Westliche Wissenschaft und östliche Philosophie
„Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass es uns allen aufgrund unseres Gehirns schwerfällt, in unserem körperlichen und emotionalen Erleben im Hier und Jetzt zu bleiben.“ (8/9) Dabei ist Achtsamkeit eine wesentliche Voraussetzung, um
glücklich zu sein. Wem das gelingt, wird selbst mit chronischen Schmerzen besser fertig, wie Tim Gard und…mehrWestliche Wissenschaft und östliche Philosophie
„Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass es uns allen aufgrund unseres Gehirns schwerfällt, in unserem körperlichen und emotionalen Erleben im Hier und Jetzt zu bleiben.“ (8/9) Dabei ist Achtsamkeit eine wesentliche Voraussetzung, um glücklich zu sein. Wem das gelingt, wird selbst mit chronischen Schmerzen besser fertig, wie Tim Gard und Britta Hölzel in ihrem Beitrag „Achtsamer Umgang mit Schmerz“ (79) deutlich machen.
Das deckt sich mit Ausführungen von Harro Albrecht [1], der auch Achtsamkeitsübungen zur Linderung von Schmerzen vorschlägt. Während in Albrechts Buch der Schmerz im Fokus steht und Achtsamkeit ein Mittel zum Zweck ist, ist es bei Britta Hölzel und Christine Brähler eher die umgekehrte Perspektive. Sie thematisieren Achtsamkeit mit seinen zahlreichen Facetten, wobei die Behandlung von Schmerz einen Anwendungsfall darstellt.
Achtsamkeitsmeditation hat seinen Ursprung im Buddhismus. Seit die Hirnforschung festgestellt hat, dass Meditation zu messbaren Veränderungen im Gehirn führt, wird das Thema auch in der Wissenschaft ernst genommen und weiter untersucht. Auffallend ist, dass der Buddhismus nicht nur die Literatur beflügelt hat (siehe „Siddhartha“ [2]), sondern auch die Wissenschaft herausfordert (siehe „Das Tao der Physik“ [3]) und mit der Meditation vollends im Westen angekommen ist.
Das Buch besteht aus Beiträgen von 12 Autoren, in denen verschiedene Perspektiven beleuchtet werden. Im Fokus stehen die Ursprünge der Achtsamkeitsforschung, die Erkenntnisse der Hirnforschung, der Umgang mit körperlichen oder emotionalen Belastungen sowie die Vorteile einer achtsamen Lebenseinstellung beim Umgang mit anderen Menschen in Beruf und Alltag. Die Ausführungen sind strukturiert und verständlich.
Achtsamkeit hat immer einen Erfahrungsbezug und ist kein abstraktes Konzept. Sinnliches Erleben ist subjektiv und sprachlich nicht vermittelbar. (26) Spinnt man diese Gedanken weiter, so ergeben sich Parallelen zu David Hume und dem Begriff der Qualia. Schon Hume erkannte, dass wir uns keinen Begriff vom Geschmack einer Ananas bilden können, ohne diese tatsächlich gekostet zu haben. Neben dem Erfahrungsbezug geht es in dem Buch um die bewusste Kontrolle der Aufmerksamkeit. (34/35)
Können wir mitten im Leben aufwachen? Jedenfalls gibt es Erfahrungsberichte, die das nahe legen. Gisela Full beschäftigt sich mit dem Thema Erleuchtung. So genannte kosmische Bewusstseinserlebnisse wurden schon vor Jahrhunderten beschrieben [4], entziehen sich aber, da subjektiv, einer naturwissenschaftlichen Untersuchung. Hier gilt das, was an anderer Stelle über den Erfahrungsbezug gesagt wird. Ohne eigene Erfahrung kann man sich eine nicht-ichbezogene Wahrnehmung einfach nicht vorstellen. Wenn das Ich ein Konstrukt ist, wer nimmt dann wahr?
Das Buch fordert die Leser auf, sich mit Achtsamkeit zu beschäftigen und zwar nicht intellektuell, sondern durch praktische Erfahrung. Es klärt über Zusammenhänge und Abhängigkeiten auf, umsetzen muss es jeder für sich selbst, z.B. durch Meditation. Geradezu weise klingen die Ausführungen von Michaela Doepke zur säkularen Ethik. Sie verweist auf Michael von Brück, der sich für einen interreligiösen Dialog ausspricht und auf Thich Nhat Hanh, dem es hinsichtlich der Ethik egal ist, ob jemand an Gott glaubt. In die gleiche Richtung argumentiert der Dalai Lama. (314) „Religion ist Privatsache, Ethik betrifft die ganze Menschheit.“ (316)
Für meinen Geschmack hätte das Thema Hirnforschung ein höheres Gewicht haben können. Das ändert aber nichts daran, dass durch die Zusammenstellung vieler Autoren eine große thematische Bandbreite abgedeckt wird und auch eine Mischung hinsichtlich Wissenschaft, Erfahrungsberichten und Anleitungen zu Übungen erreicht wird.
[1] Harro Albrecht: „Schmerz – Eine Befreiungsgeschichte“
[2] Hermann Hesse: „Siddhartha“
[3] Fritjof Capra: „Das Tao der Physik“
[4] Richard M. Bucke: „Kosmisches Bewusstsein“