Zeitlebens war Adalbert Stifter, der Dichter gewaltiger Landschaftsschilderungen und einfühlsamer Figurenporträts, zerrissen zwischen bürgerlichem Lebensanspruch und absolutem Künstlertum. Wie kein zweiter kannte Stifter auch die Nachtseite des Lebens. In Wolfgang Matz' äußerst lebendig geschriebener Darstellung eines widerspruchsvollen Lebens und nicht minder widersprüchlichen Werks entsteht das Bild einer diffizilen, hochsensiblen und damit überaus modernen Künstlerexistenz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995Der sanfte Unglücksmensch
Wolfgang Matz erzählt Stifters allzu stilles Leben / Von Christoph Bartmann
Aufregungen sind die Ausnahme in der Stifter-Rezeption. Einige Jahrzehnte ist es schon her, daß Arno Schmidt unter dem berühmt gewordenen Titel "Der sanfte Unmensch" eine Polemik entfachte und seiner Haßliebe zu Stifter im allgemeinen und zum "Nachsommer" im besonderen Ausdruck gab. Denselben Roman geißelte wenig später Horst Albert Glaser in seiner Studie "Die Restauration des Schönen" als "Ideologie", ja "Kapitalismus- und Rentnerutopie". In solchen Begriffen spricht sich ein deutsches Ressentiment gegen Stifters spezifisch österreichische Geistesverfassung aus. Ein Streit blieb jedoch aus, denn niemand wollte die Attacken erwidern. Zur selben Zeit begann eine literarische Renaissance Stifters. Thomas Bernhard und Peter Handke haben erklärt, wie stark sie Stifters psychologisch schlichte und phänomenologisch brisante Schreibweise beeinflußt hat. Der aus den Überresten des "Habsburgischen Mythos" auferstandene Mitteleuropa-Kult hat Stifter ebenfalls zu neuem Interesse verholfen.
In ähnlich gemessenem Takt wie Stifters Prosa schreitet die Stifter-Biographik voran. Nun hat, fast sechzig Jahre nach Urban Roedls Standardwerk, Wolfgang Matz eine neue Lebensgeschichte vorgelegt. Ihm ist eine gründlich gearbeitete und gut lesbare Darstellung gelungen, die von kritischer Anteilnahme an Stifters Leben und von Liebe zu seinem Werk geprägt ist. Leben und Werk, das ist der überlieferte Auftrag des biographischen Erzählens. Matz will ihn gegen den herrschenden Trend der Literaturwissenschaft erneuern.
Denn die beliebte These vom "Verschwinden des Autors", so hat er andernorts ausgeführt, bedeute "das Zurückweichen vor einer der schwierigsten Unternehmungen überhaupt: der Darstellung eines Individuums in der Gesamtheit seiner inneren und äußeren Bezüge". Wie solle man etwa den "Nachsommer" verstehen, ohne Kenntnis davon zu haben, daß er für Stifter die Funktion einer "literarischen Wunscherfüllung" besaß? Erst das Leben, meint Matz, entscheidet über die "Wahrheit" der Literatur. Wüßte man nichts über Stifters Unglück im Leben, nähme man das Glück in den Romanen womöglich für bare Münze. Das "Zugrunderichtende" und "Entsetzliche", diese für Stifter so bezeichnende "fürchterliche Wendung der Dinge", liefert für all das Schöne und Positive die ästhetische und moralische Deckung.
Damit die These von der literarischen Wunscherfüllung aufgeht, ist es nötig, daß im Leben all die Wünsche offenbleiben, die von der Literatur hernach erfüllt werden. Deshalb trägt Stifters Leben auch bei Matz wieder Züge jenes biedermeierlichen Rührstücks, als das es die volkstümliche Biographik und vor allem Stifter selbst stets beschrieben haben. In diesem Leben scheint alles zur Klage bestimmt: die kleinbürgerlich-ländliche Herkunft aus dem Böhmerwald, der frühe Tod des Vaters, die unerfüllte Liebe zu Fanny Greipl und der Ehetrott mit Amalie, das Scheitern im Studium und der Broterwerb als Hauslehrer.
Der literarische Erfolg, der sich um 1840 mit den Erzählungen "Der Condor", "Feldblumen" und "Das Haidedorf" rasch und nachhaltig einstellt, kann den trostlosen Gesamteindruck dieses Lebens kaum aufhellen. Auf eine Phase des persönlichen und politischen Optimismus, die im Oktober 1848 in der Zerschlagung der Revolution durch Windischgrätz ein symbolträchtiges Ende findet, folgen, so hat es den Anschein, nur noch Enttäuschungen, Krisen und Krankheiten. Daß mit seinen Leiden auch Stifters literarische Produktion wächst und in den letzten Lebensjahren mit dem "Nachsommer" und "Witiko" monumentale Gestalt annimmt, scheint Matz' These von der Literatur als Therapeutikum eines mißlungenen Lebens zu erhärten.
Ungeachtet seiner Prämisse, daß im verunglückten Leben der Schlüssel für das geglückte Werk zu suchen sei, begleitet Matz Stifters Lebensweg häufig mit Mißvergnügen. Bisweilen stellt er Vermutungen darüber an, was ohne Stifters "Gebundenheit an Autorität" und ohne seine Hinnahme der "naturgegebenen Ordnung" aus ihm geworden wäre. Solche Überlegungen sind nicht nur inkonsequent, sondern auch unhistorisch. Gewiß eignet sich Stifter weniger zum Helden als Hölderlin. Doch ist seine Demut vor der "Ordnung der Dinge" ebensowenig eine persönliche Attitüde wie der von Matz zum Vergleich herangezogene Freiheitsrausch der Tübinger Stiftler von 1793. Matz hätte Neuland betreten können, wenn er Stifters notorischen Schwäche-Gestus in positiven Begriffen beschrieben hätte, anstatt als bloßen Mangel an Selbstbewußtsein und als Unfähigkeit, "sein Unglück offen auszusprechen".
Alles, was ihn bedrückte, habe Stifter "konsequent verdrängt", schreibt Matz, und auch dessen übermäßige Eß- und Trinklust will ihm als Symptom zeittypischer Behäbigkeit erscheinen. Hier spricht aus Matz der Anwalt des rechten Maßes. Auch Stifters Rastlosigkeit und gleichzeitiger Pedanterie, seinen weitgespannten beruflichen Aktivitäten und seiner Selbstarchivierung zu Lebzeiten stellt er kein gutes Zeugnis aus. Die modernen Züge in Stifters Leben, seine Funktion als Beamter oder sein Verhandlungsgeschick als Autor, sieht Matz mit Unbehagen.
Eine Äußerung Stifters über seine "Liebhabereien als Dichter Maler Restaurateur alter Bilder und Geräte nebst Gerumpel, wozu mich noch im vorigen Sommer die Cactusnarrheit überfallen hat", kommentiert er ungnädig: "Wenn Stifter je dem Klischee des biedermeierlichen Spießers entsprochen hat, dann jetzt ( . . .). Er pflegte seine Kakteen und hätschelte seinen Hund: Beschäftigungen eines Mannes, der nicht weiß, wohin mit seinen Gefühlen, der niemanden hat, dem er wirkliche Zuneigung schenken kann." Das ist nicht die einzige Stelle, wo Matz auf Stifters Idiosynkrasien mit psychotherapeutischen Gemeinplätzen antwortet. "Mir tut not zu produzieren, und ich werde es", schreibt Stifter mit achtundzwanzig Jahren in einem Brief an Adolf von Brenner. Warum eigentlich soll man ein Leben mißlungen nennen, das in Verfolgung der eigenen Vorsätze ein literarisches Werk von diesem Rang und Umfang hervorgebracht hat? Die Biographie von Matz geht zwar in ihrer subtilen, detailgenauen Beschreibung des Werks ein gutes Stück über die traditionelle Stifter-Biographik hinaus; sie bleibt aber insofern selbst traditionell, als sie sich im Leben weitgehend an Stifters eigene Sprachregelungen hält. Die Authentizität seiner Lebensäußerungen ist jedoch eine literarische und keine bloß dokumentarische. Oft scheint Stifters Rhetorik des Unglücks von der Kafkas nicht weit entfernt. Seine Briefe an Fanny etwa, in denen Matz das Motiv eines "vorbeugenden Verzichts" offenlegt, hätten es verdient, mit derselben stilistischen Aufmerksamkeit gelesen zu werden, wie sie Kafkas Briefen an Felice längst zuteil wird. So bleibt, Matz' Anstrengung zum Trotz, der Befund von Thomas Mann, Stifter sei "kritisch viel zu wenig ergründet", bestehen.
Wolfgang Matz: "Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge". Biographie. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1995. 406 S., geb., 54,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfgang Matz erzählt Stifters allzu stilles Leben / Von Christoph Bartmann
Aufregungen sind die Ausnahme in der Stifter-Rezeption. Einige Jahrzehnte ist es schon her, daß Arno Schmidt unter dem berühmt gewordenen Titel "Der sanfte Unmensch" eine Polemik entfachte und seiner Haßliebe zu Stifter im allgemeinen und zum "Nachsommer" im besonderen Ausdruck gab. Denselben Roman geißelte wenig später Horst Albert Glaser in seiner Studie "Die Restauration des Schönen" als "Ideologie", ja "Kapitalismus- und Rentnerutopie". In solchen Begriffen spricht sich ein deutsches Ressentiment gegen Stifters spezifisch österreichische Geistesverfassung aus. Ein Streit blieb jedoch aus, denn niemand wollte die Attacken erwidern. Zur selben Zeit begann eine literarische Renaissance Stifters. Thomas Bernhard und Peter Handke haben erklärt, wie stark sie Stifters psychologisch schlichte und phänomenologisch brisante Schreibweise beeinflußt hat. Der aus den Überresten des "Habsburgischen Mythos" auferstandene Mitteleuropa-Kult hat Stifter ebenfalls zu neuem Interesse verholfen.
In ähnlich gemessenem Takt wie Stifters Prosa schreitet die Stifter-Biographik voran. Nun hat, fast sechzig Jahre nach Urban Roedls Standardwerk, Wolfgang Matz eine neue Lebensgeschichte vorgelegt. Ihm ist eine gründlich gearbeitete und gut lesbare Darstellung gelungen, die von kritischer Anteilnahme an Stifters Leben und von Liebe zu seinem Werk geprägt ist. Leben und Werk, das ist der überlieferte Auftrag des biographischen Erzählens. Matz will ihn gegen den herrschenden Trend der Literaturwissenschaft erneuern.
Denn die beliebte These vom "Verschwinden des Autors", so hat er andernorts ausgeführt, bedeute "das Zurückweichen vor einer der schwierigsten Unternehmungen überhaupt: der Darstellung eines Individuums in der Gesamtheit seiner inneren und äußeren Bezüge". Wie solle man etwa den "Nachsommer" verstehen, ohne Kenntnis davon zu haben, daß er für Stifter die Funktion einer "literarischen Wunscherfüllung" besaß? Erst das Leben, meint Matz, entscheidet über die "Wahrheit" der Literatur. Wüßte man nichts über Stifters Unglück im Leben, nähme man das Glück in den Romanen womöglich für bare Münze. Das "Zugrunderichtende" und "Entsetzliche", diese für Stifter so bezeichnende "fürchterliche Wendung der Dinge", liefert für all das Schöne und Positive die ästhetische und moralische Deckung.
Damit die These von der literarischen Wunscherfüllung aufgeht, ist es nötig, daß im Leben all die Wünsche offenbleiben, die von der Literatur hernach erfüllt werden. Deshalb trägt Stifters Leben auch bei Matz wieder Züge jenes biedermeierlichen Rührstücks, als das es die volkstümliche Biographik und vor allem Stifter selbst stets beschrieben haben. In diesem Leben scheint alles zur Klage bestimmt: die kleinbürgerlich-ländliche Herkunft aus dem Böhmerwald, der frühe Tod des Vaters, die unerfüllte Liebe zu Fanny Greipl und der Ehetrott mit Amalie, das Scheitern im Studium und der Broterwerb als Hauslehrer.
Der literarische Erfolg, der sich um 1840 mit den Erzählungen "Der Condor", "Feldblumen" und "Das Haidedorf" rasch und nachhaltig einstellt, kann den trostlosen Gesamteindruck dieses Lebens kaum aufhellen. Auf eine Phase des persönlichen und politischen Optimismus, die im Oktober 1848 in der Zerschlagung der Revolution durch Windischgrätz ein symbolträchtiges Ende findet, folgen, so hat es den Anschein, nur noch Enttäuschungen, Krisen und Krankheiten. Daß mit seinen Leiden auch Stifters literarische Produktion wächst und in den letzten Lebensjahren mit dem "Nachsommer" und "Witiko" monumentale Gestalt annimmt, scheint Matz' These von der Literatur als Therapeutikum eines mißlungenen Lebens zu erhärten.
Ungeachtet seiner Prämisse, daß im verunglückten Leben der Schlüssel für das geglückte Werk zu suchen sei, begleitet Matz Stifters Lebensweg häufig mit Mißvergnügen. Bisweilen stellt er Vermutungen darüber an, was ohne Stifters "Gebundenheit an Autorität" und ohne seine Hinnahme der "naturgegebenen Ordnung" aus ihm geworden wäre. Solche Überlegungen sind nicht nur inkonsequent, sondern auch unhistorisch. Gewiß eignet sich Stifter weniger zum Helden als Hölderlin. Doch ist seine Demut vor der "Ordnung der Dinge" ebensowenig eine persönliche Attitüde wie der von Matz zum Vergleich herangezogene Freiheitsrausch der Tübinger Stiftler von 1793. Matz hätte Neuland betreten können, wenn er Stifters notorischen Schwäche-Gestus in positiven Begriffen beschrieben hätte, anstatt als bloßen Mangel an Selbstbewußtsein und als Unfähigkeit, "sein Unglück offen auszusprechen".
Alles, was ihn bedrückte, habe Stifter "konsequent verdrängt", schreibt Matz, und auch dessen übermäßige Eß- und Trinklust will ihm als Symptom zeittypischer Behäbigkeit erscheinen. Hier spricht aus Matz der Anwalt des rechten Maßes. Auch Stifters Rastlosigkeit und gleichzeitiger Pedanterie, seinen weitgespannten beruflichen Aktivitäten und seiner Selbstarchivierung zu Lebzeiten stellt er kein gutes Zeugnis aus. Die modernen Züge in Stifters Leben, seine Funktion als Beamter oder sein Verhandlungsgeschick als Autor, sieht Matz mit Unbehagen.
Eine Äußerung Stifters über seine "Liebhabereien als Dichter Maler Restaurateur alter Bilder und Geräte nebst Gerumpel, wozu mich noch im vorigen Sommer die Cactusnarrheit überfallen hat", kommentiert er ungnädig: "Wenn Stifter je dem Klischee des biedermeierlichen Spießers entsprochen hat, dann jetzt ( . . .). Er pflegte seine Kakteen und hätschelte seinen Hund: Beschäftigungen eines Mannes, der nicht weiß, wohin mit seinen Gefühlen, der niemanden hat, dem er wirkliche Zuneigung schenken kann." Das ist nicht die einzige Stelle, wo Matz auf Stifters Idiosynkrasien mit psychotherapeutischen Gemeinplätzen antwortet. "Mir tut not zu produzieren, und ich werde es", schreibt Stifter mit achtundzwanzig Jahren in einem Brief an Adolf von Brenner. Warum eigentlich soll man ein Leben mißlungen nennen, das in Verfolgung der eigenen Vorsätze ein literarisches Werk von diesem Rang und Umfang hervorgebracht hat? Die Biographie von Matz geht zwar in ihrer subtilen, detailgenauen Beschreibung des Werks ein gutes Stück über die traditionelle Stifter-Biographik hinaus; sie bleibt aber insofern selbst traditionell, als sie sich im Leben weitgehend an Stifters eigene Sprachregelungen hält. Die Authentizität seiner Lebensäußerungen ist jedoch eine literarische und keine bloß dokumentarische. Oft scheint Stifters Rhetorik des Unglücks von der Kafkas nicht weit entfernt. Seine Briefe an Fanny etwa, in denen Matz das Motiv eines "vorbeugenden Verzichts" offenlegt, hätten es verdient, mit derselben stilistischen Aufmerksamkeit gelesen zu werden, wie sie Kafkas Briefen an Felice längst zuteil wird. So bleibt, Matz' Anstrengung zum Trotz, der Befund von Thomas Mann, Stifter sei "kritisch viel zu wenig ergründet", bestehen.
Wolfgang Matz: "Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge". Biographie. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1995. 406 S., geb., 54,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2005Denn hier war nichts zu verkündigen
Schnee, Unwetter, verschwiegenes Unglück: Die Neuausgabe der Erzählungen zum zweihundertsten Geburtstag von Adalbert Stifter
Noch die allerletzte Erzählung Adalbert Stifters, „Aus dem bairischen Walde”, entstanden im November 1867, wenige Wochen vor seinem Selbstmord, setzt mit seitenlangen topografischen Schilderungen ein. Ein letztes Mal betritt er den Kernbezirk seiner Welt, das Grenzgebiet zwischen Böhmen, Bayern und Österreich, den Schauplatz so vieler seiner großen Erzählungen. Man scheut den Begriff „Landschaftsbeschreibung”, weil die gläserne Durchsichtigkeit von Stifters Darlegungen vielfach eher an Messtischblätter als an Stimmungsbilder erinnert. Die Ruhe und Entrücktheit dieser Landschaftsdarstellungen, die schiere Schönheit des sanft bewegten Sprachganges, die Delikatesse der evozierten Farben - immer wieder das Grau der Steine im Grün von Wiesen und Wäldern, vor blauer Ferne und firnigen Alpenhorizonten wie auf Porzellanbildchen -, all das ist einzigartig herrlich.
Man hat beim späten Stifter von lasierten Gemälden gesprochen, im Gegensatz zu den dramatisch bewegten Seelenlandschaften seiner Frühzeit. Auch im „Condor”, Stifters erster Erzählung aus den späten 1830er Jahren, gibt es diese Fernblicke, schließlich geht es um eine Ballonfahrt; hier aber werden unmittelbare Wirkungen auf die Betrachter geschildert: „. . . in einem fremden goldenen Rauche lodernd, taumelte sie DIE ERDE]gleichsam zurück, an ihrer äußersten Stirne das Mittelmeer wie ein schmales gleißendes Goldband tragend, überschwimmend in unbekannte phantastische Massen.” Dramatisch auch im „Abdias” (1843) der erste Blick von der Wüste aufs Meer: „Endlich riß plötzlich die Farbe des Landes, die lieblich dämmernde, die sie nun so lange gesehen, ab und am perlichten Himmel draußen lag ein unbekanntes Ungeheuer, ein dunkelblauer, fast schwarzer Streifen in furchtbar gerader Linie schnitt sich aus der Luft, wie ein Strom, und seine Breite stand so gerade empor, als müßte er augenblicks über die Berge hineinschlagen.” Doch schon im „Hochwald” von 1842 hatte Stifter den Weg zu seiner späteren Landschaftsform gefunden, die musivische, objektive Entfaltung von Schauplätzen und Horizonten. Der Ton wird ruhiger und verhaltener. Der Ausdruck des Gefühls zieht sich zurück, und diese offenkundige Verschwiegenheit ist der Reiz von Stifters später Manier.
Es sind allerdings die wunderbarsten Blicke, die dieser Augenmensch scheinbar objektiv zu arrangieren versteht, so beim Anschauen des Bergsees im „Hochwald”: „Ein gespanntes Tuch ohne eine einzige Falte liegt er weich zwischen dem harten Geklippe, gesäumt von einem dichten Fichtenbande, dunkel und ernst, daraus manch einzelner Urstamm den ästelosen Schaft emporstreckt, wie eine einzelne altertümliche Säule.” Der Leser sei ermuntert, sich diesen Satz laut vorzulesen, um seine vollkommene Rhythmik, das Spiel der Antithesen, der Einschübe und Anklänge wahrzunehmen. Das Gefühl ist hier aus der Semantik gewichen und Tonfall geworden.
Zuweilen hat Stifter das Geheimnis solcher Verhaltenheit benannt: das Unglück einer nie realisierten Liebe, die sich in einem bestimmten Landschaftsbezirk abspielt, den Nachbargefilden seines Heimatortes Oberplan, wo er vor zweihundert Jahren, am 23. Oktober 1805, als Sohn eines Leinewebers zur Welt kam. Im „Waldgänger”(1847) heißt es vom Erzähler: „Oft hatte er wieder die Wälder, die Berge, die Thäler gesehen, wo er einst an ihrer Hand gewandelt war, sie hatten einen Theil des schönen Dufts abgestreift, und standen unbekannt und klar und einsam um ihn herum und öfters war es ihm nicht anders als sähe man noch den Glanzhauch aus dem Himmel hinaus ziehen von dem Herzen, das einstens hier gelebt hatte und nun fortgegangen ist.” Stifters Landschaften sind Orte der Verlassenheit, verlassen von dem einen geliebten Menschen, den der Autor nicht haben konnte. Man kann diese nie verwundene Episode in seinen Biografien nachlesen - zum Beispiel in dem schönen Buch von Wolfgang Matz, und sich sogar ein Bild von jener Fanny Greipl anschauen, mit der eine Ehe nicht zustande kam; doch entscheidend ist die Energie, die dieser nur nach außen ruhige, in Wahrheit vulkanische Künstler aus dem Unglück seines Lebens gewann.
Den Weg seiner Kunst kann sich der Leser eigentlich erst heute vor Augen führen, da endlich eine handliche, allgemein zugängliche Ausgabe seiner sämtlichen Erzählungen in den Erstfassungen vorliegt - kundig betreut von Wolfgang Matz. Sie macht die Früchte der historisch-kritischen Gesamtausgabe zugänglich, die seit 1978 von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgebracht wird. Vor allem aber befreit sie die Urtexte durch die konsequent chronologische Anordnung zum ersten Mal aus den irreführenden Zusammenhängen der späteren Buchfassungen. Sie war überfällig, denn alle vorhergehenden Ausgaben, zumal die der Erstfassungen, die der Bibliothekar Max Stefl seit 1920 erarbeitet hatte, waren ebenso verschollen wie die sudetendeutsche Gesamtausgabe, deren letzte Bände im Zweiten Weltkrieg erschienen. Dabei hatte schon Ernst Bertram in seiner brillanten Dissertation von 1907, „Studien zu Adalbert Stifters Novellentechnik”, die sogenannten „Journalfassungen” für unentbehrlich erklärt. Zu Recht; denn Stifter hat mehr als zwei Drittel seiner Erzählungen zweimal geschrieben: erst für die Zeitschriften, in denen sie zunächst erschienen, dann für die Buchausgabe seiner „Studien” und der „Bunten Steine”. Von der „Mappe meines Urgroßvaters” gibt es nicht weniger als drei Fassungen.
Man muss sich im alten Streit zwischen den Versionen gar nicht entscheiden, kann aber feststellen, dass der beginnende Stifterleser unbedingt mit den Erstfassungen anfangen sollte, also mit der jetzt vorliegenden Ausgabe. Denn die „Studien”, gar die großen, schwergängigen Romane „Nachsommer” und „Witiko” zeigen schon die spätere Manier, haben schon „einen Theil des schönen Dufts abgestreift”, der die frühen Geschichten auszeichnet; andererseits dokumentieren die letzten Erzählungen, die bis in die Nach-Witiko-Zeit reichen, auch die kühn verkarstete, rituell repetitive späteste Manier dieses Autors.
Wir notieren mit Erstaunen, dass es eines Stifter-Jahres bedarf, um eine Leseausgabe dieses für die deutsche Literatur so zentralen Textbestandes bereitzustellen: Erst er erlaubt es, das Drama von Stifters Entwicklung zu überblicken, ihm Schritt für Schritt nachzugehen. Stilistisch, erzähltechnisch führt dieser Weg von Jean Paul zum späten Goethe, vom Brio überschäumender, schwärmerischer, metaphernseliger Leidenschaft zum kühlen Entsagungston der „Wahlverwandtschaften” und der „Wanderjahre”. Die frühen Geschichten lassen immer den erlebenden Menschen sprechen, jubeln, klagen; die späten üben ein objektives Auge, das Wahrnehmung an Wahrnehmung reiht, die Dialoge oft kommentarlos in Folgen bringt, den Bereich des Unausgesprochenen immer weiter ausdehnt. Die eigentliche Errungenschaft Stifters wird erst im Nachvollzug dieser Entwicklung sichtbar: seine Handlungsarmut. Sie ist oft geradezu verhöhnt worden, etwa von Arno Schmidt. Ob es wohl ein Gewitter geben werde - das sei ein wesentlicher Inhalt des „Nachsommers”.
Die riskierte Modernität dieser Kunst ist jedoch offenkundig: das Erzählen im Tempo null, die Verräumlichung des Zeitmediums Sprache, eine niedrigtourige meditative Rhythmik, die den Akt des Lesens zu einem seelischen Exerzitium macht. Stifter war ein Augenmensch, aber vielleicht erfasst man seine Kompositionstechnik noch besser mit Musikvergleichen. Viele der reifen Werke Stifters fangen mit Landschaftsbeschreibungen an; daran knüpft sich die Darstellung naturhafter und sozialer Regelmäßigkeiten, also das Gegenteil von Ereignissen. Bevor überhaupt etwas geschieht, sind bei Stifter oft schon viele Jahre ins Land gezogen. Sein Erzählen setzt ein wie mit regelmäßigen, melodiearmen Figuren, man denke an ein Weben von Streichern. Erst langsam lösen sich daraus besondere Motive, so etwas wie eine Melodie - man stelle sich ein Horn vor. Dann erst beginnt, was Stifters eigentliches Vermögen ist: der methodisch-mähliche Aufbau einer Katastrophe, die sich entweder in langen krachenden Entladungen (sozusagen Brucknerschen Fortissimi) oder in den langgezogenen Pfeiftönen des Entsetzens realisiert, um am Ende beruhigtes, oft verheertes Gebiet zu hinterlassen.
Stifter muss eigentlich laut und immer am Stück gelesen werden. Dann teilt sich diese musikhafte Kunst auch körperlich mit, vor allem bei den Spätwerken. Die Unwetter im „Haidedorf”, in „Kalkstein” und „Katzensilber” sind berühmt, ebenso der Schneefall in „Bergkristall”, eine Katastrophe der Lautlosigkeit, die erst in der Buchfassung der „Bunten Steine” ihre Erklärung findet; da heißt es über das weihnachtliche Mitternachtsläuten, das nicht bis zu den verirrten Kindern ins Eis dringt, lakonisch: „Nur zu den Kindern herauf kam kein Laut, hier wurde nichts vernommen; denn hier war nichts zu verkündigen.” Dieser, die Gottesferne aussprechende Satz fehlt in der Journalfassung noch.
Wie eine Summe all dieser stilistischen, kompositorischen und seelischen Errungenschaften liest sich die letzte Stifter-Erzählung „Aus dem bairischen Walde”. Sie entstand als Ersatz für eine abgelehnte Novelle, „Der fromme Spruch” - übrigens eine durchaus ironische Kontrafaktur von Goethes „Mann von fünfzig Jahren”-, die das Gefallen eines Zeitschriftenredakteurs nicht zu finden vermochte. Eigentlich berichtet das dann gelieferte knappe Stück im autobiografischen Ton nur von einem Landaufenthalt des längst in Linz ansässigen Hofrats Stifter am Dreisesselberg. Seitenlang wird die Gegend zwischen Böhmerwald und Bayerischem Wald geschildert, ohne dass etwas passiert, außer dass ein Kuraufenthalt beginnt. Dann aber tritt eine der langsamen Stifter-Katastrophen ein, Schneefall, der die Wege abschneidet und den Erzähler von seiner aus Gesundheitsgründen vor ihm abgereisten Ehefrau trennt. Der weite Raum der farbigen Herbstlandschaft verengt sich klaustrophisch zum eingeschneiten Holzhaus. Der Fortgang des Berichts deutet einen schweren psychischen Zusammenbruch an, dessen reale Dimensionen der Kommentar von Matz andeutet. Der Schneefall ist über die Maßen schrecklich: „Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen, nicht eine einzige Flocke war zu sehen, sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde, strömte weißer Fall nieder. . . und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort wie Stunde an Stunde verrann.” Da ist der Dauerpfeifton des Schreckens (man denke wiederum an Bruckner). Irgendwann geht der Schneefall vorüber, und die einander ängstlich entbehrenden Eheleute kommen wieder zusammen.
Jedoch zeigt sich, dass der Erzähler noch wochenlang jenes Schneeflirren nicht mehr los werden kann. Der Schock hat ihm eine Sehstörung eingetragen, eine Art von visuellem Tinnitus. Das erfahren wir in den letzten Sätzen; und wer an dieser Stelle nicht tief Luft holt, ist kein Leser: Darum also hatte der ja erst hinterher schreibende Erzähler so lang und breit die grünen Wälderweiten des Bayerischen Waldes geschildert! Er wollte seine unglücklichen Augen heilen, seinen Sehtinnitus wieder loswerden! Sein Schreiben war eine Genesung.
Eine so schlackenlos und unheimlich heile Welt kann nur malen, wer mit dem Unheil gründliche Bekanntschaft geschlossen hat. Das ist das einfache Geheimnis dieses großen, immer neu zu lesenden Schriftstellers. GUSTAV SEIBT
ADALBERT STIFTER: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken. Herausgegeben von Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 2005. Zwei Bände, 1640 Seiten, 78 Euro. In einem Band seitengleich bei Dtv, 29,90 Euro.
WOLFGANG MATZ: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005. 406 Seiten, 22,50 Euro.
Die Landschaftstotale gibt es schon in der Prosa Adalbert Stifters: Szene aus dem Film „Bergkristall” (2004) von Joseph Vilsmaier.
Foto: Concorde Filmverleih
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Schnee, Unwetter, verschwiegenes Unglück: Die Neuausgabe der Erzählungen zum zweihundertsten Geburtstag von Adalbert Stifter
Noch die allerletzte Erzählung Adalbert Stifters, „Aus dem bairischen Walde”, entstanden im November 1867, wenige Wochen vor seinem Selbstmord, setzt mit seitenlangen topografischen Schilderungen ein. Ein letztes Mal betritt er den Kernbezirk seiner Welt, das Grenzgebiet zwischen Böhmen, Bayern und Österreich, den Schauplatz so vieler seiner großen Erzählungen. Man scheut den Begriff „Landschaftsbeschreibung”, weil die gläserne Durchsichtigkeit von Stifters Darlegungen vielfach eher an Messtischblätter als an Stimmungsbilder erinnert. Die Ruhe und Entrücktheit dieser Landschaftsdarstellungen, die schiere Schönheit des sanft bewegten Sprachganges, die Delikatesse der evozierten Farben - immer wieder das Grau der Steine im Grün von Wiesen und Wäldern, vor blauer Ferne und firnigen Alpenhorizonten wie auf Porzellanbildchen -, all das ist einzigartig herrlich.
Man hat beim späten Stifter von lasierten Gemälden gesprochen, im Gegensatz zu den dramatisch bewegten Seelenlandschaften seiner Frühzeit. Auch im „Condor”, Stifters erster Erzählung aus den späten 1830er Jahren, gibt es diese Fernblicke, schließlich geht es um eine Ballonfahrt; hier aber werden unmittelbare Wirkungen auf die Betrachter geschildert: „. . . in einem fremden goldenen Rauche lodernd, taumelte sie DIE ERDE]gleichsam zurück, an ihrer äußersten Stirne das Mittelmeer wie ein schmales gleißendes Goldband tragend, überschwimmend in unbekannte phantastische Massen.” Dramatisch auch im „Abdias” (1843) der erste Blick von der Wüste aufs Meer: „Endlich riß plötzlich die Farbe des Landes, die lieblich dämmernde, die sie nun so lange gesehen, ab und am perlichten Himmel draußen lag ein unbekanntes Ungeheuer, ein dunkelblauer, fast schwarzer Streifen in furchtbar gerader Linie schnitt sich aus der Luft, wie ein Strom, und seine Breite stand so gerade empor, als müßte er augenblicks über die Berge hineinschlagen.” Doch schon im „Hochwald” von 1842 hatte Stifter den Weg zu seiner späteren Landschaftsform gefunden, die musivische, objektive Entfaltung von Schauplätzen und Horizonten. Der Ton wird ruhiger und verhaltener. Der Ausdruck des Gefühls zieht sich zurück, und diese offenkundige Verschwiegenheit ist der Reiz von Stifters später Manier.
Es sind allerdings die wunderbarsten Blicke, die dieser Augenmensch scheinbar objektiv zu arrangieren versteht, so beim Anschauen des Bergsees im „Hochwald”: „Ein gespanntes Tuch ohne eine einzige Falte liegt er weich zwischen dem harten Geklippe, gesäumt von einem dichten Fichtenbande, dunkel und ernst, daraus manch einzelner Urstamm den ästelosen Schaft emporstreckt, wie eine einzelne altertümliche Säule.” Der Leser sei ermuntert, sich diesen Satz laut vorzulesen, um seine vollkommene Rhythmik, das Spiel der Antithesen, der Einschübe und Anklänge wahrzunehmen. Das Gefühl ist hier aus der Semantik gewichen und Tonfall geworden.
Zuweilen hat Stifter das Geheimnis solcher Verhaltenheit benannt: das Unglück einer nie realisierten Liebe, die sich in einem bestimmten Landschaftsbezirk abspielt, den Nachbargefilden seines Heimatortes Oberplan, wo er vor zweihundert Jahren, am 23. Oktober 1805, als Sohn eines Leinewebers zur Welt kam. Im „Waldgänger”(1847) heißt es vom Erzähler: „Oft hatte er wieder die Wälder, die Berge, die Thäler gesehen, wo er einst an ihrer Hand gewandelt war, sie hatten einen Theil des schönen Dufts abgestreift, und standen unbekannt und klar und einsam um ihn herum und öfters war es ihm nicht anders als sähe man noch den Glanzhauch aus dem Himmel hinaus ziehen von dem Herzen, das einstens hier gelebt hatte und nun fortgegangen ist.” Stifters Landschaften sind Orte der Verlassenheit, verlassen von dem einen geliebten Menschen, den der Autor nicht haben konnte. Man kann diese nie verwundene Episode in seinen Biografien nachlesen - zum Beispiel in dem schönen Buch von Wolfgang Matz, und sich sogar ein Bild von jener Fanny Greipl anschauen, mit der eine Ehe nicht zustande kam; doch entscheidend ist die Energie, die dieser nur nach außen ruhige, in Wahrheit vulkanische Künstler aus dem Unglück seines Lebens gewann.
Den Weg seiner Kunst kann sich der Leser eigentlich erst heute vor Augen führen, da endlich eine handliche, allgemein zugängliche Ausgabe seiner sämtlichen Erzählungen in den Erstfassungen vorliegt - kundig betreut von Wolfgang Matz. Sie macht die Früchte der historisch-kritischen Gesamtausgabe zugänglich, die seit 1978 von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgebracht wird. Vor allem aber befreit sie die Urtexte durch die konsequent chronologische Anordnung zum ersten Mal aus den irreführenden Zusammenhängen der späteren Buchfassungen. Sie war überfällig, denn alle vorhergehenden Ausgaben, zumal die der Erstfassungen, die der Bibliothekar Max Stefl seit 1920 erarbeitet hatte, waren ebenso verschollen wie die sudetendeutsche Gesamtausgabe, deren letzte Bände im Zweiten Weltkrieg erschienen. Dabei hatte schon Ernst Bertram in seiner brillanten Dissertation von 1907, „Studien zu Adalbert Stifters Novellentechnik”, die sogenannten „Journalfassungen” für unentbehrlich erklärt. Zu Recht; denn Stifter hat mehr als zwei Drittel seiner Erzählungen zweimal geschrieben: erst für die Zeitschriften, in denen sie zunächst erschienen, dann für die Buchausgabe seiner „Studien” und der „Bunten Steine”. Von der „Mappe meines Urgroßvaters” gibt es nicht weniger als drei Fassungen.
Man muss sich im alten Streit zwischen den Versionen gar nicht entscheiden, kann aber feststellen, dass der beginnende Stifterleser unbedingt mit den Erstfassungen anfangen sollte, also mit der jetzt vorliegenden Ausgabe. Denn die „Studien”, gar die großen, schwergängigen Romane „Nachsommer” und „Witiko” zeigen schon die spätere Manier, haben schon „einen Theil des schönen Dufts abgestreift”, der die frühen Geschichten auszeichnet; andererseits dokumentieren die letzten Erzählungen, die bis in die Nach-Witiko-Zeit reichen, auch die kühn verkarstete, rituell repetitive späteste Manier dieses Autors.
Wir notieren mit Erstaunen, dass es eines Stifter-Jahres bedarf, um eine Leseausgabe dieses für die deutsche Literatur so zentralen Textbestandes bereitzustellen: Erst er erlaubt es, das Drama von Stifters Entwicklung zu überblicken, ihm Schritt für Schritt nachzugehen. Stilistisch, erzähltechnisch führt dieser Weg von Jean Paul zum späten Goethe, vom Brio überschäumender, schwärmerischer, metaphernseliger Leidenschaft zum kühlen Entsagungston der „Wahlverwandtschaften” und der „Wanderjahre”. Die frühen Geschichten lassen immer den erlebenden Menschen sprechen, jubeln, klagen; die späten üben ein objektives Auge, das Wahrnehmung an Wahrnehmung reiht, die Dialoge oft kommentarlos in Folgen bringt, den Bereich des Unausgesprochenen immer weiter ausdehnt. Die eigentliche Errungenschaft Stifters wird erst im Nachvollzug dieser Entwicklung sichtbar: seine Handlungsarmut. Sie ist oft geradezu verhöhnt worden, etwa von Arno Schmidt. Ob es wohl ein Gewitter geben werde - das sei ein wesentlicher Inhalt des „Nachsommers”.
Die riskierte Modernität dieser Kunst ist jedoch offenkundig: das Erzählen im Tempo null, die Verräumlichung des Zeitmediums Sprache, eine niedrigtourige meditative Rhythmik, die den Akt des Lesens zu einem seelischen Exerzitium macht. Stifter war ein Augenmensch, aber vielleicht erfasst man seine Kompositionstechnik noch besser mit Musikvergleichen. Viele der reifen Werke Stifters fangen mit Landschaftsbeschreibungen an; daran knüpft sich die Darstellung naturhafter und sozialer Regelmäßigkeiten, also das Gegenteil von Ereignissen. Bevor überhaupt etwas geschieht, sind bei Stifter oft schon viele Jahre ins Land gezogen. Sein Erzählen setzt ein wie mit regelmäßigen, melodiearmen Figuren, man denke an ein Weben von Streichern. Erst langsam lösen sich daraus besondere Motive, so etwas wie eine Melodie - man stelle sich ein Horn vor. Dann erst beginnt, was Stifters eigentliches Vermögen ist: der methodisch-mähliche Aufbau einer Katastrophe, die sich entweder in langen krachenden Entladungen (sozusagen Brucknerschen Fortissimi) oder in den langgezogenen Pfeiftönen des Entsetzens realisiert, um am Ende beruhigtes, oft verheertes Gebiet zu hinterlassen.
Stifter muss eigentlich laut und immer am Stück gelesen werden. Dann teilt sich diese musikhafte Kunst auch körperlich mit, vor allem bei den Spätwerken. Die Unwetter im „Haidedorf”, in „Kalkstein” und „Katzensilber” sind berühmt, ebenso der Schneefall in „Bergkristall”, eine Katastrophe der Lautlosigkeit, die erst in der Buchfassung der „Bunten Steine” ihre Erklärung findet; da heißt es über das weihnachtliche Mitternachtsläuten, das nicht bis zu den verirrten Kindern ins Eis dringt, lakonisch: „Nur zu den Kindern herauf kam kein Laut, hier wurde nichts vernommen; denn hier war nichts zu verkündigen.” Dieser, die Gottesferne aussprechende Satz fehlt in der Journalfassung noch.
Wie eine Summe all dieser stilistischen, kompositorischen und seelischen Errungenschaften liest sich die letzte Stifter-Erzählung „Aus dem bairischen Walde”. Sie entstand als Ersatz für eine abgelehnte Novelle, „Der fromme Spruch” - übrigens eine durchaus ironische Kontrafaktur von Goethes „Mann von fünfzig Jahren”-, die das Gefallen eines Zeitschriftenredakteurs nicht zu finden vermochte. Eigentlich berichtet das dann gelieferte knappe Stück im autobiografischen Ton nur von einem Landaufenthalt des längst in Linz ansässigen Hofrats Stifter am Dreisesselberg. Seitenlang wird die Gegend zwischen Böhmerwald und Bayerischem Wald geschildert, ohne dass etwas passiert, außer dass ein Kuraufenthalt beginnt. Dann aber tritt eine der langsamen Stifter-Katastrophen ein, Schneefall, der die Wege abschneidet und den Erzähler von seiner aus Gesundheitsgründen vor ihm abgereisten Ehefrau trennt. Der weite Raum der farbigen Herbstlandschaft verengt sich klaustrophisch zum eingeschneiten Holzhaus. Der Fortgang des Berichts deutet einen schweren psychischen Zusammenbruch an, dessen reale Dimensionen der Kommentar von Matz andeutet. Der Schneefall ist über die Maßen schrecklich: „Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen, nicht eine einzige Flocke war zu sehen, sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde, strömte weißer Fall nieder. . . und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort wie Stunde an Stunde verrann.” Da ist der Dauerpfeifton des Schreckens (man denke wiederum an Bruckner). Irgendwann geht der Schneefall vorüber, und die einander ängstlich entbehrenden Eheleute kommen wieder zusammen.
Jedoch zeigt sich, dass der Erzähler noch wochenlang jenes Schneeflirren nicht mehr los werden kann. Der Schock hat ihm eine Sehstörung eingetragen, eine Art von visuellem Tinnitus. Das erfahren wir in den letzten Sätzen; und wer an dieser Stelle nicht tief Luft holt, ist kein Leser: Darum also hatte der ja erst hinterher schreibende Erzähler so lang und breit die grünen Wälderweiten des Bayerischen Waldes geschildert! Er wollte seine unglücklichen Augen heilen, seinen Sehtinnitus wieder loswerden! Sein Schreiben war eine Genesung.
Eine so schlackenlos und unheimlich heile Welt kann nur malen, wer mit dem Unheil gründliche Bekanntschaft geschlossen hat. Das ist das einfache Geheimnis dieses großen, immer neu zu lesenden Schriftstellers. GUSTAV SEIBT
ADALBERT STIFTER: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken. Herausgegeben von Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 2005. Zwei Bände, 1640 Seiten, 78 Euro. In einem Band seitengleich bei Dtv, 29,90 Euro.
WOLFGANG MATZ: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005. 406 Seiten, 22,50 Euro.
Die Landschaftstotale gibt es schon in der Prosa Adalbert Stifters: Szene aus dem Film „Bergkristall” (2004) von Joseph Vilsmaier.
Foto: Concorde Filmverleih
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»Das Buch baut auf der bisherigen Forschung auf und fesselt durch seine literarische Qualität, welche die Lektüre geradezu spannend macht.« (Peter Vodosek, ekz.bibliotheksservice, 07.03.2016) »Sehr viel Wissen zu Stifters Leben: Das dient dem Werkverständnis.« (Vorarlberger Nachrichten, 30.04./01.05.2016) »klug und anschaulich« (Armin Jetter, Buchprofile/Medienprofile 61/2016, Heft 2) »So gründlich und fesselnd ist dieses Leben und Schreiben noch nicht dargestellt worden.« (Klaus Bellin, Leseart 2/16) »Dieses das Werk und das nicht einfache Leben Stifters aufschließende Buch sollte in keinem Schrank hiesiger Literaturfreunde fehlen.« (Stefan Rammer, Passauer Neue Presse, 06.08.2016) »Beiträge zum Verständnis fremder Welterfahrung: Der seltsamste deutschsprachige Schriftsteller überhaupt in aller Ruhe enträtselt« (Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.2016) »Mit Wolfgang Matzens imposanter, höchst detailgenauer Studie wird dem großen alten Mann der österreichischen Literatur so sympathisch wie verdient Gerechtigkeit.« (Erika Deiss, Mannheimer Morgen, 11.11.2016) »Standardwerk zu Leben und Werk von Adalbert Stifter« (Manfred Orlick, literaturkritik.de, 27.01.2018)