Emmanuel Lévinas, 1995 gestorben, wurde mit seiner Philosophie weit über die Grenzen Frankreichs und seiner Fachkollegen hinaus bekannt. Er war derjenige, der wie kein anderer die Ethik zurückbrachte zu den Menschen, von denen sie spricht. Jacques Derrida gibt in seinem Buch eine Einführung in das Werk von Lévinas und nimmt mit seiner Totenrede Abschied von einem Freund und Lehrer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2000Seine bleibende Statt
Komm, Trost der Welt: Derrida verabschiedet Lévinas
Anlässlich der Beerdigung von Emmanuel Lévinas im Dezember 1995 sprach Jacques Derrida. Dessen "Adieu" an den Freund ist ein Meisterwerk der philosophischen Rede, nicht nur weil es Derrida hier einmal gelang, in extremer Kürze und trotzdem größter Dichte zu sprechen (Letzteres ist bei ihm die Regel, Ersteres sonst wohl kaum vorgekommen), sondern mehr noch, weil sich der Überlebende in die Lehre des Verstorbenen zurückzieht, um den Rückzug in die Leere, die dessen Tod hinterlassen hat, zu vermeiden, ihn den Lebenden zu erhalten, ohne Lévinas künstlich (und das heißt hier in melancholischer Erinnerung) am Leben zu erhalten. Auch der Tod erfüllt einen Sinn, gerade weil er ohne Parallele ist, weil er jede Begründung zunichte macht, die der Mensch sich für sein Handeln gesucht haben könnte.
Dieser Sinn liegt darin, ethische Hoffnungen nicht auf Zweck-Mittel-Denken reduzieren zu können; Derridas Rede ist ein Plädoyer gegen den Utilitarismus. Lévinas hat diesen Gedanken in "Gott, der Tod und die Zeit" formuliert (dank der Bemühungen des griechischen Philosophen Vanghelis Bitsoris ist der Anmerkungsapparat ein kleines eigenes Kompendium zu Lévinas geworden): "Es ist meine Sterblichkeit, mein Verdammtsein zum Tode, meine Zeit, die im Sterben liegt, mein Tod, der keine Möglichkeit der Unmöglichkeit darstellt, sondern reiner Raptus, reines Hinweggerissenwerden ist, die jene Absurdität konstruieren, die die Grundlosigkeit meiner Verantwortung für den Anderen ermöglicht." Diese zweckfreie Verantwortung ist die Grundlage von Freundschaft.
Man hört aus der Passage von Lévinas noch Heidegger sprechen, der ihn seit den dreißiger Jahren tief beeinflusst hat, und doch hatte der Franzose eine ganz andere Einstellung zum Tod: Die Metaphysik der Angst hat bei ihm einen tröstlichen Zug, weil sie dem Leben wieder das Rückgrat einzieht, das Heidegger ihm gebrochen hat. Lévinas und Derrida, zwei der wichtigsten jüdischen Philosophen, können nur aus den historischen Erfahrungen ihres Jahrhunderts verstanden werden; sie haben kein philosophisches Programm entwickelt, an dem sich die Wirklichkeit irgendwann auszurichten hätte, sondern suchen nach Haltepunkten im Bestehenden, an denen sich Zivilität anklammern kann. Beide bemühen sich um eine Rückzugslinie gegenüber der Barbarei.
Das gilt auch und gerade für das Phänomen des Todes, an dem die beiden Bewunderer Husserls die Grenzen der Phänomenologie erkennen müssen. Doch die Barbarei liegt hier nicht im Tod selbst, sondern in der Annahme, dass er nichts bedeute - oder vielmehr das Nichts. Das Denken macht den Tod barbarisch. Denn wenn der Tod nichts oder das Nichts nach sich zöge, bliebe ein Mord schuldlos gegenüber dem Opfer. Doch im Tötungsverbot liegt für Lévinas und Derrida der Beginn aller Ethik.
Im zweiten Teil von "Adieu" ist eine der üblichen Derrida-Ansprachen abgedruckt: "Das Wort zum Empfang". Vorgetragen zur Eröffnung einer 1996 abgehaltenen Gedenkveranstaltung für Lévinas sind die Parallelen zur Grabrede offensichtlich, doch in den stundenlangen Ausführungen findet sich nicht mehr Inspirierendes als in den vierzehn Seiten des ersten Teils. Derridas Theorie der Gastlichkeit und Freundschaft, die er in jenen Jahren entwickelt hat und deren deutsche Publikation in diesem Frühjahr endlich erfolgt, lässt hier ihren neben Kant zweiten Urheber erkennen: natürlich Lévinas. Insofern kann "Das Wort zum Empfang" Interesse für sich beanspruchen, doch ist hier weniger zu spüren vom Zwiegespräch, das Derrida und Lévinas zu Leb- und Totzeiten verbindet. Das Staunen über das kurze "Adieu" ist ein anderes, weil hier sogar im Angesicht des Todes miteinander philosophiert wird. Das an sich unvermeidliche Pathos des Anlasses ist es, was einen Ton in die Rede bringt, der weit über das herausführt, was wir von Derrida noch zu erwarten glaubten.
Selbstverständlich sperren sich Lévinas und Derrida gegen eine plumpe Jenseits-Teleologie. Sie wollen das Himmelreich, in dem die Verstorbenen ihren Platz finden, auf Erden errichten. So ist Derridas Nachruf auf Lévinas zugleich ein Zuruf: an den toten Freund und an seine Zuhörer. "Das à-Dieu", so lautet einer der letzten Sätze der Grabrede, "grüßt den Anderen jenseits des Seins in dem, was jenseits des Seins das Wort Ruhm bedeutet." Das Andenken schafft den Platz für einen weiterhin lebendigen Emmanuel Lévinas, dessen Tod nur den Menschen hinweggerissen hat, nicht aber sein Wirken, das in einer philosophischen Erinnerung aufgehoben werden muss. Dafür liefert "Adieu" ein Musterbeispiel.
ANDREAS PLATTHAUS
Jacques Derrida: "Adieu". Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Aus dem Französischen von Reinold Werner. Carl Hanser Verlag, München 1999. 170 S., br., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Komm, Trost der Welt: Derrida verabschiedet Lévinas
Anlässlich der Beerdigung von Emmanuel Lévinas im Dezember 1995 sprach Jacques Derrida. Dessen "Adieu" an den Freund ist ein Meisterwerk der philosophischen Rede, nicht nur weil es Derrida hier einmal gelang, in extremer Kürze und trotzdem größter Dichte zu sprechen (Letzteres ist bei ihm die Regel, Ersteres sonst wohl kaum vorgekommen), sondern mehr noch, weil sich der Überlebende in die Lehre des Verstorbenen zurückzieht, um den Rückzug in die Leere, die dessen Tod hinterlassen hat, zu vermeiden, ihn den Lebenden zu erhalten, ohne Lévinas künstlich (und das heißt hier in melancholischer Erinnerung) am Leben zu erhalten. Auch der Tod erfüllt einen Sinn, gerade weil er ohne Parallele ist, weil er jede Begründung zunichte macht, die der Mensch sich für sein Handeln gesucht haben könnte.
Dieser Sinn liegt darin, ethische Hoffnungen nicht auf Zweck-Mittel-Denken reduzieren zu können; Derridas Rede ist ein Plädoyer gegen den Utilitarismus. Lévinas hat diesen Gedanken in "Gott, der Tod und die Zeit" formuliert (dank der Bemühungen des griechischen Philosophen Vanghelis Bitsoris ist der Anmerkungsapparat ein kleines eigenes Kompendium zu Lévinas geworden): "Es ist meine Sterblichkeit, mein Verdammtsein zum Tode, meine Zeit, die im Sterben liegt, mein Tod, der keine Möglichkeit der Unmöglichkeit darstellt, sondern reiner Raptus, reines Hinweggerissenwerden ist, die jene Absurdität konstruieren, die die Grundlosigkeit meiner Verantwortung für den Anderen ermöglicht." Diese zweckfreie Verantwortung ist die Grundlage von Freundschaft.
Man hört aus der Passage von Lévinas noch Heidegger sprechen, der ihn seit den dreißiger Jahren tief beeinflusst hat, und doch hatte der Franzose eine ganz andere Einstellung zum Tod: Die Metaphysik der Angst hat bei ihm einen tröstlichen Zug, weil sie dem Leben wieder das Rückgrat einzieht, das Heidegger ihm gebrochen hat. Lévinas und Derrida, zwei der wichtigsten jüdischen Philosophen, können nur aus den historischen Erfahrungen ihres Jahrhunderts verstanden werden; sie haben kein philosophisches Programm entwickelt, an dem sich die Wirklichkeit irgendwann auszurichten hätte, sondern suchen nach Haltepunkten im Bestehenden, an denen sich Zivilität anklammern kann. Beide bemühen sich um eine Rückzugslinie gegenüber der Barbarei.
Das gilt auch und gerade für das Phänomen des Todes, an dem die beiden Bewunderer Husserls die Grenzen der Phänomenologie erkennen müssen. Doch die Barbarei liegt hier nicht im Tod selbst, sondern in der Annahme, dass er nichts bedeute - oder vielmehr das Nichts. Das Denken macht den Tod barbarisch. Denn wenn der Tod nichts oder das Nichts nach sich zöge, bliebe ein Mord schuldlos gegenüber dem Opfer. Doch im Tötungsverbot liegt für Lévinas und Derrida der Beginn aller Ethik.
Im zweiten Teil von "Adieu" ist eine der üblichen Derrida-Ansprachen abgedruckt: "Das Wort zum Empfang". Vorgetragen zur Eröffnung einer 1996 abgehaltenen Gedenkveranstaltung für Lévinas sind die Parallelen zur Grabrede offensichtlich, doch in den stundenlangen Ausführungen findet sich nicht mehr Inspirierendes als in den vierzehn Seiten des ersten Teils. Derridas Theorie der Gastlichkeit und Freundschaft, die er in jenen Jahren entwickelt hat und deren deutsche Publikation in diesem Frühjahr endlich erfolgt, lässt hier ihren neben Kant zweiten Urheber erkennen: natürlich Lévinas. Insofern kann "Das Wort zum Empfang" Interesse für sich beanspruchen, doch ist hier weniger zu spüren vom Zwiegespräch, das Derrida und Lévinas zu Leb- und Totzeiten verbindet. Das Staunen über das kurze "Adieu" ist ein anderes, weil hier sogar im Angesicht des Todes miteinander philosophiert wird. Das an sich unvermeidliche Pathos des Anlasses ist es, was einen Ton in die Rede bringt, der weit über das herausführt, was wir von Derrida noch zu erwarten glaubten.
Selbstverständlich sperren sich Lévinas und Derrida gegen eine plumpe Jenseits-Teleologie. Sie wollen das Himmelreich, in dem die Verstorbenen ihren Platz finden, auf Erden errichten. So ist Derridas Nachruf auf Lévinas zugleich ein Zuruf: an den toten Freund und an seine Zuhörer. "Das à-Dieu", so lautet einer der letzten Sätze der Grabrede, "grüßt den Anderen jenseits des Seins in dem, was jenseits des Seins das Wort Ruhm bedeutet." Das Andenken schafft den Platz für einen weiterhin lebendigen Emmanuel Lévinas, dessen Tod nur den Menschen hinweggerissen hat, nicht aber sein Wirken, das in einer philosophischen Erinnerung aufgehoben werden muss. Dafür liefert "Adieu" ein Musterbeispiel.
ANDREAS PLATTHAUS
Jacques Derrida: "Adieu". Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Aus dem Französischen von Reinold Werner. Carl Hanser Verlag, München 1999. 170 S., br., 34,- DM.
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