Balram Halwai is the White Tiger - the smartest boy in his village. His family is too poor to let him complete his education and he has to work in a teashop wiping tables. But Balram gets his break when a rich man hires him as a chauffeur and brings him to New Delhi. As he drives his master to shopping malls and call centres, Balram becomes increasingly aware of immense wealth and opportunity all around him, while knowing that he will never be able to gain access to that world. The more Balram thinks about it, the more he realises that there is only one way he can break into the glamorous new India - by murdering his master. A first-person narrative recited by a murderer, "The White Tiger" is as compelling for its subject matter as for the voice of its narrator - amoral, irreverent, and yet deeply endearing.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2008Sharukh Khan tanzt hier nicht mehr
Die zwei Körper Indiens: Aravind Adigas großartiges Debüt "Der weiße Tiger" zeigt den unwahrscheinlichen Aufstieg eines Dieners zum Unternehmer - und den Preis, den er dafür zahlt.
Von Oliver Jungen
Wie kam die Dichtung in die Welt? Nicht als Göttergeschenk. Weise Männer haben sie erdacht - "aus Mitleid mit den Armen". Eine Waffe also, die es dem Ärmsten erlaubt, "den zehntausend Jahre alten Kampf der Köpfe zu seinen eigenen Bedingungen günstig zu beenden". Zu dieser romantischen Eloge schwingt sich Balram, der höchst gescheite, polizeilich gesuchte Held, gegen Ende von Aravind Adigas fulminantem Roman "Der weiße Tiger" auf. Er gehörte lange selbst zu jenen Armen, und das in einem Land, wo es als himmlische Prädisposition gilt, arm oder reich zu sein. Doch Waffen richten sich schnell auf den Schützen.
Die indische Gesellschaft mit ihrem kaum durchschaubaren Kastensystem fasziniert vielleicht auch deshalb viele Europäer, weil sie uns an die eigene Vormoderne erinnert. Giordano Bruno, nur zum Beispiel, bildet in "Über die Ursache, das Prinzip und das Eine" von 1584 diese Schichtendifferenzierung ab, wenn Elitropio, Brunos Stellvertreter, fragt: "Was verschlägt es jenen, dass sie geistlos und mit Werthlosem beschäftigt sind, wenn sie um so glücklicher sind?" Solange die Ungebildeten ihr Unglück nicht erkennen, scheint alles in Ordnung: "So wohl ist der Sau bei Eicheln und Trank, wie einem Zeus bei Ambrosia und Nektar." Aber dann stellt Elitropio die bange, vorausweisende Frage: "Wollt ihr jene vielleicht aus ihrem süßen Wahne reißen, dass sie euch nachher für eure Bemühung den Hals brechen müssten?" Dialektik der Aufklärung.
Adigas Roman stellt diese Frage erneut. Den Hintergrund bildet die inzwischen in soziale Aporien führende Kollision des Kastenwesens mit der profanen Binäropposition des Raubtierkapitalismus: Fressen und Gefressenwerden. Über die ästhetisch bereitliegende Form der Rollenanmaßung, den Schelmenroman, geht "Der weiße Tiger" hinaus. Soviel hier an "Felix Krull" gemahnt: ein Diener aus der Kaste der Zuckerbäcker steigt unter Opferung von Karma und Familie zum Unternehmer auf - dieser Roman zielt auf die Gesellschaft, ist insofern eher an Ralph Ellisons "Der unsichtbare Mann" orientiert.
Adiga ist ein großartiger Erzähler, der bei aller Detailfreude nie die Gesamtkomposition aus den Augen verliert. Obwohl gebürtiger Inder, ist Adigas Blick auf Indien, über das man hier viel lernen kann, ein distanzierter, beinahe ethnologischer: Der Autor studierte in Oxford und arbeitet als Journalist unter anderem für das "Time Magazine". Höchst souverän scheint schon die Erzählsituation: Der gesamte in Ich-Perspektive verfasste Roman, unterteilt in sieben Tagewerke, ist - als stolzes Geständnis im lakonischen Ton - an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao adressiert. Einen Erzähler wie Balram Halwai aus dem Dorf Laxmangarh hat man noch nicht gesehen: Sympathie und Antipathie verdient er gleichermaßen, er betrügt nicht nur seinen Herrn, sondern auch sich selbst, seine Familie, den Leser und den chinesischen Premier - und ist dabei doch auch wieder grundehrlich. Stets wirken seine Handlungen unterwürfiger, als die erzählerische Haltung suggeriert, bis sich das Verhältnis genau umkehrt.
"Halb gar" fühlt sich dieser Balram, weil er kaum Schulbildung genossen hat. Der Grund war nicht mangelnde Eignung, im Gegenteil: "Weißer Tiger" nannte ihn, den klügsten Jungen im Dorf, einst ein Schulinspektor - nach dem seltensten Tier im Dschungel. Es nutzte ihm wenig. Zum ersten Mal rebelliert Balram nun gegen das Schicksal, lehnt sich auf gegen seine angeborene Teehaustätigkeit. Zum Fahrer will er ausgebildet werden, was ihm gelingt. Von einem der reichsten Männer des Ortes als Diener engagiert, begleitet er schließlich dessen Sohn Ashok als Fahrer nach Delhi, nachdem er sich im Machtkampf innerhalb der Dienerschaft durchgesetzt hat. Sein ganzer Ehrgeiz ist darauf gerichtet, den etwas unbeholfenen "Mr Ashok", dessen launische Frau "Pinky Madam" sowie Ashoks gerissenen Bruder "Mukesh Sir" auszuspionieren und zugleich als guter, einfältiger Diener zu erscheinen. Alle Erniedrigungen lässt er über sich ergehen. Als Pinky Madam betrunken ein Kind überfährt, wird erwartet, dass Balram die Verantwortung übernimmt: Nur ein Zufall rettet ihn.
Zu den stärksten Szenen des Romans gehören jene über den Tod der Eltern. Der Vater stirbt auf einem Krankenhausflur an Tuberkulose, ohne dass sich ein Arzt sehen lässt. Am Ufer des Ganges wohnt Balram der Verbrennung der Mutter bei, ohne dass er dem Ritus etwas abzugewinnen vermag: "Hier wurde nichts befreit." Ein Fuß zuckte aus den Flammen. Die Großmutter schob ihn zurück, doch er weigerte sich zu brennen, als würde er dem "schwarzen Schlamm" des Todes, der zu einem "mächtigen, schleimigen Hügel" am Flussufer angewachsen war, zu entkommen suchen.
Der eher gemütliche Plauderton vom Anfang des Romans weicht allmählich einer Steigerung von Intensität und Tempo: Es staut sich etwas an, ein Unmut, eine Wut, ein lauter werdendes Grummeln unter der Oberfläche, das aufzubrechen, sich zum Beben zu weiten droht. Mit Mr Ashok, der ihn gleichwohl nicht als "echten Menschen" sieht, verbindet Balram - den idealen Diener - derweil eine besondere, intensive Beziehung: "Im geschlossenen Raum des Wagens waren mein Herr und ich irgendwie zu einem Körper verschmolzen." Balram rebelliert gegen seine eigene Untertanenmentalität. "Mr Jiabao. Sir. Wenn Sie zu uns kommen, wird man Ihnen erzählen, wir Inder hätten alles erfunden, vom Internet über hartgekochte Eier bis hin zur bemannten Raumfahrt, nur hätten die Briten uns alle Ideen geklaut. Quatsch. Das Größte, was dieses Land in seiner zehntausendjährigen Geschichte hervorgebracht hat, ist der Hühnerkäfig." Der Hühnerkäfig, ein auf indischen Märkten omnipräsentes Drahtgebilde voller paralysierter Tiere, wird zur großen Metapher für das auf Duldsamkeit errichtete, sich heute als Demokratie tarnende System, aus dem es auszubrechen gilt - und sei es auf die chinesische Art.
Der die Flammen zurückweisende Fuß kehrt als Vision wieder: Im Lotossitz macht Balram eine Konversion durch, taumelt durch den Untergrund dieser absurden Stadt, begegnet einem Büffel, der einen Wagen voller Büffelköpfe zieht, trifft einen Buchverkäufer, der ihm die Bedeutung der Dichtung offenbart. Der Erwachte scheut das Pathos von Anrufungen nicht: "Erzähl mir vom Bürgerkrieg, sagte ich zu Delhi. Das will ich, antwortete sie." "Erzähl mir vom Blut auf den Straßen."
Es wird Balram, mit Bruno gesprochen, plötzlich klar, dass es keinen anderen Weg gibt, als seinem Herrn den Hals zu brechen. Doch dann verpufft der revolutionäre Impetus. Adiga gibt seinen Helden, gibt die Hoffnung endgültig verloren, opfert beides für sein Fazit. Denn nun steht da ein überheblicher ("Ich sehe nämlich immer schon ,Morgen', wenn andere noch im ,Heute' sind"), ein größenwahnsinniger ("In zwanzig Jahren gibt es bloß noch Gelbe und Braune", durch Sodomie und Handystrahlen sterbe der Westen aus), ein reueloser ("So werde ich doch nie sagen, dass ich in jener Nacht einen Fehler gemacht habe, als ich meinem Herrn die Kehle durchschnitt") Aufsteiger, der selbst das Problem darstellt, gegen welches dieses packende Debüt, die Inversion eines Sozialromans, mit Verve anschreibt.
- Aravind Adiga: "Der weiße Tiger". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke. C. H. Beck Verlag, München 2008. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
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Die zwei Körper Indiens: Aravind Adigas großartiges Debüt "Der weiße Tiger" zeigt den unwahrscheinlichen Aufstieg eines Dieners zum Unternehmer - und den Preis, den er dafür zahlt.
Von Oliver Jungen
Wie kam die Dichtung in die Welt? Nicht als Göttergeschenk. Weise Männer haben sie erdacht - "aus Mitleid mit den Armen". Eine Waffe also, die es dem Ärmsten erlaubt, "den zehntausend Jahre alten Kampf der Köpfe zu seinen eigenen Bedingungen günstig zu beenden". Zu dieser romantischen Eloge schwingt sich Balram, der höchst gescheite, polizeilich gesuchte Held, gegen Ende von Aravind Adigas fulminantem Roman "Der weiße Tiger" auf. Er gehörte lange selbst zu jenen Armen, und das in einem Land, wo es als himmlische Prädisposition gilt, arm oder reich zu sein. Doch Waffen richten sich schnell auf den Schützen.
Die indische Gesellschaft mit ihrem kaum durchschaubaren Kastensystem fasziniert vielleicht auch deshalb viele Europäer, weil sie uns an die eigene Vormoderne erinnert. Giordano Bruno, nur zum Beispiel, bildet in "Über die Ursache, das Prinzip und das Eine" von 1584 diese Schichtendifferenzierung ab, wenn Elitropio, Brunos Stellvertreter, fragt: "Was verschlägt es jenen, dass sie geistlos und mit Werthlosem beschäftigt sind, wenn sie um so glücklicher sind?" Solange die Ungebildeten ihr Unglück nicht erkennen, scheint alles in Ordnung: "So wohl ist der Sau bei Eicheln und Trank, wie einem Zeus bei Ambrosia und Nektar." Aber dann stellt Elitropio die bange, vorausweisende Frage: "Wollt ihr jene vielleicht aus ihrem süßen Wahne reißen, dass sie euch nachher für eure Bemühung den Hals brechen müssten?" Dialektik der Aufklärung.
Adigas Roman stellt diese Frage erneut. Den Hintergrund bildet die inzwischen in soziale Aporien führende Kollision des Kastenwesens mit der profanen Binäropposition des Raubtierkapitalismus: Fressen und Gefressenwerden. Über die ästhetisch bereitliegende Form der Rollenanmaßung, den Schelmenroman, geht "Der weiße Tiger" hinaus. Soviel hier an "Felix Krull" gemahnt: ein Diener aus der Kaste der Zuckerbäcker steigt unter Opferung von Karma und Familie zum Unternehmer auf - dieser Roman zielt auf die Gesellschaft, ist insofern eher an Ralph Ellisons "Der unsichtbare Mann" orientiert.
Adiga ist ein großartiger Erzähler, der bei aller Detailfreude nie die Gesamtkomposition aus den Augen verliert. Obwohl gebürtiger Inder, ist Adigas Blick auf Indien, über das man hier viel lernen kann, ein distanzierter, beinahe ethnologischer: Der Autor studierte in Oxford und arbeitet als Journalist unter anderem für das "Time Magazine". Höchst souverän scheint schon die Erzählsituation: Der gesamte in Ich-Perspektive verfasste Roman, unterteilt in sieben Tagewerke, ist - als stolzes Geständnis im lakonischen Ton - an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao adressiert. Einen Erzähler wie Balram Halwai aus dem Dorf Laxmangarh hat man noch nicht gesehen: Sympathie und Antipathie verdient er gleichermaßen, er betrügt nicht nur seinen Herrn, sondern auch sich selbst, seine Familie, den Leser und den chinesischen Premier - und ist dabei doch auch wieder grundehrlich. Stets wirken seine Handlungen unterwürfiger, als die erzählerische Haltung suggeriert, bis sich das Verhältnis genau umkehrt.
"Halb gar" fühlt sich dieser Balram, weil er kaum Schulbildung genossen hat. Der Grund war nicht mangelnde Eignung, im Gegenteil: "Weißer Tiger" nannte ihn, den klügsten Jungen im Dorf, einst ein Schulinspektor - nach dem seltensten Tier im Dschungel. Es nutzte ihm wenig. Zum ersten Mal rebelliert Balram nun gegen das Schicksal, lehnt sich auf gegen seine angeborene Teehaustätigkeit. Zum Fahrer will er ausgebildet werden, was ihm gelingt. Von einem der reichsten Männer des Ortes als Diener engagiert, begleitet er schließlich dessen Sohn Ashok als Fahrer nach Delhi, nachdem er sich im Machtkampf innerhalb der Dienerschaft durchgesetzt hat. Sein ganzer Ehrgeiz ist darauf gerichtet, den etwas unbeholfenen "Mr Ashok", dessen launische Frau "Pinky Madam" sowie Ashoks gerissenen Bruder "Mukesh Sir" auszuspionieren und zugleich als guter, einfältiger Diener zu erscheinen. Alle Erniedrigungen lässt er über sich ergehen. Als Pinky Madam betrunken ein Kind überfährt, wird erwartet, dass Balram die Verantwortung übernimmt: Nur ein Zufall rettet ihn.
Zu den stärksten Szenen des Romans gehören jene über den Tod der Eltern. Der Vater stirbt auf einem Krankenhausflur an Tuberkulose, ohne dass sich ein Arzt sehen lässt. Am Ufer des Ganges wohnt Balram der Verbrennung der Mutter bei, ohne dass er dem Ritus etwas abzugewinnen vermag: "Hier wurde nichts befreit." Ein Fuß zuckte aus den Flammen. Die Großmutter schob ihn zurück, doch er weigerte sich zu brennen, als würde er dem "schwarzen Schlamm" des Todes, der zu einem "mächtigen, schleimigen Hügel" am Flussufer angewachsen war, zu entkommen suchen.
Der eher gemütliche Plauderton vom Anfang des Romans weicht allmählich einer Steigerung von Intensität und Tempo: Es staut sich etwas an, ein Unmut, eine Wut, ein lauter werdendes Grummeln unter der Oberfläche, das aufzubrechen, sich zum Beben zu weiten droht. Mit Mr Ashok, der ihn gleichwohl nicht als "echten Menschen" sieht, verbindet Balram - den idealen Diener - derweil eine besondere, intensive Beziehung: "Im geschlossenen Raum des Wagens waren mein Herr und ich irgendwie zu einem Körper verschmolzen." Balram rebelliert gegen seine eigene Untertanenmentalität. "Mr Jiabao. Sir. Wenn Sie zu uns kommen, wird man Ihnen erzählen, wir Inder hätten alles erfunden, vom Internet über hartgekochte Eier bis hin zur bemannten Raumfahrt, nur hätten die Briten uns alle Ideen geklaut. Quatsch. Das Größte, was dieses Land in seiner zehntausendjährigen Geschichte hervorgebracht hat, ist der Hühnerkäfig." Der Hühnerkäfig, ein auf indischen Märkten omnipräsentes Drahtgebilde voller paralysierter Tiere, wird zur großen Metapher für das auf Duldsamkeit errichtete, sich heute als Demokratie tarnende System, aus dem es auszubrechen gilt - und sei es auf die chinesische Art.
Der die Flammen zurückweisende Fuß kehrt als Vision wieder: Im Lotossitz macht Balram eine Konversion durch, taumelt durch den Untergrund dieser absurden Stadt, begegnet einem Büffel, der einen Wagen voller Büffelköpfe zieht, trifft einen Buchverkäufer, der ihm die Bedeutung der Dichtung offenbart. Der Erwachte scheut das Pathos von Anrufungen nicht: "Erzähl mir vom Bürgerkrieg, sagte ich zu Delhi. Das will ich, antwortete sie." "Erzähl mir vom Blut auf den Straßen."
Es wird Balram, mit Bruno gesprochen, plötzlich klar, dass es keinen anderen Weg gibt, als seinem Herrn den Hals zu brechen. Doch dann verpufft der revolutionäre Impetus. Adiga gibt seinen Helden, gibt die Hoffnung endgültig verloren, opfert beides für sein Fazit. Denn nun steht da ein überheblicher ("Ich sehe nämlich immer schon ,Morgen', wenn andere noch im ,Heute' sind"), ein größenwahnsinniger ("In zwanzig Jahren gibt es bloß noch Gelbe und Braune", durch Sodomie und Handystrahlen sterbe der Westen aus), ein reueloser ("So werde ich doch nie sagen, dass ich in jener Nacht einen Fehler gemacht habe, als ich meinem Herrn die Kehle durchschnitt") Aufsteiger, der selbst das Problem darstellt, gegen welches dieses packende Debüt, die Inversion eines Sozialromans, mit Verve anschreibt.
- Aravind Adiga: "Der weiße Tiger". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke. C. H. Beck Verlag, München 2008. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
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