Mann zwischen allen Stühlen. Ein Dialog könne einen Weg aus der Sackgasse sein, sagt er, beide Seiten, der Präsident und seine Gegner, müssten nachgeben. Das klingt einerseits salomonisch und andererseits weltfremd. Wie soll das gehen nach all den Verbrechen, nach all dem Leid? Wäre es nicht das Eingeständnis, dass die Revolution gescheitert ist? „Das ist sie sowieso“, sagt Klinaŭ: „Das einzige, was noch übrig ist, ist die Konterrevolution“. Er wird trotzdem zurückfahren, wird versuchen, Säle für Lesungen zu bekommen, was selbst für unpolitische Themen fast unmöglich ist, so groß ist die Angst des Staates vor seinen Bürgern. Er wird sich ins Private zurückziehen, auf den richtigen Moment warten. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Belarussen. Partisanen eben.
Er beschreibt ein Klima
repressiver Intimität, obsessiver
Beschäftigung mit dem Gegner
Artur Klinaŭ:
Acht Tage Revolution.
Ein dokumentarisches
Journal aus Minsk. Aus
dem Russischen von Volker Weichsel und Thomas
Weiler. Suhrkamp, Berlin 2021. 264 Seiten, 15 Euro.
„Die anderen hatten heroische Gesten, große Opferbereitschaft. Aber sie haben zu nichts geführt.“: Proteste gegen die Wiederwahl des autokratischen Präsidenten Alexander Lukaschenko in Minsk im August 2020.
Foto: VASILY FEDOSENKO/REUTERS
Der Schriftsteller und Künstler
Artur Klinaŭ. Foto: Sonja Zekri
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Es ist das bewegendste Buch, das über die weissrussischen Proteste im Sommer 2020 geschrieben wurde ...« Ilma Rakusa Neue Zürcher Zeitung 20220203