Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2020Tscheka
und Trolle
Zwei Bücher zeigen eindrucksvoll, wie das Internet
zum Schlachtfeld der Desinformation wurde
VON JANNIS BRÜHL
Als Berlin 1945 in Schutt und Asche lag, fand sich in der verlassenen japanischen Botschaft ein sonderbares, halbverbranntes Dokument: die deutsche Übersetzung des sogenannten Tanaka-Memorandums. Der Text, geschrieben in den Zwanzigern, las sich wie eine Zusammenfassung der Pläne von Tokios Führung: Erst wolle man China, dann die ganze Welt erobern. Es gab eine chinesische Version, eine russische, eine englische, irgendwie war der Text auch ins Deutsche übersetzt worden und in Berlin gelandet. Was es nie gab, war ein japanisches Original.
Eroberungspläne hatte Japan tatsächlich, doch das Dokument war eine Fälschung, entweder von chinesischen Nationalisten oder der Tscheka, der sowjetischen Geheimpolizei. Besonders China und den USA diente es als Beleg für Japans Bösartigkeit. Die Anekdote ist eine von vielen über politische Fälschungen, die Thomas Rid in seinem Buch „Active Measures: Die geheime Geschichte von Desinformation und Politischer Kriegsführung“ erzählt. Das Buch des Politikwissenschaftlers der Johns-Hopkins-Universität, der sich der Geschichte von Technologie als Waffe verschrieben hat, ist aber viel mehr als ein nostalgischer Rückblick auf Geheimdienstoperationen. Die Fragen nach der Verzerrung der Realität durch staatliche Manipulatoren reichen bis in unsere Gegenwart. Denn entgegen der allgemeinen Wahrnehmung sei die aktuelle Krise der westlichen Demokratie nichts Neues, schreibt Rid. Die Einmischung Russlands in den US-Wahlkampf 2016 habe einen Vorlauf von einem Jahrhundert gehabt.
Wo Agenten in den Zwanzigern noch in New Yorker Hinterhöfen kyrillische Lettern für Setzmaschinen auftreiben mussten, um Briefköpfe zu fälschen und so die Fernsteuerung eines US-Handelsverbandes durch die Sowjetunion vorzugaukeln, schreiben heute Klickarbeiter in Großraumbüros wie der „Trollfabrik“ in St. Petersburg aggressive Online-Kommentare im Akkord. Wo einst gut ausgebildete Agenten in konspirativen Wohnungen Fälschungen zusammenklebten, Dokumente unter hohem Risiko übergaben und hofften, dass Journalisten auf sie hineinfallen, ballern heute prekär beschäftigte Laien – motiviert von Ideologie oder Geldnot – Lügen, Halbwahrheiten oder Leaks durchs Internet, teils unterstützt durch Software, mit der Veröffentlichung und Verbreitung automatisiert werden.
Rid räumt mit Vorurteilen auf: „Aktive Maßnahmen“ oder dezinformatsiya – beides Wortschöpfungen der Geheimbürokraten des Ostblocks – sind keine „Gehirnwäsche“. Sie sollen existierende Spannungen in Gesellschaften verstärken, jene „Wahrheiten“, an die ohnehin ein großer Teil der Bevölkerung glaubt: Die USA sind ein imperialistischer Aggressor. Oder: Die Kommunisten haben unseren Staat unterwandert. Heute verbreiten sich im Netz herbeifantasierte Verschwörungen von NGOs, Milliardären und gewählten Regierungen, fusioniert mit antimuslimischen oder antisemitischen Ressentiments. Ziel der „Maßnahmen“ ist wie eh und je: Keile zwischen ethnische Gruppen oder alliierte Staaten treiben, Vertrauen in Regierungen erschüttern. Bis die Gesellschaft nicht mehr weiß, wie sie Konflikte friedlich regeln soll.
„Desinformation“ zu definieren, bleibt schwierig: Manchmal sind es Lügen, die der Wahrheit beigemischt werden, manchmal Fakten, bei denen nur die Quelle nicht ist, was sie zu sein vorgibt, etwa ein Verein oder eine Webseite, die ein Geheimdienst steuert. Deutlich formulierte es Ladislav Bittman, ein tschechoslowakischer Geheimdienstler, der überlief und vor dem US-Kongress gefragt wurde, was Desinformation denn sei. Seine Antwort: „In einfachem Englisch: dreckige Tricks.“
Rids historische Darstellung lässt sich durch das reportageartige Buch „Das ist keine Propaganda“ des britischen Journalisten Peter Pomerantsev ergänzen. Beide stellen eine Frage an die offene Gesellschaft: Wie soll sie mit globalen Informationsströmen umgehen, in denen sich Lüge und Wahrheit, legitime Quellen und potemkinsche Webseiten vermischen – ohne in Paranoia oder Zensur zu verfallen? Die Antwort steht noch aus.
Pomerantsev begibt sich in seinem Buch auf eine sehr persönliche Reise durch die Welt der digitalen Desinformation. Er trifft in Mexiko, der Ukraine, und auf den Philippinen Manipulatoren und ihre Opfer. Dazu zählen Journalisten, die Korruption, Staatsgewalt und Drogenkartelle anprangern. Dafür werden sie von staatlich sanktionierten Shitstorm-Truppen verleumdet und belästigt. Politisches Cybermobbing ist Alltag geworden, das Handy des mexikanischen Regierungskritikers Alberto Escoria vibriert bei jeder Todesdrohung gegen ihn – „eine Art psychologisches Folterinstrument“, schreibt Pomerantsev. Solche Begegnungen verwebt Pomerantsev, Sohn des Schriftstellers Igor Pomerantsev, mit dem Schicksal seiner Familie, die mit ihm in den Siebzigern aus der Sowjetunion auswanderte. Die Erniedrigungen durch KGB-Offiziere und die Selbstzweifel seines Vaters schildert er literarisch in Zwischenkapiteln.
Dabei stellt Pomerantsev fest: Psychologische Zersetzungstechniken aus den Verhörräumen des 20. Jahrhunderts sind in die digitalen Netzwerke des 21. Jahrhunderts gewandert. Die Willkür der Sowjetunion sei heute allgegenwärtig. Die Erinnerungen des Autors an die demütigenden Verhöre seiner Verwandten durch den KGB und die Sinnkrisen, die sein Vater im kommunistischen Staat durchlebte, machen seine persönliche Motivation nachvollziehbar. Leider fallen sie lang aus und halten die Recherchen des Autors an den Schauplätzen des Informationskriegs und seine kluge Analyse der aktuellen Lage auf.
Rid spannt dagegen den großen historischen Bogen, und der beginnt dort, wo er später mit der Einmischung in die US-Wahl 2016 endet: in Moskau. Nach der Gründung des Büros für dezinformatsiya in der russischen Geheimpolizei 1923 kämpften USA und UdSSR Rid zufolge mehrere Jahrzehnte auf Augenhöhe. „Aktive Maßnahmen“ und verdeckte Geldflüsse machten die Lage in der Nachkriegszeit unübersichtlich: Mehrere Gruppen von Antikommunisten, die vom Westberlin der Fünfziger aus die DDR mit gefälschten Zeitungen voller pro-westlicher Propaganda fluteten, waren von der CIA finanziert. Eine brachte es fertig, in die zentrale Steuerung des Sozialismus einzugreifen: Geschäften in Sachsen diktierte sie im Namen der DDR-Regierung erfundene – viel zu niedrige – Preise. Als die Fälschungen aufflogen, hatten die Menschen schon die Regale leergekauft. Ein Echo von Rids Buch findet sich auch in dem von Pomerantsev. Der erzählt von seinem Vater, der in der Sowjetunion für kritische Zeitschriften schrieb, die von der CIA im Rahmen jener Tarnoperationen finanziert wurden, die Rid recherchiert hat.
Die Sowjets bedienten sich derweil linker und rechter Krawallblätter im Westen, die neben nackten Frauen auf ihren Titelseiten etwa „geheime Nato-Pläne“ anpriesen (die der KGB gefälscht und den Journalisten zugespielt hatte). In einer besonders zynischen Operation stifteten die Sowjets einen Teil jener Welle antisemitischer Schmierereien an Synagogen und Verwüstungen jüdischer Friedhöfe an, die von 1959 an Westdeutschland erschütterte. Schuld waren in vielen Fällen echte Nazis, doch einige Täter waren im Auftrag Moskaus unterwegs. Sie sollten das weltweite Vertrauen in die eben wiederbewaffnete Bundesrepublik zerstören.
In Sachen Technik und Skrupellosigkeit sieht Rid die USA nur bis zum Mauerbau 1961 auf Augenhöhe mit dem Osten. KGB und Stasi versuchten noch in den Achtzigern, die westdeutsche Friedensbewegung zu unterwandern – schließlich war der Widerstand gegen US-Atomraketen in Deutschland in ihrem Interesse. Washington begnügte sich in dieser Zeit damit, Oppositionelle mit Material zu versorgen. CIA-Tarnorganisationen schmuggelten in den Achtzigen Bücher wie 1984, Audiokassetten und T-Shirts mit anti-sowjetischen Slogans sowie Computer und Drucker in die Ukraine. Bleibt der Westen also sauber? Wohl kaum. Pomerantsev ergänzt in seinem Buch, dass auch die USA im digitalen Zeitalter falsch spielen. In Afghanistan und Pakistan setzte ihre Armee „Sockenpuppen“ – Fake-Personen in sozialen Netzwerken – ein, die in lokalen Sprachen pro-amerikanische Stimmung machen sollten. Washington bastelte auch an einem „kubanischen Twitter“, auf dem Antikommunisten einen Aufstand im sozialistischen Staat anheizen sollten.
Dass die Sowjetunion und Russland so viele Seiten einnehmen, thematisiert Rid selbst und kommt damit zum wichtigsten Punkt von Desinformationskampagnen: Wirkung entfalten sie oft erst dann, wenn sie auffliegen. Ob Operationen ein Erfolg sind, könne man nicht objektiv messen, das liege im Auge des Betrachters „Wenn eine Gemeinschaft im Fadenkreuz einer Desinformations-Kampagne glaubt, die Kampagne sei ein voller Erfolg, hat sie selbst die Kampagne zum vollen Erfolg gemacht.“
Jede aufgedeckte Tarnoperation macht Gesellschaften ein bisschen paranoider. So wirken „Aktive Maßnahmen“ auch dann nachhaltig, wenn sie gar keine konkreten Auswirkungen haben, aber von Politikern und Medien als brillant und verschlagen dargestellt werden.
Die Facebook- und Twitter-Manipulationen der russischen „Trollfabrik“ im US-Wahlkampf 2016 sind ein Beispiel. Die aufwiegelnden Beiträge über Donald Trump, Hillary Clinton und Rassismus, die Spaltungen der US-Gesellschaft verstärken sollten, waren oft dilettantisch gemacht. Viele der billig zusammengestöpselten Memes wurden nur von einer zweistelligen Zahl von Amerikanern wahrgenommen – bis große Medien intensiv über sie berichteten. Erst sie erweckten den Eindruck, der russische Staat sei ein Großmeister der Manipulation.
Wie aktiv auch demokratische Politiker Desinformation verbreiten, zeigt der Fall des „Tanaka-Memos“. 1942 verbreitete der US-Kongress selbst das Dokument, das japanische Welteroberungspläne auf plumpe Art ausbuchstabierte – obwohl die New York Times es längst als Fälschung enttarnt hatte. Es war einfach zu nützlich für die eigene Propaganda.
Seit 100 Jahren mischt sich
Moskau im Westen ein, nicht
erst seit der Trump-Wahl 2016
„Aktive Maßnahmen“ haben oft
gar keine konkreten Folgen,
aber durchaus psychologische
Thomas Rid:
Active Measures.
The Secret History of Disinformation and
Political Warfare.
Verlag Farrar, Straus and Giroux, New York 2020. 528 Seiten, ca. 22 Euro.
E-Book: 11 Euro.
Peter Pomerantsev:
Das ist keine Propaganda. Wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt.
DVA, München 2020. 304 Seiten, 22 Euro.
Zweifelhafte Ehre für die Vorgänger des KGB: 2002 wurde in Russland eine Briefmarkenedition zum 80. Jahrestag der Gründung der Tscheka, der sowjetischen Geheimpolizei, herausgegeben. Diese „Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution“ war gleich nach Lenins Staatsstreich gegründet worden.
Foto: dpa
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und Trolle
Zwei Bücher zeigen eindrucksvoll, wie das Internet
zum Schlachtfeld der Desinformation wurde
VON JANNIS BRÜHL
Als Berlin 1945 in Schutt und Asche lag, fand sich in der verlassenen japanischen Botschaft ein sonderbares, halbverbranntes Dokument: die deutsche Übersetzung des sogenannten Tanaka-Memorandums. Der Text, geschrieben in den Zwanzigern, las sich wie eine Zusammenfassung der Pläne von Tokios Führung: Erst wolle man China, dann die ganze Welt erobern. Es gab eine chinesische Version, eine russische, eine englische, irgendwie war der Text auch ins Deutsche übersetzt worden und in Berlin gelandet. Was es nie gab, war ein japanisches Original.
Eroberungspläne hatte Japan tatsächlich, doch das Dokument war eine Fälschung, entweder von chinesischen Nationalisten oder der Tscheka, der sowjetischen Geheimpolizei. Besonders China und den USA diente es als Beleg für Japans Bösartigkeit. Die Anekdote ist eine von vielen über politische Fälschungen, die Thomas Rid in seinem Buch „Active Measures: Die geheime Geschichte von Desinformation und Politischer Kriegsführung“ erzählt. Das Buch des Politikwissenschaftlers der Johns-Hopkins-Universität, der sich der Geschichte von Technologie als Waffe verschrieben hat, ist aber viel mehr als ein nostalgischer Rückblick auf Geheimdienstoperationen. Die Fragen nach der Verzerrung der Realität durch staatliche Manipulatoren reichen bis in unsere Gegenwart. Denn entgegen der allgemeinen Wahrnehmung sei die aktuelle Krise der westlichen Demokratie nichts Neues, schreibt Rid. Die Einmischung Russlands in den US-Wahlkampf 2016 habe einen Vorlauf von einem Jahrhundert gehabt.
Wo Agenten in den Zwanzigern noch in New Yorker Hinterhöfen kyrillische Lettern für Setzmaschinen auftreiben mussten, um Briefköpfe zu fälschen und so die Fernsteuerung eines US-Handelsverbandes durch die Sowjetunion vorzugaukeln, schreiben heute Klickarbeiter in Großraumbüros wie der „Trollfabrik“ in St. Petersburg aggressive Online-Kommentare im Akkord. Wo einst gut ausgebildete Agenten in konspirativen Wohnungen Fälschungen zusammenklebten, Dokumente unter hohem Risiko übergaben und hofften, dass Journalisten auf sie hineinfallen, ballern heute prekär beschäftigte Laien – motiviert von Ideologie oder Geldnot – Lügen, Halbwahrheiten oder Leaks durchs Internet, teils unterstützt durch Software, mit der Veröffentlichung und Verbreitung automatisiert werden.
Rid räumt mit Vorurteilen auf: „Aktive Maßnahmen“ oder dezinformatsiya – beides Wortschöpfungen der Geheimbürokraten des Ostblocks – sind keine „Gehirnwäsche“. Sie sollen existierende Spannungen in Gesellschaften verstärken, jene „Wahrheiten“, an die ohnehin ein großer Teil der Bevölkerung glaubt: Die USA sind ein imperialistischer Aggressor. Oder: Die Kommunisten haben unseren Staat unterwandert. Heute verbreiten sich im Netz herbeifantasierte Verschwörungen von NGOs, Milliardären und gewählten Regierungen, fusioniert mit antimuslimischen oder antisemitischen Ressentiments. Ziel der „Maßnahmen“ ist wie eh und je: Keile zwischen ethnische Gruppen oder alliierte Staaten treiben, Vertrauen in Regierungen erschüttern. Bis die Gesellschaft nicht mehr weiß, wie sie Konflikte friedlich regeln soll.
„Desinformation“ zu definieren, bleibt schwierig: Manchmal sind es Lügen, die der Wahrheit beigemischt werden, manchmal Fakten, bei denen nur die Quelle nicht ist, was sie zu sein vorgibt, etwa ein Verein oder eine Webseite, die ein Geheimdienst steuert. Deutlich formulierte es Ladislav Bittman, ein tschechoslowakischer Geheimdienstler, der überlief und vor dem US-Kongress gefragt wurde, was Desinformation denn sei. Seine Antwort: „In einfachem Englisch: dreckige Tricks.“
Rids historische Darstellung lässt sich durch das reportageartige Buch „Das ist keine Propaganda“ des britischen Journalisten Peter Pomerantsev ergänzen. Beide stellen eine Frage an die offene Gesellschaft: Wie soll sie mit globalen Informationsströmen umgehen, in denen sich Lüge und Wahrheit, legitime Quellen und potemkinsche Webseiten vermischen – ohne in Paranoia oder Zensur zu verfallen? Die Antwort steht noch aus.
Pomerantsev begibt sich in seinem Buch auf eine sehr persönliche Reise durch die Welt der digitalen Desinformation. Er trifft in Mexiko, der Ukraine, und auf den Philippinen Manipulatoren und ihre Opfer. Dazu zählen Journalisten, die Korruption, Staatsgewalt und Drogenkartelle anprangern. Dafür werden sie von staatlich sanktionierten Shitstorm-Truppen verleumdet und belästigt. Politisches Cybermobbing ist Alltag geworden, das Handy des mexikanischen Regierungskritikers Alberto Escoria vibriert bei jeder Todesdrohung gegen ihn – „eine Art psychologisches Folterinstrument“, schreibt Pomerantsev. Solche Begegnungen verwebt Pomerantsev, Sohn des Schriftstellers Igor Pomerantsev, mit dem Schicksal seiner Familie, die mit ihm in den Siebzigern aus der Sowjetunion auswanderte. Die Erniedrigungen durch KGB-Offiziere und die Selbstzweifel seines Vaters schildert er literarisch in Zwischenkapiteln.
Dabei stellt Pomerantsev fest: Psychologische Zersetzungstechniken aus den Verhörräumen des 20. Jahrhunderts sind in die digitalen Netzwerke des 21. Jahrhunderts gewandert. Die Willkür der Sowjetunion sei heute allgegenwärtig. Die Erinnerungen des Autors an die demütigenden Verhöre seiner Verwandten durch den KGB und die Sinnkrisen, die sein Vater im kommunistischen Staat durchlebte, machen seine persönliche Motivation nachvollziehbar. Leider fallen sie lang aus und halten die Recherchen des Autors an den Schauplätzen des Informationskriegs und seine kluge Analyse der aktuellen Lage auf.
Rid spannt dagegen den großen historischen Bogen, und der beginnt dort, wo er später mit der Einmischung in die US-Wahl 2016 endet: in Moskau. Nach der Gründung des Büros für dezinformatsiya in der russischen Geheimpolizei 1923 kämpften USA und UdSSR Rid zufolge mehrere Jahrzehnte auf Augenhöhe. „Aktive Maßnahmen“ und verdeckte Geldflüsse machten die Lage in der Nachkriegszeit unübersichtlich: Mehrere Gruppen von Antikommunisten, die vom Westberlin der Fünfziger aus die DDR mit gefälschten Zeitungen voller pro-westlicher Propaganda fluteten, waren von der CIA finanziert. Eine brachte es fertig, in die zentrale Steuerung des Sozialismus einzugreifen: Geschäften in Sachsen diktierte sie im Namen der DDR-Regierung erfundene – viel zu niedrige – Preise. Als die Fälschungen aufflogen, hatten die Menschen schon die Regale leergekauft. Ein Echo von Rids Buch findet sich auch in dem von Pomerantsev. Der erzählt von seinem Vater, der in der Sowjetunion für kritische Zeitschriften schrieb, die von der CIA im Rahmen jener Tarnoperationen finanziert wurden, die Rid recherchiert hat.
Die Sowjets bedienten sich derweil linker und rechter Krawallblätter im Westen, die neben nackten Frauen auf ihren Titelseiten etwa „geheime Nato-Pläne“ anpriesen (die der KGB gefälscht und den Journalisten zugespielt hatte). In einer besonders zynischen Operation stifteten die Sowjets einen Teil jener Welle antisemitischer Schmierereien an Synagogen und Verwüstungen jüdischer Friedhöfe an, die von 1959 an Westdeutschland erschütterte. Schuld waren in vielen Fällen echte Nazis, doch einige Täter waren im Auftrag Moskaus unterwegs. Sie sollten das weltweite Vertrauen in die eben wiederbewaffnete Bundesrepublik zerstören.
In Sachen Technik und Skrupellosigkeit sieht Rid die USA nur bis zum Mauerbau 1961 auf Augenhöhe mit dem Osten. KGB und Stasi versuchten noch in den Achtzigern, die westdeutsche Friedensbewegung zu unterwandern – schließlich war der Widerstand gegen US-Atomraketen in Deutschland in ihrem Interesse. Washington begnügte sich in dieser Zeit damit, Oppositionelle mit Material zu versorgen. CIA-Tarnorganisationen schmuggelten in den Achtzigen Bücher wie 1984, Audiokassetten und T-Shirts mit anti-sowjetischen Slogans sowie Computer und Drucker in die Ukraine. Bleibt der Westen also sauber? Wohl kaum. Pomerantsev ergänzt in seinem Buch, dass auch die USA im digitalen Zeitalter falsch spielen. In Afghanistan und Pakistan setzte ihre Armee „Sockenpuppen“ – Fake-Personen in sozialen Netzwerken – ein, die in lokalen Sprachen pro-amerikanische Stimmung machen sollten. Washington bastelte auch an einem „kubanischen Twitter“, auf dem Antikommunisten einen Aufstand im sozialistischen Staat anheizen sollten.
Dass die Sowjetunion und Russland so viele Seiten einnehmen, thematisiert Rid selbst und kommt damit zum wichtigsten Punkt von Desinformationskampagnen: Wirkung entfalten sie oft erst dann, wenn sie auffliegen. Ob Operationen ein Erfolg sind, könne man nicht objektiv messen, das liege im Auge des Betrachters „Wenn eine Gemeinschaft im Fadenkreuz einer Desinformations-Kampagne glaubt, die Kampagne sei ein voller Erfolg, hat sie selbst die Kampagne zum vollen Erfolg gemacht.“
Jede aufgedeckte Tarnoperation macht Gesellschaften ein bisschen paranoider. So wirken „Aktive Maßnahmen“ auch dann nachhaltig, wenn sie gar keine konkreten Auswirkungen haben, aber von Politikern und Medien als brillant und verschlagen dargestellt werden.
Die Facebook- und Twitter-Manipulationen der russischen „Trollfabrik“ im US-Wahlkampf 2016 sind ein Beispiel. Die aufwiegelnden Beiträge über Donald Trump, Hillary Clinton und Rassismus, die Spaltungen der US-Gesellschaft verstärken sollten, waren oft dilettantisch gemacht. Viele der billig zusammengestöpselten Memes wurden nur von einer zweistelligen Zahl von Amerikanern wahrgenommen – bis große Medien intensiv über sie berichteten. Erst sie erweckten den Eindruck, der russische Staat sei ein Großmeister der Manipulation.
Wie aktiv auch demokratische Politiker Desinformation verbreiten, zeigt der Fall des „Tanaka-Memos“. 1942 verbreitete der US-Kongress selbst das Dokument, das japanische Welteroberungspläne auf plumpe Art ausbuchstabierte – obwohl die New York Times es längst als Fälschung enttarnt hatte. Es war einfach zu nützlich für die eigene Propaganda.
Seit 100 Jahren mischt sich
Moskau im Westen ein, nicht
erst seit der Trump-Wahl 2016
„Aktive Maßnahmen“ haben oft
gar keine konkreten Folgen,
aber durchaus psychologische
Thomas Rid:
Active Measures.
The Secret History of Disinformation and
Political Warfare.
Verlag Farrar, Straus and Giroux, New York 2020. 528 Seiten, ca. 22 Euro.
E-Book: 11 Euro.
Peter Pomerantsev:
Das ist keine Propaganda. Wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt.
DVA, München 2020. 304 Seiten, 22 Euro.
Zweifelhafte Ehre für die Vorgänger des KGB: 2002 wurde in Russland eine Briefmarkenedition zum 80. Jahrestag der Gründung der Tscheka, der sowjetischen Geheimpolizei, herausgegeben. Diese „Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution“ war gleich nach Lenins Staatsstreich gegründet worden.
Foto: dpa
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