Von dem Streit um die Kanzlernachfolge und der "Präsidentschaftsposse" bis zum Bau der Berliner Mauer: Mit insgesamt 300 Schlüsseldokumenten aus den privaten und politischen Papieren Konrad Adenauers umfasst der 15. Band der "Rhöndorfer Ausgabe" einen der innen- und außenpolitisch dramatischsten Abschnitte seiner Kanzlerschaft (Sept. 1959 - Sept. 1961).
Aus den Briefen des Bandes:
"... die Haltung der Machthaber von Pankow und ihre ständigen, Schritt für Schritt vorangetriebenen Maßnahmen zur Abschnürung Berlins zeigen deutlich, daß wir uns wieder inmitten des verschärften Kalten Krieges befinden. Ich bin überzeugt, daß wir nach der Amtsübernahme durch den neuen amerikanischen Präsidenten mit einer weiteren von den Sowjets forcierten Zuspitzung der Lage und einer schweren Krise in und um Berlin rechnen müssen" (am 8. Oktober 1960 an Charles de Gaulle).
"... bestimmte Erscheinungen, die ... man als Folge unserer gesamten Politik deuten könnte, erfüllen mich mit außerordentlich großer Sorge. Ich nenne hier insbesondere die außerordentlich starke Konzentration von wirtschaftlicher Macht sowie die Anhäufung von Reichtum, sei es in der Hand von Einzelpersonen oder von wirtschaftlichen Gesellschaften. Ich bin ferner innerlich geradezu erschüttert über die Maßlosigkeit der Deutschen in ihrer Lebenshaltung vierzehn Jahre nach dem restlosen Zusammenbruch. ... Ich meine, an unserer ganzen Arbeit muß etwas nicht in Ordnung sein, wenn solche Erscheinungen sich zeigen" (am 30. Dezember 1959 an Bundesfinanzminister Franz Etzel).
"Während der letzten Tage, in denen ich Zeit hatte, die wichtigsten Probleme unserer Epoche zu überdenken, stieß ich mich immer wieder an einem Mangel in unserer Organisation ... . Ich lebe tatsächlich politisch gesehen von einem Tag auf den anderen. ... Ich vermisse eine Stelle, die mich über die großen Entwicklungen und Zusammenhänge innenpolitisch wie außenpolitisch informiert, und zwar fundierter als das durch die Zeitungen und Botschafterberichte erfolgt. ... Vielleicht gibt das Wort ,Gehirntrust', um einen kurzen Ausdruck zu gebrauchen, am besten wieder, woran es mir fehlt. Man kann aber in dieser so bewegten Zeit nur eine gute Politik machen, wenn man die Tiefenströmungen und Ergebnisse überschaut (am 9. Dezember 1960 an Staatssekretär Hans Globke).
Stimmen zum vorausgegangenen Band 1957-1959:
"Eine erstrangige Quelle für die Geschichte der Bundesrepublik ..." FAZ
"Was für ein Kanzler. Diese dreihundert Briefe [...] führen uns einmal mehr eindrucksvoll vor Augen, wie straff, wie konzentriert der Gründungskanzler der Bundesrepublik regierte." Die Zeit
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Aus den Briefen des Bandes:
"... die Haltung der Machthaber von Pankow und ihre ständigen, Schritt für Schritt vorangetriebenen Maßnahmen zur Abschnürung Berlins zeigen deutlich, daß wir uns wieder inmitten des verschärften Kalten Krieges befinden. Ich bin überzeugt, daß wir nach der Amtsübernahme durch den neuen amerikanischen Präsidenten mit einer weiteren von den Sowjets forcierten Zuspitzung der Lage und einer schweren Krise in und um Berlin rechnen müssen" (am 8. Oktober 1960 an Charles de Gaulle).
"... bestimmte Erscheinungen, die ... man als Folge unserer gesamten Politik deuten könnte, erfüllen mich mit außerordentlich großer Sorge. Ich nenne hier insbesondere die außerordentlich starke Konzentration von wirtschaftlicher Macht sowie die Anhäufung von Reichtum, sei es in der Hand von Einzelpersonen oder von wirtschaftlichen Gesellschaften. Ich bin ferner innerlich geradezu erschüttert über die Maßlosigkeit der Deutschen in ihrer Lebenshaltung vierzehn Jahre nach dem restlosen Zusammenbruch. ... Ich meine, an unserer ganzen Arbeit muß etwas nicht in Ordnung sein, wenn solche Erscheinungen sich zeigen" (am 30. Dezember 1959 an Bundesfinanzminister Franz Etzel).
"Während der letzten Tage, in denen ich Zeit hatte, die wichtigsten Probleme unserer Epoche zu überdenken, stieß ich mich immer wieder an einem Mangel in unserer Organisation ... . Ich lebe tatsächlich politisch gesehen von einem Tag auf den anderen. ... Ich vermisse eine Stelle, die mich über die großen Entwicklungen und Zusammenhänge innenpolitisch wie außenpolitisch informiert, und zwar fundierter als das durch die Zeitungen und Botschafterberichte erfolgt. ... Vielleicht gibt das Wort ,Gehirntrust', um einen kurzen Ausdruck zu gebrauchen, am besten wieder, woran es mir fehlt. Man kann aber in dieser so bewegten Zeit nur eine gute Politik machen, wenn man die Tiefenströmungen und Ergebnisse überschaut (am 9. Dezember 1960 an Staatssekretär Hans Globke).
Stimmen zum vorausgegangenen Band 1957-1959:
"Eine erstrangige Quelle für die Geschichte der Bundesrepublik ..." FAZ
"Was für ein Kanzler. Diese dreihundert Briefe [...] führen uns einmal mehr eindrucksvoll vor Augen, wie straff, wie konzentriert der Gründungskanzler der Bundesrepublik regierte." Die Zeit
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2004Ein Meister der kühlen Form
Entscheidungen, Maßregelungen und Ratschläge: Konrad Adenauer regierte auch durch seine Briefe
Konrad Adenauer: Briefe 1959-1961. Rhöndorfer Ausgabe. Bearbeitet von Hans Peter Mensing. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004. 598 Seiten, 46,90 [Euro].
Der Kanzlerurlaub verdiente seinen Namen nicht. Mochte sich Adenauer seit 1958 auch immer lieber und länger nach Cadenabbia flüchten - die Villa Collina war ihm doch mehr als eine Bocciabahn mit angeschlossenem Ferienhaus. Gewiß, der Kanzler genoß den prächtigen Garten. Und gelegentlich wohl auch die Abgeschiedenheit seines italienischen Domizils. Zum wahren Eremitendasein freilich fehlte ihm jede Begabung. Und so liefen am Comer See wie am Rhein Tag für Tag die Drähte heiß. Die im Rahmen der Rhöndorfer Ausgabe jetzt präsentierten Dokumente für die Jahre 1959 bis 1961 zeigen den Alten denn auch durchweg agil, ja jugendfrisch.
Mit nach wie vor beachtlichem Elan suchte Adenauer die Entscheidungsprozesse zu steuern, nicht nur in Partei und Fraktion, sondern auch im Kabinett. Daß hier wie dort manche Dinge hinter seinem Rücken bewegt werden könnten, war die Angst, die ihn ein ums andere Mal zum Diktat bitten ließ. Seine Briefe, nicht selten deutliche Maßregelungen, ließen jedenfalls kaum Mißverständnisse zu. Nicht nur, daß er seine Kabinettskollegen immer öfter um "baldige Stellungnahme" anging. Auch Eugen Gerstenmaier sah sich mehr als einmal abgekanzelt. Und selbst dem allzeit geduldigen Heinrich Krone gab Adenauer unverhohlen zu verstehen, wie sehr er sich "durch die von Ihnen beliebte Methode, ohne mich zu verhandeln" verletzt fühlte.
Keine Frage: "Parteifreund" war für den streitlustigen Kanzler kein Ruhmestitel. Viel Feind', viel Ehr' also? Nicht ganz. Denn Adenauer war durchaus der Mann, sich Freunde zu machen, auf ganz und gar liebenswürdige und verbindliche Weise - freilich vor allem im Ausland. "Kein innenpolitisches Problem", so bekannte er im Februar 1960 denn auch Rudolf Vogel, dem CDU-Obmann im Haushaltsausschuß, scheine ihm "im Augenblick so dringlich, wie die Sorge um unser Ansehen im Ausland". Der Primat der Außenpolitik, wenn es ihn je gab - in Adenauers Korrespondenz ist er gleichsam mit Händen zu greifen. Und das aus gutem Grund. Spätestens seit dem Ultimatum Chruschtschows vom November 1958 nämlich blickten aller Augen wieder auf Berlin. Und so auch auf Moskau. Adenauer freilich schaute vor allem: auf Washington.
Seine stets wiederholte Warnung, die Gefahr sei groß, Asien stehe an der Elbe, und Europa sei letzthin nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten zu retten, erwies sich bei alledem nicht als Endzeitvision, sondern als das Credo eines Atlantikers, das durch nichts zu erschüttern war. Auch nicht durch den Mauerbau im August 1961, der Adenauer in den Augen der bundesdeutschen Öffentlichkeit als Zauderer erscheinen ließ. Daß der alte Herr sich viel zu spät erst in die geteilte Stadt bequemt habe, war nämlich beileibe nicht allein die Privatmeinung Axel Springers. Adenauer freilich beschied den Verleger kühl, der Mauerbau stelle ohnehin nur den "allerersten Anfang einer Reihe weiterer Maßnahmen gegen uns bis zur unmittelbaren Kriegsdrohung" dar: Wohin wohl werde sich die "Nervosität der Deutschen" noch steigern, wenn die Dinge "wirklich ernst" würden?
Nicht von ungefähr stand die Deutschland-Politik im Zentrum des Bundestagswahlkampfes 1961 und nahm einen beträchtlichen Raum der Kanzlerkorrespondenz ein - auch und gerade in seiner polemischen Ausrichtung gegen den SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt ("alias Frahm"), die nichts als Nervosität verriet. Ganz unbegründet war sie nicht. Immerhin nämlich drohte sich die SPD, nachdem sie im Godesberger Programm 1959 ihren Frieden mit der neuen Gesellschaftsordnung geschlossen hatte, zunehmend als ernste Alternative zu etablieren, während sich die Adenauersche Politik à la longue zu Tode zu siegen schien. Was wiederum niemand genauer erkannte als der Kanzler selbst. Der hatte bereits im September 1959 geseufzt, man habe zwar eine Bundestagsfraktion, aber noch längst keine Bundespartei, und seither stets die "Einheit und Geschlossenheit" der CDU angemahnt. Wozu er, wie er seinem Alter ego Hans Globke, dem Chef des Bundeskanzleramtes, anvertraute, der Partei "einen anderen Inhalt und eine andere Gestalt" zu geben gedachte: Die CDU dürfe nicht länger als "Partei der Großverdiener und Reichen" gelten.
Tatsächlich erfüllten den Kanzler, wie er Finanzminister Etzel gegenüber äußerte, "bestimmte Erscheinungen . . . mit außerordentlich großer Sorge. Ich nenne hier insbesondere die außerordentlich starke Konzentration von wirtschaftlicher Macht sowie die Anhäufung von Reichtum, sei es in der Hand von Einzelpersonen oder von wirtschaftlichen Gesellschaften." Ein hartes Urteil, das Adenauer indes nicht hinderte, ein gutes Wort für Friedrich Flick, den Großindustriellen par excellence, einzulegen, der im April 1960 in den "Christlich-demokratischen Blättern der Arbeit" als "ein Beispiel für jenen Menschentyp" gebrandmarkt worden war, "der seinem ganzen Verhalten nach Handlanger und Helfershelfer eines totalitären, unsere staatliche Ordnung zerstörenden Systems war". Eine solche Charakterisierung, so rief Adenauer den verantwortlichen Hans Katzer scharf zur Räson, zeuge "von völliger Unkenntnis der Dinge". Schließlich wisse er "aus eigener Erfahrung", daß Flick "auch in der Zeit des Nationalsozialismus sehr zurückhaltend gewesen" sei. Und überhaupt handele es sich bei ihm um einen Mann, der "aus innerer Überzeugung die CDU immer wieder unterstützt hat". Honi soit qui mal y pense.
Schlecht hingegen dachte Adenauer, der skeptische Humanist, vom Menschen an sich, zumal von seinen Zeitgenossen. Seine Briefe erweisen den Kanzler mehr als einmal als heimlichen Kulturpessimisten, der sich nachgerade "erschüttert" zeigte angesichts der "Maßlosigkeit der Deutschen in ihrer Lebenshaltung vierzehn Jahre nach dem restlosen Zusammenbruch". Und einem Karlsruher CDU-Anhänger eröffnete er im Oktober 1960 ganz unverblümt, "ein großer Teil des deutschen Volkes" sei "sehr materialistisch" geworden, auch das Elternhaus habe "sehr gelitten", und "die Leistungen der Schüler und auch der Lehrlinge" hätten sich "sehr verschlechtert". Es fehle an Fleiß, so hieß das, es fehle aber auch an Charakter. Zumal Adenauer davon überzeugt war, daß die "jetzige Wirtschaftsordnung", wie er seinem Intimus Robert Pferdmenges anvertraute, nur dann erhalten werden könne, "wenn die christlich-konservative Grundtendenz im deutschen Volk lebendig bleibt". Bleibe sie nicht lebendig, "werden wir sozialistisch und in gar nicht langer Zeit russisch".
Daß auch diese ideellen Probleme nur auf einer praktischen, und das hieß: auf einer politischen Ebene zu lösen seien, stand für Adenauer außer Frage. Einen ersten Ansatz erblickte er in der überfälligen Neuorganisation des Bundeskanzleramts, mit deren Hilfe er sich fortan "in viel größerem Umfange als bisher . . . den innenpolitischen, einschließlich der parteipolitischen Angelegenheiten" zu widmen können glaubte. Und überhaupt: die Partei, in der Adenauers vermeintliche Erben bereits zur vorzeitigen Testamentseröffnung luden - allen voran Ludwig Erhard, des Kanzlers Glück und sein Schicksal. Nach der unseligen Präsidentschaftskrise Anfang 1959 fühlte sich Erhard mehr und mehr düpiert. Wobei die Differenzen, die von Brief zu Brief wuchsen, von Adenauer, dem Meister der kühlen Form, nicht selten mit "ausgezeichneter Hochachtung" formuliert wurden. Wen mochte es da wundern, wenn sich Erhard verletzt fühlte? Es schmerze ihn, so bekannte er Adenauer Ende 1960, nicht das volle Vertrauen des Kanzlers zu genießen. Adenauer, der Listenreiche, freilich wies das weit von sich. Erhard sei "manchmal in einer Sache anderer Ansicht wie ich und umgekehrt". Das aber habe "doch mit Vertrauen nichts zu tun. Hören Sie bitte nicht auf Zuträgereien."
Ein guter Ratschlag, fürwahr. Adenauer selbst hätte ihn kaum je befolgt. Aufmerksam beobachtete er das Bonner Treiben, alle Klopfzeichen hellhörig verfolgend. Er sei eben, wie er der Essener Bundestagsabgeordneten Helene Weber im Februar 1960, nach einer kleinen Grippeerkrankung, beruhigend schrieb, wieder "bei der Arbeit. Die Katze läßt das Mausen nicht." In der Tat zeigen die 300 Dokumente, die von Hans Peter Mensing wie stets sorgfältig ediert und kenntnisreich kommentiert worden sind und durch reiches Bildmaterial ergänzt und ein minutiöses Register erschlossen werden, den Kanzler ganz ungeniert beim Mausen. Auch wo sie kein neues Adenauer-Bild zeichnen, zeigen sie den Kanzler als einen großen, wenn auch nicht ambitionierten Briefschreiber. Von der Madame de Sevigné wäre er ob seiner stilistischen Unbedarftheit gewiß verachtet worden. Adenauer selbst freilich, den alle Worte, zumal die schönen, mit Mißtrauen erfüllten, hätte die feingeistige Marquise wohl nur belächelt: Ein Brief sei eben ein Brief - mehr nicht, so hätte er lapidar bemerkt.
CARSTEN KRETSCHMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Entscheidungen, Maßregelungen und Ratschläge: Konrad Adenauer regierte auch durch seine Briefe
Konrad Adenauer: Briefe 1959-1961. Rhöndorfer Ausgabe. Bearbeitet von Hans Peter Mensing. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004. 598 Seiten, 46,90 [Euro].
Der Kanzlerurlaub verdiente seinen Namen nicht. Mochte sich Adenauer seit 1958 auch immer lieber und länger nach Cadenabbia flüchten - die Villa Collina war ihm doch mehr als eine Bocciabahn mit angeschlossenem Ferienhaus. Gewiß, der Kanzler genoß den prächtigen Garten. Und gelegentlich wohl auch die Abgeschiedenheit seines italienischen Domizils. Zum wahren Eremitendasein freilich fehlte ihm jede Begabung. Und so liefen am Comer See wie am Rhein Tag für Tag die Drähte heiß. Die im Rahmen der Rhöndorfer Ausgabe jetzt präsentierten Dokumente für die Jahre 1959 bis 1961 zeigen den Alten denn auch durchweg agil, ja jugendfrisch.
Mit nach wie vor beachtlichem Elan suchte Adenauer die Entscheidungsprozesse zu steuern, nicht nur in Partei und Fraktion, sondern auch im Kabinett. Daß hier wie dort manche Dinge hinter seinem Rücken bewegt werden könnten, war die Angst, die ihn ein ums andere Mal zum Diktat bitten ließ. Seine Briefe, nicht selten deutliche Maßregelungen, ließen jedenfalls kaum Mißverständnisse zu. Nicht nur, daß er seine Kabinettskollegen immer öfter um "baldige Stellungnahme" anging. Auch Eugen Gerstenmaier sah sich mehr als einmal abgekanzelt. Und selbst dem allzeit geduldigen Heinrich Krone gab Adenauer unverhohlen zu verstehen, wie sehr er sich "durch die von Ihnen beliebte Methode, ohne mich zu verhandeln" verletzt fühlte.
Keine Frage: "Parteifreund" war für den streitlustigen Kanzler kein Ruhmestitel. Viel Feind', viel Ehr' also? Nicht ganz. Denn Adenauer war durchaus der Mann, sich Freunde zu machen, auf ganz und gar liebenswürdige und verbindliche Weise - freilich vor allem im Ausland. "Kein innenpolitisches Problem", so bekannte er im Februar 1960 denn auch Rudolf Vogel, dem CDU-Obmann im Haushaltsausschuß, scheine ihm "im Augenblick so dringlich, wie die Sorge um unser Ansehen im Ausland". Der Primat der Außenpolitik, wenn es ihn je gab - in Adenauers Korrespondenz ist er gleichsam mit Händen zu greifen. Und das aus gutem Grund. Spätestens seit dem Ultimatum Chruschtschows vom November 1958 nämlich blickten aller Augen wieder auf Berlin. Und so auch auf Moskau. Adenauer freilich schaute vor allem: auf Washington.
Seine stets wiederholte Warnung, die Gefahr sei groß, Asien stehe an der Elbe, und Europa sei letzthin nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten zu retten, erwies sich bei alledem nicht als Endzeitvision, sondern als das Credo eines Atlantikers, das durch nichts zu erschüttern war. Auch nicht durch den Mauerbau im August 1961, der Adenauer in den Augen der bundesdeutschen Öffentlichkeit als Zauderer erscheinen ließ. Daß der alte Herr sich viel zu spät erst in die geteilte Stadt bequemt habe, war nämlich beileibe nicht allein die Privatmeinung Axel Springers. Adenauer freilich beschied den Verleger kühl, der Mauerbau stelle ohnehin nur den "allerersten Anfang einer Reihe weiterer Maßnahmen gegen uns bis zur unmittelbaren Kriegsdrohung" dar: Wohin wohl werde sich die "Nervosität der Deutschen" noch steigern, wenn die Dinge "wirklich ernst" würden?
Nicht von ungefähr stand die Deutschland-Politik im Zentrum des Bundestagswahlkampfes 1961 und nahm einen beträchtlichen Raum der Kanzlerkorrespondenz ein - auch und gerade in seiner polemischen Ausrichtung gegen den SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt ("alias Frahm"), die nichts als Nervosität verriet. Ganz unbegründet war sie nicht. Immerhin nämlich drohte sich die SPD, nachdem sie im Godesberger Programm 1959 ihren Frieden mit der neuen Gesellschaftsordnung geschlossen hatte, zunehmend als ernste Alternative zu etablieren, während sich die Adenauersche Politik à la longue zu Tode zu siegen schien. Was wiederum niemand genauer erkannte als der Kanzler selbst. Der hatte bereits im September 1959 geseufzt, man habe zwar eine Bundestagsfraktion, aber noch längst keine Bundespartei, und seither stets die "Einheit und Geschlossenheit" der CDU angemahnt. Wozu er, wie er seinem Alter ego Hans Globke, dem Chef des Bundeskanzleramtes, anvertraute, der Partei "einen anderen Inhalt und eine andere Gestalt" zu geben gedachte: Die CDU dürfe nicht länger als "Partei der Großverdiener und Reichen" gelten.
Tatsächlich erfüllten den Kanzler, wie er Finanzminister Etzel gegenüber äußerte, "bestimmte Erscheinungen . . . mit außerordentlich großer Sorge. Ich nenne hier insbesondere die außerordentlich starke Konzentration von wirtschaftlicher Macht sowie die Anhäufung von Reichtum, sei es in der Hand von Einzelpersonen oder von wirtschaftlichen Gesellschaften." Ein hartes Urteil, das Adenauer indes nicht hinderte, ein gutes Wort für Friedrich Flick, den Großindustriellen par excellence, einzulegen, der im April 1960 in den "Christlich-demokratischen Blättern der Arbeit" als "ein Beispiel für jenen Menschentyp" gebrandmarkt worden war, "der seinem ganzen Verhalten nach Handlanger und Helfershelfer eines totalitären, unsere staatliche Ordnung zerstörenden Systems war". Eine solche Charakterisierung, so rief Adenauer den verantwortlichen Hans Katzer scharf zur Räson, zeuge "von völliger Unkenntnis der Dinge". Schließlich wisse er "aus eigener Erfahrung", daß Flick "auch in der Zeit des Nationalsozialismus sehr zurückhaltend gewesen" sei. Und überhaupt handele es sich bei ihm um einen Mann, der "aus innerer Überzeugung die CDU immer wieder unterstützt hat". Honi soit qui mal y pense.
Schlecht hingegen dachte Adenauer, der skeptische Humanist, vom Menschen an sich, zumal von seinen Zeitgenossen. Seine Briefe erweisen den Kanzler mehr als einmal als heimlichen Kulturpessimisten, der sich nachgerade "erschüttert" zeigte angesichts der "Maßlosigkeit der Deutschen in ihrer Lebenshaltung vierzehn Jahre nach dem restlosen Zusammenbruch". Und einem Karlsruher CDU-Anhänger eröffnete er im Oktober 1960 ganz unverblümt, "ein großer Teil des deutschen Volkes" sei "sehr materialistisch" geworden, auch das Elternhaus habe "sehr gelitten", und "die Leistungen der Schüler und auch der Lehrlinge" hätten sich "sehr verschlechtert". Es fehle an Fleiß, so hieß das, es fehle aber auch an Charakter. Zumal Adenauer davon überzeugt war, daß die "jetzige Wirtschaftsordnung", wie er seinem Intimus Robert Pferdmenges anvertraute, nur dann erhalten werden könne, "wenn die christlich-konservative Grundtendenz im deutschen Volk lebendig bleibt". Bleibe sie nicht lebendig, "werden wir sozialistisch und in gar nicht langer Zeit russisch".
Daß auch diese ideellen Probleme nur auf einer praktischen, und das hieß: auf einer politischen Ebene zu lösen seien, stand für Adenauer außer Frage. Einen ersten Ansatz erblickte er in der überfälligen Neuorganisation des Bundeskanzleramts, mit deren Hilfe er sich fortan "in viel größerem Umfange als bisher . . . den innenpolitischen, einschließlich der parteipolitischen Angelegenheiten" zu widmen können glaubte. Und überhaupt: die Partei, in der Adenauers vermeintliche Erben bereits zur vorzeitigen Testamentseröffnung luden - allen voran Ludwig Erhard, des Kanzlers Glück und sein Schicksal. Nach der unseligen Präsidentschaftskrise Anfang 1959 fühlte sich Erhard mehr und mehr düpiert. Wobei die Differenzen, die von Brief zu Brief wuchsen, von Adenauer, dem Meister der kühlen Form, nicht selten mit "ausgezeichneter Hochachtung" formuliert wurden. Wen mochte es da wundern, wenn sich Erhard verletzt fühlte? Es schmerze ihn, so bekannte er Adenauer Ende 1960, nicht das volle Vertrauen des Kanzlers zu genießen. Adenauer, der Listenreiche, freilich wies das weit von sich. Erhard sei "manchmal in einer Sache anderer Ansicht wie ich und umgekehrt". Das aber habe "doch mit Vertrauen nichts zu tun. Hören Sie bitte nicht auf Zuträgereien."
Ein guter Ratschlag, fürwahr. Adenauer selbst hätte ihn kaum je befolgt. Aufmerksam beobachtete er das Bonner Treiben, alle Klopfzeichen hellhörig verfolgend. Er sei eben, wie er der Essener Bundestagsabgeordneten Helene Weber im Februar 1960, nach einer kleinen Grippeerkrankung, beruhigend schrieb, wieder "bei der Arbeit. Die Katze läßt das Mausen nicht." In der Tat zeigen die 300 Dokumente, die von Hans Peter Mensing wie stets sorgfältig ediert und kenntnisreich kommentiert worden sind und durch reiches Bildmaterial ergänzt und ein minutiöses Register erschlossen werden, den Kanzler ganz ungeniert beim Mausen. Auch wo sie kein neues Adenauer-Bild zeichnen, zeigen sie den Kanzler als einen großen, wenn auch nicht ambitionierten Briefschreiber. Von der Madame de Sevigné wäre er ob seiner stilistischen Unbedarftheit gewiß verachtet worden. Adenauer selbst freilich, den alle Worte, zumal die schönen, mit Mißtrauen erfüllten, hätte die feingeistige Marquise wohl nur belächelt: Ein Brief sei eben ein Brief - mehr nicht, so hätte er lapidar bemerkt.
CARSTEN KRETSCHMANN
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Recht aufschlussreich findet Daniel Koerfer diese Briefe Konrad Adenauers aus der Zeit zwischen 1959-1961, die der achten Band der Rhöndorfer Ausgabe versammelt. Die rund dreihundert ausgewählten Dokumente, auf den ersten Blick ein Sammlung völlig disparater Texte vom anrührenden kleinen Liebesgruß bis zum hartnäckigen Ringen Adenauers um deutschen Kernwaffenbesitz, fallen laut Koerfer in die Zeit der anbrechenden "Kanzlerdämmerung", hatte doch die Reputation des Kanzlers durch sein ungeschicktes Verhalten bei der Bundespräsidentenkandidatur Schaden genommen. Als eine viele Briefe durchziehende "dramatische Thematik" nennt Koerfer die atomare Bedrohung während des kalten Kriegs. Er schildert Adenauers Sorge um die westliche Einheits- und Abwehrfront gegen die Sowjetunion und sein Verhältnis zu de Gaulle, in dem er unerwartet einen Verbündeten fand, der jedes Entgegenkommen gegenüber Moskau ablehnte. Koerfer berichtet weiter über Adenauers Auseinandersetzung mit Brandt und zitiert aus einem Brief: "Brandt hat nie in seinem Leben gearbeitet, auch nicht als Oberbürgermeister von Berlin. Ich halte ihn auch aus sachlichen Gründen für völlig ungeeignet Kanzler zu werden." Für derlei Zitate sind die Briefe nach Ansicht Koerflers eine "wahre Fundgrube".
© Perlentaucher Medien GmbH
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